Schneeweißchen und Rosenrot

Iran Der Perser denkwürdige Verwandlung auf dem Weg von Teheran nach Istanbul

Ich stehe ein letztes Mal auf der Dachterrasse meines Hotels und grüße die Stadt. Am Horizont wehren sich das Weiß der Gipfel und das Blau des Himmels im Bündnis mit der Sonne gegen den Smog, der sich schwer auf Teherans Dächer legt. Es entstehen noch schnell ein paar letzte Fotos: die Restaurantmanagerin und der Kellner, der Kellner und ich, beide zusammen mit mir - einmal mit, einmal ohne Kopftuch.

Der freundliche Herr vom Housekeeping, der mir jeden Tag Herbstblumen ins Zimmer gestellt hat, legt die rechte Hand auf die Brust und küsst mich auf beide Wangen. Unten, auf den Stufen zum Eingang, sitzt der alte Mann mit der schwarzen Wollmütze, der immer mit den Vögeln spricht. Seine Augen lachen über dem weißen Schnurrbart.

Noch einmal bin ich auf meinem Lieblingsweg. An den Schuhgeschäften vorbei zum Ferdowsi-Square, wo die Geldwechsler nach Dollars fragen, es viel Trödel, Antikes und Kloschüsseln gibt, Bistros, Kioske und ein riesiges Internet-Café. Ich passiere das verschlossene Tor der einstigen amerikanischen Botschaft und sehe den einsamen Soldaten auf dem Wachturm darüber, für den es nichts mehr zu bewachen gibt. In Rufweite liegen die Botschaften Deutschlands, der Türkei und Großbritanniens, letztere verbarrikadiert und von Doppelposten bewacht. Weil die Amerikaner nicht zur Verfügung stehen, könnten ihre Verbündeten herhalten müssen als Zielscheibe für Wut und Hass, soll das wohl heißen.

Wie alle Frauen trage ich "den Mantel", dieses Einheitskleidungsstück, das es schon lange nicht mehr nur in schwarz und lang gibt, dazu einen Schal, farblich abgestimmt. Auch wenn uns das die Fernsehbilder weiter gern vorgaukeln, die Straßen Teherans werden längst nicht mehr beherrscht von den "schwarzen Vögeln", wie ich die Frauen im Tschador heimlich nenne. Viele von ihnen fliegen in dieser Ausstattung auch nicht freiwillig herum, sondern beugen sich der Kleiderordnung aus beruflichen Gründen. Ansonsten ist bunt und eng angesagt, schmale Mäntelchen in Rosa, Hellblau und Weiß sind die Farben der Herbstsaison, dazu durchsichtige Schals und Tücher, die gerade noch den Hinterkopf bedecken, und wenn etwas davon auf die Schulter rutscht, lässt man sich Zeit, es wieder an seinen Platz zu ziehen.

"Die Frauen wollen sich zeigen, und die Männer wollen sie sehen", murmelt der Boutique-Besitzer in einer modernen Einkaufspassage gleich neben dem Basar. Das Land hat eine junge Bevölkerung, mehr als die Hälfte der Iraner ist unter 30, und trotz der vielen Sittenwächter, die ständig unterwegs sein sollen, nehmen sich Pärchen in der Öffentlichkeit bei der Hand, auch wenn sie im Bus noch immer nicht nebeneinander sitzen dürfen.

"Gott sei Dank hat sich viel verändert in den vergangenen Jahren. Ich hoffe, es dauert nicht mehr lange, dass die Tücher von den Köpfen fliegen und die Iraner endlich wieder Iraner sein können", meint ein Teppichhändler im Basar. Aber wie sind sie denn die Iraner?

Ich könnte es im Zug herausfinden, zwischen Teheran und Istanbul, ungefähr drei Tage lang, unterwegs mit Schlafwagen und Fähre. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Vorerst sitze ich noch im Wartesaal, beobachte die Reisenden und frage mich, was sie in der Türkei vorhaben mögen. Da sind die beiden jungen Männer, enge Pullover, enge Hosen, Muskelspiele. Auf Vergnügungsfahrt nach Izmir? Oder die Frau, die ihr quengelndes Kind, das eigentlich schon viel zu groß dafür ist, unter dem Tschador an die Brust gelegt hat. Ihr Mann sieht aus wie ein Wissenschaftler.

