Eindrücke aus einer zerstörten Stadt

Diyarbakır Die Situation kurdischer Städte in der Südosttürkei ist seit dem Ende des Waffenstillstands zwischen PKK und türkischem Staat geprägt durch Gewalt und Zerstörung

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Zwei Männer in der St.-Giragos-Kathedrale
Zwei Männer in der St.-Giragos-Kathedrale

Foto: Ilyas Akengin/AFP/Getty Images

Durch anhaltenden Schneeregen fahren wir von Elazığ in Richtung Diyarbakır. Während wir dem tief eingeschnittenen Flusslaufs des Tigris durch die Ausläufer des Taurusgebirges in Richtung Mesopotamisches Tiefland folgen, können wir durch Nebelschwaden auf den Hügeln zu beiden Seiten der Straße immer wieder schwer geschützte Militärposten ausmachen. Es dämmert bereits, als wir ankommen. Die Schemen der Häuser Diyarbakırs präsentieren sich im gleichen Grau wie der über ihnen liegende Himmel. Kurz nach dem Passieren der massiven, jahrhundertealten Stadtmauer offenbart sich uns zum ersten Mal der Blick auf riesige geplättete Schuttflächen und zerstörte Häuser inmitten der lebendigen Altstadt. Hier wurden im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen von KämpferInnen der ArbeiterInnenpartei Kurdistans (PKK) und BewohnerInnnen mit türkischem Militär und Polizei in den letzten zwei Jahren große Teile der historischen Altstadt dem Erdboden gleichgemacht.

Es ist kalt, als wir vom Parkplatz aufbrechen um noch eine kleine Runde durch die Stadt zu drehen, höchstens ein paar Grad über Null. Die engen, unübersichtlichen Gassen wirken fast mittelalterlich. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die vielen kleinen Läden, deren Inhaber je nach Straßenabschnitt Trockenobst und Nüsse, Kleidung, Kuper- oder Metallwaren verkaufen. Darüber hinaus gibt es spezialisierte Handwerkergassen, in denen man Schreiner und Schmiede bei ihrer Arbeit beobachten kann. Im starken Kontrast dazu stehen die großen historischen Prachtbauten, Moscheen, Kirchen, Karawansereien und Herrschaftshäuser, die von der reichen Geschichte dieser Stadt zeugen. Omnipräsent sind auch die zahlreichen militärischen Checkpunkte, die schwer bewaffneten Polizisten und gepanzerten Fahrzeuge, die uns ständig daran erinnern, dass wir laut der Empfehlung des Auswärtigen Amts zufolge eigentlich gar nicht hier sein sollten.

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Wie wir in den nächsten zwei Tagen feststellen sollten, sind „Turist“ und „Alman“ hier Zauberwörter, durch die uns oft Dankbarkeit und eine unglaubliche Freundlichkeit entgegengebracht wird. Es wirkt so, als wäre der Anblick von TouristInnen für die Menschen hier ein Lichtblick, ein Zeichen von Normalität nach dem Leid der letzten Jahre. Es ist offensichtlich, dass wir als TouristInnen hier gerade die absolute Ausnahme sind. Das war schon anders in der Vergangenheit. Unser Reiseführer (Stand: 2014) widmet den Sehenswürdigkeiten Diyarbakırs über zehn Seiten. Sicherheitsaspekte finden dort keine Erwähnung. Und auch die Stadtverwaltung hatte sich schon auf internationale TouristInnen eingestellt: So sind beispielsweise die zahlreichen Sehenswürdigkeiten auf englischer Sprache ausgeschildert, neu eingerichtete Museen stehen kostenlos für BesucherInnen offen und in den zahlreichen Touristenbüros ist englischsprachiges Informationsmaterial erhältlich.

Das sind noch Zeugen aus der Phase politischer Entspannung, die Diyarbakır infolge der Aufhebung des Ausnahmezustands im Jahr 2002 prägte. Infolgedessen kehrten Leben und Farbe in die Stadt zurück, die einstigen Lehmgassen des charmanten Altstadtlabyrinths wurden gepflastert, historische Gebäude renoviert und für BesucherInnen zugänglich gemacht sowie schicke Cafés und Geschäfte eröffnet. Doch bereits im Juli 2015 wurde diese Entwicklung durch das Ende des Waffenstillstands zwischen dem türkischen Staat und der PKK abrupt unterbrochen. Kaum wahrgenommen von deutschsprachigen Medien war der Konflikt im Südosten der Türkei bereits zweieinhalb Jahre vor der derzeit andauernden türkischen Offensive im syrischen Kanton Afrin bereits voll entbrannt. Angaben des UN-Menschenrechtsbüros zufolge wurden allein zwischen Juli 2015 und Dezember 2016 in Diyarbakır und anderen Städten der kurdischen Gebiete der Türkei rund 2.000 Menschen getötet und bei systematischen Zerstörungen von Siedlungen insgesamt 355.000 Menschen vertrieben worden.

