Der lange Arm der Justitia

Weltrechtsprinzip Das Kriegsverbrechen in Ländern verfolgt werden dürfen, in denen sie nicht begangen wurden, ist ein wichtiger Schritt in der internationalen Gerechtigkeitsfindung.

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Wenn heute, dem 23. April, der weltweit erste Prozess wegen Staatsfolter in Syrien vor dem Oberlandesgericht Koblenz stattfindet, ist dies ein Meilenstein in der internationalen Rechtsprechung. Nicht nur ist der Fall ein Paradebeispiel dafür, wie ernst die Bundesrepublik die in Syrien begangenen Verbrechen nimmt, sei es seitens al-Assad oder Islamischen Staates (IS). Vor allem aber zeigt er die die effektive Anwendung des Weltrechtsprinzips auf, demzufolge sich Kriegsverbrecher nirgends mehr sicher fühlen können.

Somit ist der Prozess gegen die Angeklagten Anwar R. und Eyad A. – beide ehemalige Funktionäre des syrischen Allgemeinen Geheimdienstdirektorats – ein Fall mit hoher Signalwirkung. Denn der Arm des Rechts ist in den letzten Jahren in der Tat lang geworden: Dank der zügig vorangeschrittenen Internationalisierung des Strafrechts in den letzten 20 Jahren haben deutsche Ermittlungsbehörden nun weitreichende Befugnisse. Dazu gehört auch die Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen ohne Deutschland-Bezug, sprich, die Anklage von Kriegsverbrechern in Deutschland ist nicht mehr nur auf deutsche Staatsangehörige oder auf deutschem Boden begangene Vergehen beschränkt.

Justiz über nationale Grenzen hinaus

Grundlage dafür ist das sogenannte Weltrechtsprinzip im Völkerstrafgesetzbuch. Das Prinzip – Deutschland folgt ihm seit 2002 – basiert auf der Erkenntnis, dass die Staatengemeinschaft eine gemeinsame Verantwortung zur Ahndung der schlimmsten Verbrechen hat. Im weitesten Sinne ist dieser Gedanke Immanuel Kants Zum ewigen Frieden entlehnt, demnach eine „Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird.“ Die Übersetzung dieses Mantras in die heutige Rechtsprechung besteht darin, dass sich Straftäter nirgendwo auf der Welt vor Verfolgung sicher fühlen sollen (Universal Jurisdiction), denn die Tragweite bestimmter Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und anderen Kriegsverbrechen, geht weit über nationalstaatliche Grenzen hinaus.

Und Deutschland hat sich in der Anwendung des Prinzips besonders hervorgetan. Im Jahr 2010 erhob die Bundestaatsanwaltschaft erstmals Anklage mit Bezug auf das Völkerstrafgesetzbuch, nämlich gegen zwei ehemalige ruandische Milizenführer. Im sogenannten „Ruanda-Prozess“ wurden Ignace Murwanashyaka und Straton Musoni Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in mehr als 200 Fällen vorgeworfen, darunter vielfacher Mord, Vergewaltigung, Plünderung und Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten. Nachdem deutsche Behörden in Ruanda Beweise und Zeugenaussagen gesammelt hatten, wurden beide im September 2015 zu 13 beziehungsweise acht Jahren Gefängnis verurteilt.

Erfolge und blinde Punkte

Der Ruanda-Prozess war ein Präzedenzfall, der die Behörden zu weiteren Ermittlungen in Syrien – auch gegen Anhänger des IS und unter Flüchtlingen – ermutigte. Andere Krisengebiete rücken derweil immer mehr in den Ermittlungsfokus, weil es außer Frage steht, dass diese Fälle nur die Spitze des Eisberges sind. Auch wenn Deutschland sich immer mehr für Völkerrechtsbrüche und Kriegsverbrechen jenseits des Nahen Ostens interessiert, so ist Asien bisher ein relativ vernachlässigter Schauplatz.

Zwar steht ein wegen Kriegsverbrechen vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf angeklagter Mann aus Sri Lanka vor Gericht, der für die Hinrichtung von Gefangen während seiner Zeit bei den Tamil Tigers verantwortlich gemacht wird. Aber Länder wie Kambodscha und vor allem Vietnam bieten Anlass zu Ermittlung von Verbrechen, die schon Jahrzehnte zurückliegen – aber gerade deshalb die Stärke des Weltrechtsprinzips demonstrieren würden.

Gerechtigkeit für die Lai Dai Han?

In Vietnam, zum Beispiel, leben die sogenannten Lai Dai Han, Kinder von südkoreanischen Soldaten zur Zeit des Vietnamkriegs vergewaltigten Frauen. Dass südkoreanische Truppen an Gräueltaten des Krieges beteiligt waren ist eine größtenteils vergessene und in Deutschland weitgehend unbekannte Tatsache. Der Krieg ist seit Jahren vorbei, aber bis heute warten die Lai Dai Han – eigentlich ein vietnamesischer Schandbegriff mit „Mischblut“ als Bedeutung – und ihre Mütter auf eine Entschuldigung aus Seoul, oder irgendeine Form der Anerkennung dieses Verbrechens.

Als Kinder feindlicher Kämpfer werden sie bis heute gesellschaftlich ausgegrenzt und mit äußerstem Argwohn beobachtet, haben keinen Zugang zu sozialen Dienstleistungen und sind darüber hinaus Opfer zahlreicher andere Schikanen, die sie an den untersten Rand der vietnamesischen Gesellschaft verbannen. Die 800 noch überlebenden Frauen der Vergewaltigungen würden von der Anwendung des Weltrechtsprinzips im Völkerstrafrecht auf ihre Fälle profitieren, zumal die Fälle relativ gut dokumentiert sind und die Stimmen, die schon länger eine Untersuchung durch die Vereinten Nationen fordern, immer lauter werden.

Ein Schritt zur Heilung

Es ist verständlich, dass sich deutsche Behörden, wie das Bundeskriminalamt mit seiner speziell eingerichteten Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen (ZBKV), mit Blick auf die Vielzahl dringlicher Fälle aus Syrien derzeit schwer tut, ein Auge auf andere Kriegsschauplätze zu haben. Aber die Vorgehensweise im Ruanda-Prozess hat gezeigt, dass Ermittler die Schauplätze der Verbrechen besuchen können, um Untersuchungen durchzuführen. In Ruanda, Syrien und Sri Lanka ist die Wahrheitsfindung verhältnismäßig einfach. Lebende Zeugen gibt (und gab) es viele, wobei die Zeit in Vietnam allmählich knapp wird.

Aber auch wenn die Rechtsprechung stattfindet, so kann das internationale Strafrecht das Stigma, sei es das der Lai Dai Han, Jesiden und anderen Volksgruppen auf der Welt, die Opfer von Kriegsverbrechen wurden, leider nicht umkehren. Aber trotzdem trägt der generelle im Weltrechtsprinzip verankerte Ansatz des „No safe haven, no impunity“ bedeutend zur Aufarbeitung und Gerechtigkeitsfindung bei. Darin liegt der Kern des Prinzips: nur durch größtmögliche Vergangenheitsbewältigung – und Verurteilung der Täter von einst ist Teil davon – können gesellschaftliche Wunden genesen. Und wenn Deutschland seinen Beitrag dazu leisten kann, umso besser.

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