Jannat kommt ohne Kopftuch daher, Simin ist noch nicht so mutig

Aus meinem Abteil lacht mir eine freundliche Dame um die 50 entgegen, daneben - so erfahre ich bei der gegenseitigen Vorstellung - sitzen Simin und Reza, Eheleute von respektablem Altersunterschied, die so gut Englisch sprechen, dass wir uns verständigen können. Gegenüber haben sich die beiden jungen Männer mit den engen Pullovern eingerichtet.

Reza, der mich an einen Fuchs erinnert, hält umgehend eine feierliche Begrüßungsrede, die das friedliche Miteinander der Kulturen im Allgemeinen und während unserer gemeinsamen Reise im Besonderen preist. Simin kramt derweil den Hausstand aus großen Taschen: Thermoskanne, Teebeutel, eine Tüte mit Zucker, Servietten, Becher, Teller und Besteck, genug für den ganzen Waggon. Reza bietet Gebäck aus einem großen Karton an. "Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es ein so gutes Gebäck wie in Teheran", behauptet er und beobachtet mich aus schielenden Fuchsäuglein.

Die freundliche Dame heißt Jannat und gibt in wechselnden Abständen ein dunkles Raucherlachen zum Besten. Reza lobt sein Land - aber damit sei nicht der Iran der Ajatollahs gemeint, er sage das ausdrücklich, auch wenn er viele Jahre als Staatsbeamter in der Familienplanung tätig gewesen sei. "Das hier", und er nickt in Richtung unserer Kopftücher, "hat keiner gewollt. Es hat auch nichts mit unserem Glauben zu tun." Es scheint ihm wichtig zu sein, dass ich es weiß.

Wir träumen uns eine Weile in die atemberaubende Landschaft hinter den Fenstern hinein. Aber bald schon hat Simin das Abendessen auf ihrer Plastikdecke ausgebreitet: gefüllte Weinblätter und Pasteten mit Fleisch und Gemüse. Sie öffnet einen Behälter mit Thunfischsalat, während Reza die Teebeutel in der Thermoskanne versenkt. Ich habe nur gebratenes Huhn und drei Bananen zu bieten, meine Reisegefährten haben nichts dagegen, mich nach iranischer Art zu verwöhnen. Nach dem Essen verschwindet Simin mit der Zahnbürste, Jannat lässt sich zu einer letzten Zigarette überreden, Reza klappt die Betten auf, und ich befreie mich endlich von meinem Schal. Wenigstens bis morgen früh.

"Wir haben uns vorzeitig pensionieren lassen", erzählt Reza am nächsten Morgen. "Wie gesagt, ich war über 30 Jahre im Staatsdienst, meine Frau mehr als 20 Jahre, das reicht. Wir wollen noch etwas vom Leben haben. Mit dem Geld kommen wir aus, unsere Töchter sind erwachsen, wir können machen, was wir wollen. Also haben wir uns gedacht, wir sollten nach Istanbul fahren, um uns die Hagia Sophia, die Blaue Moschee und die Basare anzuschauen."

Jannat, die freundliche Dame, bedauert jetzt schon, dass sie in Ankara aussteigen muss. Sie will zur amerikanischen Botschaft, um ein Visum zu beantragen. Ihr Vater lebt in den Staaten, und sie war noch nie dort, weil ihr Mann immer Angst hatte, sie allein verreisen zu lassen. "Aber jetzt ist mein Vater krank, ich will ihn noch einmal sehen - das musste auch mein Mann respektieren", erzählt sie und kramt eine große Tüte Pistazien aus der Tasche. "Eigene Ernte", strahlt sie, "von unserer Plantage. Wir ernten die Besten im ganzen Land ... "

Die iranische Grenzkontrolle dauert Stunden, am Ende werden drei Leute verhaftet. Wegen falscher Pässe, wird gemunkelt. Dann ist der Zug endgültig auf dem Weg durch ein kurzes Niemandsland in die Türkei. Der kleine Grenzort Kapikoy liegt einsam unter hohen Bäumen, nicht mehr als eine Siedlung zwischen Schienen und Felsen. Ein paar zweistöckige Wohnhäuser mit Satellitenschüsseln, einem geduckten Gebäude für Passkontrolle und Zoll, auf dem Bahnsteig stehen Bänke und Tische zum Kaffeetrinken. Ich habe mich von Schal und Mantel befreit, auch Jannat kommt ohne Kopftuch daher, Simin ist noch nicht so mutig, wie die meisten Frauen. Die Verwandlung findet zaghaft statt, wir befinden uns zwar in der Türkei, aber fahren noch immer in einem iranischen Zug.

