Wer vom grünen Hügel Headingtons am Ostrand hinabfährt zum Stadtkern von Oxford, der betritt eine seltsame Welt mit eigenen Regeln. Der Blick hinter die Kulissen auf das „wahre“ Oxford ist schwierig, für Außenstehende jedoch beinahe unmöglich. Selbst manche Einwohner der Stadt wissen kaum mehr über das Geschehen hinter den hohen sandsteinfarbenen Mauern als die Heerscharen von Touristen, die tagtäglich – zum Ärger aller – die schmalen Bordsteine verstopfen, während sie sich an der mittelalterlichen Pracht ergötzen. Wer als Student in Oxford ankommt, der braucht mehrere Wochen, um sich an diese Spannung zwischen Stadt und Universität, zwischen „Innen“ und „Außen“ zu gewöhnen – und bis zum Schluss bleiben noch manche Eigenheiten verborgen.
Oxford ist in der Vorstellung vieler ein mythischer Ort, und der Universität ist viel daran gelegen, dass dies auch so bleibt. Oxford, so die gängigen Vorurteile, wird bestimmt von Männern und Frauen in merkwürdigen Gewändern, die ihre Tage mit staubigen Büchern verbringen, Ess- und Trinkgelagen in ehrwürdigen Hallen, elitären Clubs und Societys, versnobten Studenten und weltfremden Akademikern. All das gibt es, und all das gehört zum Leben jedes Oxforder Studenten. Doch es ist eben nicht alles, und der ausschließliche Blick auf Dinge, die der restlichen Welt zu Recht als exzentrisch erscheinen, hat ein Zerrbild kreiert. Es lässt einen Teil des Stadt- und Universitätslebens monströs erscheinen, dem anderen hingegen wird kaum Beachtung geschenkt.
Es klang daher vielversprechend, als sich mit Martin Parr einer der renommiertesten Fotografen Großbritanniens an einen Versuch gewagt hatte, Oxford „so wie es ist“ darzustellen. Mit seinen schnappschussartigen Fotografien durchleuchtet und seziert der Brite seit den 1970ern fast alle Bereiche der britischen Gesellschaft. Wenn jemand in der Lage sein sollte, die dominierenden Oxforder Stereotype zu überwinden, dann Martin Parr. Welch ein Irrtum.
Ein mal Pommes, bitte!
Für den Bildband mit dem schlichten Titel Oxford – in Auftrag gegeben von der Universität selbst – soll Parr die Stadt über ein Jahr hinweg ungefähr 60-mal besucht haben. Er erhielt Zugang zu Bereichen, die der Öffentlichkeit sonst verborgen bleiben. Was hat er daraus gemacht? Statt eines schonungslosen Blicks hinter die Kulissen, der versucht, die vielen Widersprüchlichkeiten des Oxforder Mikrokosmos einzufangen, hat Parr etwas produziert, das im besten Fall interessant ist, aber eine unkritische und einseitige Abbildung des Universitätslebens darstellt. Im schlimmsten Fall jedoch handelt es sich um uninspirierte Werbefotografie für einen Ort, der ohnehin fast an seinen eigenen Mythen erstickt.
Wie so viele vor ihm zeigt sich auch Parr vor allem fasziniert von den schrillen und kuriosen Seiten der Stadt. Daran kann man eigentlich nichts aussetzen, was andernorts außergewöhnlich wäre, ist in Oxford tatsächlich normal. Waren die bekannten schwarzen gowns anfangs noch schrullig, wurden sie bald Teil meines Alltags – man erscheint zum Abendessen in Anzug und besagtem Überwurf und muss Klausuren im subfusc, dem offiziellen Outfit der Universität, schreiben. Es wäre dem Fotografen gegenüber auch ungerecht, zu behaupten, dass er nur Oxforder Stereotype fotografiert hat. Einige Aufnahmen zeigen das Universitätsleben auch aus einer neutralen Perspektive – Studenten in Laboren, in Bibliotheken, beim Essen, auf Partys –, Aufnahmen, die so auch an jeder anderen Universität hätten entstehen können. Doch für jemanden wie Martin Parr wirkt das, was dabei herauskam, eher uninspiriert. Man könnte auch sagen: nachlässig. Das ambivalente, gegensätzliche Oxford, wie es viele Studenten kennenlernen, spiegelt seine Fotoserie nur zu einem kleinen Teil wider. Dafür reicht der Blick auf die Universität und ihre Fassaden nicht, er muss sich abwenden und auf das Ökosystem blicken, das diese Mauern umgibt.