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Am folgenden Tag lerne ich in einem gemütlichen Café im Innenhof einer historischen Karawanserei Achmed kennen, der mir im Verlauf des Abends in perfektem Englisch seine Sicht auf die Geschehnisse in Diyarbakır erzählt. Nach dem Ende des Waffenstillstands folgte sofort eine große Repressionswelle, woraufhin Jugendliche mit Unterstützung der PKK begannen Barrikaden zu errichten, Gräben zu bauen,bestimmte Zonen für autonom zu erklären und sie vor dem Eindringen staatlicher Macht zu verteidigten. Diese Zonen sollten dabei nach dem Vorbild der von Abdullah Öcalan entworfenen und in Nordsyrien von PKK nahen Kräften seit einigen Jahren bereits etablierten Prinzipien des demokratischen Föderalismus organisiert sein. Daraufhin wurden über die Bewohner in der Altstadtvierteln teils monatelange Ausgangssperren verhängt, die über mehrere Wochen sogar 24 Stunden am Tag galten und die es ihnen unmöglich machten, ihre Häuser zu verlassen.

In dieser Zeit war die Versorgung mit Lebensmitteln und ärztlicher Hilfe so eingeschränkt, dass Kleinkinder an Unterernährung gestorben seien, so Achmed. Zwischen Dezember 2015 und März 2016 folgten fast täglich Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei, die es zunächst nicht schaffte, die autonomen Zonen wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Als die Sicherheitskräfte realisierten, dass sie mit ihren Fahrzeugen nicht in die engen Gassen der Altstadt vordringen konnten und sich auch der Beschuss durch Helikopter als wenig erfolgreich herausstellte, begann das Militär schwere Waffen wie Panzer und Artillerie einzusetzen. Dabei gingen sie so rücksichtlos vor, dass ganze Häuserblocks und Straßenzüge zunächst komplett platt gebombt wurden, damit anschließend Panzerfahrzeuge in diese Bereiche vordringen konnten. BewohnerInnen hatten die Möglichkeit in kurzen Pausen zwischen den Ausgangssperren ihre Häuser zu verlassen, wobei nichtsdestotrotz viele Menschen bis zum Ende in ihren Häusern ausharrten. Die meisten sind dabei kurzfristig bei Verwandten oder Freunden untergekommen, teilweise aber auch obdachlos geworden. Achmed schätzt, dass bei den Auseinandersetzungen insgesamt zehntausend Menschen vertrieben und KämpferInnen beider Seiten in drei- bis vierstelliger Zahl getötet wurden.

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Trotz polizeilicher Warnung folgen wir unserem Drang, Fotos von den zerstörten Häusern zu machen, was gar nicht so einfach ist, da die zerstörten Viertel an den meisten Stellen mit meterhohen Betonmauern abgesperrt sind. Am besten offenbart sich das gesamte Ausmaß der Zerstörung von der historischen Stadtmauer aus, von wo aus sich erkennen lässt, dass mindestens ein Drittel der Altstadt heute nicht mehr existiert. Während wir fotografierend an einer der Absperrungen stehen, stößt eine Frau zu uns, die uns in unserem Tun bestärkt und uns klar macht, wie wichtig sie es fände das Alles zu dokumentieren. Ein Mann kommt hinzu und zeigte uns mit Tränen in den Augen wo sein Haus früher gestanden hatte. Heute sind davon nicht mal mehr die Grundmauern zu sehen. So wie er wurden zehntausende weitere Bewohner Diyarbakırs innerhalb kürzester Zeit aus ihren Häusern vertrieben und werden wohl nie dorthin zurückkehren können.

Während die Bevölkerung sich erhoffte, mit Ende der Kämpfe im März 2016 wieder in ihre Häuser zurückkehren zu können, machte die türkische Regierung andere Pläne. Nach einem Beschluss vom 21. März 2016 wurde die gesamte Altstadt komplett enteignet und verstaatlicht. Ausgangssperren wurden weiterhin aufrechterhalten, beschädigte Stadtteile systematisch zerstört und abgetragen. Anhand von durch die Provinzverwaltung in Auftrag gegebenen Satellitenbildern lässt sich ersehen, dass zum Ende der Kämpfe höchstens 300 bis 400 Gebäude soweit zerstört waren, dass sie nicht mehr bewohnbar galten.

Für Mai 2017 gehen die Schätzungen von 2.500 zerstörten Gebäuden aus, was bedeutet, dass 84 bis 88 Prozent der Gebäude nachträglich zerstört wurden. BeobachterInnen vermuten, dass die AKP-Regierung die ärmlichen und unübersichtlichen Altstadtviertel gezielt zerstören will. Grund dafür ist vor allem die bessere Zugänglichkeit und damit Kontrollierbarkeit dieser Stadtteile für Sicherheitskräfte. Darüber hinaus soll durch die Entfernung der alten Bausubstanz Platz für moderne Neubauten und touristische Infrastruktur zu geschaffen werden. Die ehemaligen, finanzschwachen BewohnerInnen sollen so gezielt aus dem Viertel fern gehalten werden und durch wohlhabendere Menschen ersetzt werden.

In der alten Festungsanlage hängen zwei Großaufnahmen des umliegenden Stadtteils. Eine wurde vor der Zerstörung aufgenommen, die andere Aufnahme ist aktuell. Sie suggerieren: Wo vor drei Jahren noch dicht gedrängte, kleinere Wohnhäuser standen, befinden sich heute ein hübsch hergerichteter Park und Felder. Gedacht scheint das Ganze als eine Werbetafel für die neu geschaffene Parkanlage zu sein. Zynischer lässt sich die Entwicklung Diyarbakırs kaum darstellen.

Florian Schmid

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