Auf der Suche nach Magie

Indien Pilgerreise zu den heiligen Ochsen am Strand von Rameswaram

Ein Zimmer im Fairlawn mitten in Kalkutta sollte man mit Vollpension buchen, auch wenn das Essen keinesfalls preisverdächtig ist. Dafür aber sind es die beiden Senior-Kellner im Hotelrestaurant mit ihren Turbanen und besonders die Gäste. Extravagante Globetrotter, Lebenskünstler, Religions-Touristen und die Dame aus Los Angeles, die sich für den Rest ihres Lebens den Straßenhunden von Kalkutta widmen will; oder der Arzt aus London, der sich um die Straßenkinder am Bahnhof Howrah kümmert, wenn er nicht gerade nach Nepal unterwegs ist oder darüber schreibt. Das schwule Paar aus New York war schon 17mal in Indien, jede Reise beginnen die beiden Herren im Fairlawn.

Auch Antonia, die reizende englische Wahlfranzösin, fühlt sich vom indischen Subkontinent magisch angezogen. Sie kommt, wann immer sie kann. Gerade bezaubert sie den jungen Australier an ihrem Tisch, der ein Eisenbahn-Fan ist. Einige tausend Schienenkilometer durch Indien hat er schon hinter sich. Ich weiß es von Simon an der Rezeption, mit dem ich jeden Tag ein bisschen über alte und neue Gäste klatsche. Das Fairlawn bietet den Stoff, aus dem Filme gemacht werden. Zwischen Kalkuttas berühmtem New Market und dem Indian Museum, eingekreist von Backpacker-Hotels, Internet-Cafés und Reisebüros, duckt sich das pittoreske kleine Haus hinter einer Mauer aus grünen und gelben Mosaiksteinchen wie eine exotische Insel inmitten des nie vergehenden Lärms der Megametropole.

Der offene Speiseraum ist im Fairlawn immer eingedeckt, eine schöne Holztreppe führt von dort in die Lounge und zu den oberen Zimmern, vorbei an Fotos von berühmten und unbekannten Personen, gerahmten Zeitungsartikeln, Widmungen, Urkunden. Man muss mehrfach hier gewesen sein, um sie gebührend in Augenschein zu nehmen.

Auf toupierten Locken glänzt der Lack

Jeden Morgen steigt Violet Smit, die Inhaberin des Fairlawn, frisch frisiert und gepudert hinab in ihr Reich hinter dem Empfangstresen. Sie plaudert einen Augenblick mit den Gästen und sitzt ein bisschen mit ihrem Manager über den Papieren. Violet weiß in ihren Angestellten eine treue Gefolgschaft hinter sich, die ihr seit Jahrzehnten beisteht - mancher Kellner oder Portier bereits in der zweiten Generation, wie Simon, der den Job an der Rezeption von seinem Vater geerbt hat.

Violet ist weit über 80 und seit einigen Jahren Witwe, bald wird sie wohl die Geschäfte an ihre einzige Tochter Jenny abgeben, die inzwischen ein paar Mal im Jahr aus England anreist, um sich im Metier zu üben. Die alte indische Crew sieht das mit gemischten Gefühlen. Es wird vieles anders werden, wenn Violet nicht mehr da ist.

"Ich liebe meine Gäste und ihre Geschichten, das hält mich jung, Darling." Ich sitze an Violets Frühstückstisch, was nicht jeder darf. Mit gegenüber eine bunte Bluse mit Perlenkette, phosphoreszierende Blässe, die Lippen aber knallig rot und auf den toupierten Locken glänzt der Lack. Violet trinkt Tee, isst Salat und Tomatenbrote. "Ich hatte ein schönes und abenteuerliches Leben", sagt sie und sieht an mir vorbei. Sie sei armenischer Abstammung, erzählt sie beiläufig, ihre Eltern flohen vor den Massakern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges und kamen auf abenteuerlichen Wegen über Teheran und den Hindukusch bis nach Bangladesh. Dort, in Dhaka, wurde Violet geboren, der Vater fand schließlich Arbeit bei einer englischen Handelsfirma, die ihn später nach Indien versetzte. Der Rest der Familie folgte, Violets Mutter wechselte in das Hotelfach, bis sie schließlich das Fairlawn in Kalkutta kaufte. Violet verliebte sich in einen Major der britischen Armee, sie heirateten in der armenischen Kirche in Kalkutta. Danach trieb es sie jahrzehntelang durch die Welt, bis sie für immer ins Fairlawn zurückkehrte.

