Schrottmond

Groteske In „Rockabilly“ schlägt in einem Vorort-Vorgarten ein Meteorit ein. Dann wird alles seltsam
Ausgabe 13/2018
Begierden und Konflikte in der kleinbürgerlichen Vorstadthölle
Begierden und Konflikte in der kleinbürgerlichen Vorstadthölle

Foto: Ethan Miller/Getty Images

Literatur aus Lateinamerika wird ja gemeinhin mit opulenten Erzählsujets und ausufernden Personaltableaus in mehrere hundert Seiten dicken Schmökern assoziiert. Dass es auch ganz anders geht, stellt der 1974 geborene Mike Wilson auf beeindruckende Weise in seinem Roman Rockabilly unter Beweis. Autorenname und Buchtitel lassen einen an ur-(US-)amerikanische Schriftsteller und deftige Redneck-Prosa denken. Aber Mike Wilson ist in Wirklichkeit Argentinier, schreibt auf Spanisch, und auch wenn er einen Teil seiner frühen Kindheit und Jugend in den USA verbracht hat, lebt er heute in Santiago de Chile, wo er an der Uni als Literaturprofessor arbeitet und sich unter anderem mit Wittgenstein beschäftigt. Nichtsdestotrotz ist seine gerade mal 100 Seiten lange Novelle eine popkulturell-literarische Hommage an die Suburbs US-amerikanischer Städte.

Motivisch dreht sich der Text um familiäre Zwänge, provinzielle Enge, Gewaltfantasien und den Versuch, mittels subversiver Praktiken der gesellschaftlichen Normierung zu entkommen. Gewürzt wird das alles von Mike Wilson mit einer Prise Fantastik. Und was dabei herauskommt, ist schlicht großartig.

Wie in einem Kammerspiel ordnet der Autor seine Figuren an, die einander eine Nacht lang in angrenzenden Gärten, ihren Häusern, einem nahe gelegenen Walmart und auf der Straße umkreisen und miteinander agieren. Da ist der titelgebende Rockabilly, ein tätowierter Schrottsammler, in dessen Garten ein kleiner Meteorit einschlägt. Er beginnt den Stein auszugraben, in der Hoffnung, ihn gewinnbringend verkaufen zu können. Dabei beobachtet ihn Suicide Girl, eine 15-Jährige, die neben ihrem Gecko am Fenster sitzt und dem Nachbarn beim geheimnisvollen Graben zusieht. Einen Stock tiefer, im Wohnzimmer, sitzt die Mutter derweil saufend vor der Glotze. Dann gibt es da noch einen alten Mann, genannt Babyface, der an einer seltenen Krankheit leidet, die ihn wie ein Kleinkind aussehen lässt, und der im Nachthemd verwirrt durch die Nacht schleicht. Und außerdem dreht Bones kläffend und bellend seine Runden. Der Hund kann seit dem Meteoriteneinschlag denken und ist, wie sich bald herausstellt, die wohl noch rationalste Figur unter den abgedrehten Freaks, die in dieser Nacht allesamt eine dramatische Eskalation erleben. Wobei genau jene Begierden und Konflikte hochkochen, die in dieser kleinbürgerlichen Vorstadthölle schon die ganze Zeit da waren.

Buddeln im Schweiß

Ganz vorn liegt dabei natürlich das sexuelle Begehren, das hinter den freundlichen Fassaden dieser perfekten Spielzeugwelt steckt. Suicide Girl verzehrt sich nach Rockabilly, Babyface ist scharf auf die 15-jährige Nachbarin, mit der er schließlich zu Walmart fährt, um Zigaretten zu kaufen, und alle werden angetrieben von der mysteriösen Macht des Fetisch-Pin-up-Girl-Tattoos auf Rockabillys Rücken, das im Mondlicht schimmernd glänzt, während er schweißtreibend und immer aufgewühlter in der Erde nach dem außerirdischen Artefakt gräbt. Der brave Köter Bones jagt währenddessen um den Block und identifiziert seine Nachbarn schon aus der Entfernung sehnsuchtsvoll am Geruch ihres jeweiligen Hinterns. Was erst wie eine fast schon zu künstlich wirkende Anordnung vorhersehbarer Charaktere zum Ausloten sozialer Zwänge, erotischer Ideen und kultureller Identitäten wirkt, nimmt im Lauf der Erzählung aber ungemein Fahrt auf. Mike Wilson gelingt es, mit wenigen knappen Sätzen die inneren Dämonen seiner Figuren freizulegen. Wie aus dem sozialen Nebeneinander der Vorstadtnachbarn, das von Ignoranz und Unwissenheit geprägt ist, plötzlich ein konfliktgeladenes Gegeneinander wird, setzt der Autor spannend in Szene. Was löst der eingeschlagene Meteorit aus? Und warum spielt das tätowierte Pin-up-Girl eine so zentrale Rolle? Einfache Antworten gibt das schmale, flotte Bändchen nicht. Aber es führt den Leser gewissenhaft durch diese fantastische Nacht in einer weit entfernten urbanen Peripherie, die uns näher ist, als es im ersten Moment den Anschein hat.

Info

Rockabilly Mike Wilson Mário Gomes (Übers.), Diaphanes 2018, 96 S., 15 €

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