So übersieht Parr diejenigen im Hintergrund, durch die eine Universität wie diese überhaupt funktionieren kann. Außer dem vereinzelten Bild einer staubsaugenden Putzkraft im Museum oder Porträts von Empfangsportiers verschiedener Colleges, die oft gleichzeitig Hausmeister oder Wachpersonal sind, befasst sich Parr nicht mit denen, die in Oxford oft genug nicht bemerkt werden: den sogenannten „Scouts“ etwa, die noch heute in manchen Colleges die Zimmer der Studenten reinigen, oder den vielen anderen Angestellten. Auch das reale Leben der Studenten bleibt im Dunkeln. Cafés und Pubs, so prägend im Studentenleben der Stadt und auch für mich oft ein zweites Wohnzimmer, sind in seine Bildreihe nicht eingegangen. Und kein einziges Foto zeugt von den unterschiedlichen Wohnsituationen – vom winzigen Raum mit Nasszelle im College über die Wohnungen der Universität bis hin zum Zimmer in einer WG am Stadtrand –, die den Alltag der Studenten und Akademiker in Oxford bestimmen.
Man könnte den fehlenden Einblick in das Privatleben der Studenten noch damit entschuldigen, dass es für einen 65-Jährigen womöglich nicht einfach ist, Zugang zur Welt von Mitte 20-Jährigen zu bekommen. Doch Parr hat eben vieles andere nicht bemerkt.
Wo sind beispielsweise die vielen Imbisswagen, die nachts auf Oxfords Straßen auftauchen und fettige Pommes, Döner oder Falafel an die Hungrigen der Nacht, müde Bibliotheksbesucher oder Ballheimkehrer, verkaufen. Die sind für viele Universitätsangehörige mindestens so wichtig wie die Bibliotheken oder die wöchentlichen Dinner im College. „Hassan’s“ zum Beispiel, seit 1995 jede Nacht vor dem Balliol College zu finden, ist eine von Oxfords heimlichen Institutionen. Der mobile Imbiss bietet gutes und preisgünstiges Fast Food, ist zentral gelegen, und Inhaber Hassan Elouhabi ist immer gut gelaunt.
Ebenso abwesend in Parrs Kollektion sind die berüchtigten Nachtclubs – „The Bridge“ und das „Plush“ –, in denen Studenten und Nicht-Studenten Gelage feiern. Kein Bild auch von den vielen Fahrrädern, die als Hauptfortbewegungsmittel das Stadtbild bestimmen (und ohne ihre Schutzbleche und Fahrradständer besonders deutsche Studenten oft komisch anmuten). Die neueren Colleges wie Wolfson, St Antony’s und St Anne’s, die nicht in die stereotype Vorstellung von Oxford als Märchenstadt passen, kommen ebenfalls nicht vor. Für die Kontrastarmut von Parrs Bildern spricht auch, dass er die Studentenschaft als weitgehend homogene Masse zeigt, ein Eindruck, der keineswegs der Realität entspricht.
Während manche Erstsemester ihre Aufnahme in der ersten Woche tatsächlich mit Champagner feiern und ihre Zimmerausstattung von Harrods in London kommen lassen, existieren mindestens genauso viele, die mit Bangen auf die nächste Monatsmiete blicken. Leben in Oxford – der teuersten Stadt Großbritanniens, gemessen am Einkommen – ist vor allem eines: von Ungleichheit geprägt. Natürlich haben manche kein Problem, Studiengebühren von rund 9.000 Pfund im Jahr und monatlich noch einmal 1.000 Pfund oder mehr für eine winzige Wohnung auszugeben. Für die anderen sind das jedoch astronomische Summen. Doch Parr sieht darüber hinweg. Am sträflichsten ist, wie der Magnum-Fotograf die extreme Armut, die in Oxford allgegenwärtig ist, außer Acht gelassen hat. Die vielen Obdachlosen, die im scharfen Kontrast zur reichen Universität stehen, gehören zum Studentenalltag. In seinen Bildern tauchen sie nicht einmal auf. Szenen, in denen Studenten in Abendkleidern und Frack über die Straßen stolpern, während auf den Bürgersteigen zum Teil gleichaltrige Obdachlose liegen, die sich nicht einmal einen vernünftigen Schlafsack leisten können, sind jedem, der in Oxford länger Zeit verbracht hat, vertraut. Man kann sie schlicht nicht übersehen. Parrs Oxford ist eine sterile Welt, ein Konstrukt, nicht die Realität.
Daneben, dieser Blick
Man könnte auch argumentieren, dass Parr gerade mit dem, was er nicht zeigt, ein Statement abliefert – über eine Universität, die auch in diesem Jahr noch auffallend weiß, elitär und von der britischen Mittel- und Oberklasse dominiert ist. In dieser Lesart bestünde die Subversion, für die man Martin Parr kennt, gerade darin, dass er die Institution vorführt, indem er einfach nur ihre exzentrischen Seiten zur Schau stellt. Aber auch dann würden die Bilder dieses Ziel verfehlen.
Es ist leicht, sich von Oxford in den Bann ziehen zu lassen. Dieser mehr als 800 Jahre alten Geschichte, dem Ruf, den Bauten. Jener Mischung aus Elitismus, Genie und Extrovertiertheit, von alldem ist man täglich umgeben. Was der Mythos aber am wenigsten gebraucht hätte, ist ein stilles Bejubeln.
Info
Oxford Martin Parr Mit einem Nachwort von Simon Winchester, Oxford University Press 2017, 224 S., 30,09 €
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