Nun komme die Welt zu ihr: Julie Christie, Sting und Tiziano Terzani, dessen Sohn seine Hochzeit im Fairlawn feierte. Der Film City of Joy wurde hier in ihrem Quartier und ihrem Hotel gedreht, und Günter Grass steht auch im Gästebuch.

Auch ich bin stets von Neuem im Fairlawn gelandet und immer wieder von dort zu Touren durch Indiens Mammutleib gestartet, um die Magie zu suchen, weil dieses Land ja die Magie schlechthin sein soll. Ich muss gestehen, dass ich bei meinen Exkursionen nicht sonderlich erfolgreich war, und die Magie mir vieles von dem schuldig blieb, was sie zu versprechen schien.

In Kalkutta habe ich Durga Puja gefeiert und Mutter Teresa die Ehre erwiesen, ich war unterwegs nach Madras bei den Seidenwebern von Kanchipuram und den Tempelbildhauern in Mahabalipuram. Ich stand sprachlos vor den Hightech-Tempeln Bangalores und Hyderabads und konnte mich nicht satt sehen an den wunderschönen Sarees. Aber Indien hat es mir stets schwer gemacht - mit seiner Wucht und seinen Widersprüchen, die unüberbrückbar scheinen, mit den ungezählten stoischen Göttern für alles und jeden, mit dem nie versiegenden Lärm und einer verzehrenden Armut, die in der Nachbarschaft eines satten Reichtums um so unerträglicher ist.

Auch mit den Indern war es nicht immer leicht. Nirgendwo sonst habe ich so um Respekt ringen müssen, als Mensch und besonders als Frau. Magisch war das ganz und gar nicht.

Kurz vor Mitternacht kam der Zyklon

Wasser, nichts als Wasser. Wir fahren durchs Meer, ist mein erster Gedanke. Im nächsten Augenblick habe ich das Gefühl, als neige sich der Zug zur Seite, mit den vergitterten Fenstern nach unten. Die Sonne tanzt auf den Wellen, und der Zug schlingert bedrohlich. Scheinbar dauert es ewig, bis endlich Land in Sicht ist. Ich verfolge die Strecke auf der Karte. Tatsächlich geht es hier so schmal zu, dass wahrscheinlich kein Platz mehr für die Eisenbahnlinie war. Da haben die Inder sie einfach durchs Meer gebaut.

Ich komme in Rameswaram an, einem der heiligsten Orte der Hindus, an der südlichsten Spitze Indiens, gleich gegenüber von Sri Lanka. Nach dem Ramayana-Epos soll hier der Gott Rama den Dämonen Ravana besiegt und sich anschließend im Meer rein gewaschen haben. Nun suchen den Ort täglich Tausende von Gläubigen heim, um sich in die heiligen Fluten zu stürzen.

Es ist nicht einmal acht Uhr morgens und schon brütend heiß. Ich ziehe wieder los, die Magie zu suchen. Vorbei an unzähligen Bussen und Bretterbuden, die heißen Tee und süßen Kaffee anbieten. Ich hocke mich auf eine wackelige Bank in der Nähe eines der zahlreichen Tempel und beobachte fasziniert, wie ganze Familienclans, einander an den Händen haltend, mit allem, was sie am Leibe tragen, ins Wasser abtauchen. Alte Herren knien am Strand und ringen ihre Bärte aus, und ein paar Kühe mit glitzernden Bändern um den Hals erleichtern sich seelenruhig in den Sand der sakrosankten Stätte.

Der Pilgerstrom reißt den ganzen Tag nicht ab: rein ins Wasser, raus aus dem Wasser, rein in den Tempel, raus aus dem Tempel, rein in die Busse und wieder in Richtung Heimat. Handtücher und Kleidungsstücke flattern sich an den Fenstern trocken. Dann ist Platz für den nächsten Ansturm. Rameswaram lebt von seiner Heiligkeit. Ausgebuchte Hotels und Restaurants zur Massenabfertigung. Reisebüros, die ihre Busse bis zum Bersten voll stopfen. Straßenverkäufer, die Muschelketten und die illustrierte Geschichte des Ortes im Postkartenformat ausrufen. Jeder Kiosk quillt über von Reliquien und Sonnenbrillen.

Hier und da hält ein Ochse seine bunt schillernden Hörner in die Sonne.

Erst mit der Dämmerung kommt die Ruhe. Der Strand ist plötzlich leer gefegt, an der Promenade brennen müde ein paar Laternen. Leise rollt die Brandung heran. Nicht weit von mir hockt jemand in Meditationsstellung. Den Kopf schrägt zurückgelegt. Männlich, anmutig die dunkle Glut seiner Augen. Ich vertiefe mich in diesen Anblick, bis es der junge Mann bemerkt. Er kommt auf mich zu, eine schlanke Gestalt ganz in Weiß und würdevoll, durchaus magisch, denke ich. Er heiße Vinoth, und sein Großvater sei hier eine lokale Legende.

Am nächsten Tag schwinge ich mich hinter Vinoth auf den Sozius seines Motorrads, um den alten Herrn zu besuchen, in Danushkoki und damit in einer Gegend, die Indien fast mit Sri Lanka zusammenführt. Vor Jahrzehnten gab es noch eine Brücke und eine Eisenbahnlinie, das war vor dem großen Zyklon, der über die Küste hereinbrach und alles hinwegfegte.

Vinoths Großvater sieht aus wie ein Guru mit Glatze, den Bart zu Zöpfen geflochten, die bis an den Bauchnabel reichen. "Danushkodi war früher eine richtige Stadt mit einem Hafen. Wir hatten alles - Schulen, Hospitäler, ein Postamt, Geschäfte und einen Bahnhof. Sogar ein Kino. Die Leute aus Sri Lanka kamen herüber, um sich Filme anzusehen. Von Rameswaram hat damals noch keiner geredet, es war nicht viel mehr als ein unbedeutendes Fischerdorf. Und dann flog alles davon. Am 22. Dezember 1964, kurz vor Mitternacht, kam der Zyklon. So viele sind damals umgekommen, auch meine Frau. Ich bin der Letzte von denen, die damals überlebten, alle anderen sind mittlerweile gestorben - es ist schon so lange her."

Der Tsunami vom 25. Dezember 2004 hat Danushkodi auf wundersame Weise verschont, vielleicht wollten die Götter die Menschen hier nicht noch einmal strafen. Ihr Leben ist schwer genug an diesem Ende der Welt, zwischen all den Trümmern, die der Wind langsam mit Sand begräbt, wenn er es nicht längst getan hat. Mit Hütten, daran Ratten nagen, und in einer Gegend, die offenbar aufgegeben wurde und in der es bis heute weder Strom noch Wasser aus der Leitung gibt.

Unwillkürlich muss ich an Bombay denken, an ein Erlebnis, das erst wenige Wochen zurückliegt. Ich stand auf einer Brücke und sah in den Bauch der größten Freiluftwäscherei der Stadt: Berge von Wäsche umgaben riesige Wasserbecken, Hunderte von Laken auf unzähligen Leinen, und dazwischen schufteten dunkle, halbnackte Gestalten und schoben Loren mit Wäsche von irgendwoher nach irgendwohin. Ein monströses Metropolis. Wie aus einer anderen Welt. Da blieb wieder einmal jede Magie auf der Strecke.


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