Dann fliegen die beiden davon, wie zwei schwarze Vögel

Es ist schon dunkel, als wir gegen Abend den Van-See erreichen, um die Reise per Schiff fortzusetzen. Die Leute rennen um die besten Plätze. Wer zu spät kommt, muss sich mit einem Plastikstuhl begnügen. Dafür gibt es das erste Bier, türkisches Efes. Ich stehe mit Kamal, einem der jungen Männer im engen Pullover, an Deck, bis das Schiff in die tiefschwarze Nacht getaucht und es vor Kälte nicht mehr auszuhalten ist. Unten schläft Simin mit dem Kopf auf dem Tisch, Reza krümmt sich mit verschränkten Armen, Jannat hat ihren Stuhl an die Wand und die Reisetasche ins Genick geschoben.

Ich tauche ab in die schmerzhaften Tiefen des Halbschlafes. Als ich fast vom Stuhl kippe, ist Land in Sicht. Eine Stunde später stolpern wir endlich aus dem Schiff in den nächsten Zug. Unsere kleine Familie bezieht wieder gemeinsam ein Abteil, auch Kamal und sein Freund sind in der Nähe, neben uns schließen sich zwei verhüllte Schönheiten ein. Die Uhr zeigt zwischen drei und vier Uhr morgens.

"Passport-Control, Passport-Control", weckt uns ein Spaßvogel. Wir springen aus den Betten und finden uns in der bezaubernden Gebirgswelt der Ost-Türkei wieder. Jannat zündet sich verzückt ihre Morgenzigarette an. Kamal kommt duftend in einem frischen engen Pullover vorbei. Nach dem Frühstück halte ich mit Simin die bunte Plastikdecke aus dem Zugfenster. Wir schauen den Krümeln hinterher, bis Jannat mit der Thermoskanne aus dem Restaurant zurückkehrt.

Ausgelassenheit liegt in der Luft - der Perser denkwürdige Verwandlung erreicht ein weiteres Stadium. Auch Simin trennt sich nun von ihrem Kopftuch. Ich bewundere ihr volles Haar, das wie von selbst eine Frisur bildet, bevor ich mit Jannat ins Zugrestaurant verschwinde. Wir trinken Efes, rauchen und essen Hähnchenschaschlik mit Reis, um anschließend für Reza ein Tablett mit Rhaki durch die Gänge zu balancieren. Unterwegs begegnen uns schöne Frauen mit wehenden Haaren. Ich habe Mühe, sie wieder zu erkennen. Kaum jemand in unserem Wagen trägt noch den Tschador.

Abends ist Party im Speisewagen. Jannat hat Brauen und Lippen geschminkt, Simin sieht in ihrem schwarzen T-Shirt zehn Jahre jünger aus. Der Speisewagen ist brechend voll. Der Spaßvogel, ein Riese von zwei Metern, mimt den Entertainer und hält eine Rede. Ich käme auch darin vor, wird mir versichert. Alle würden sich darüber freuen, dass ich mitfahre und mitfeiere. Applaus. Ich bin gerührt. Dann singt Jannat ein persisches Liebeslied, es scheint recht komisch zu sein, die Leute lachen schallend. Gegen elf verkündet der Riese das Ende der Soirée. Stunden später erreichen wir Ankara.

Zwei junge Frauen aus dem Nachbarabteil tragen weiter den Tschador und wollen auch nicht mit den anderen im Restaurant sitzen. "Du weißt nie, welche Leute mit im Zug sind und was sie später in Teheran erzählen", bekomme ich zu hören. "Deshalb fahren wir eben nach Istanbul, ohne den Tschador abzulegen." Ich frage, ob sie es für mich tun würden und bekomme einen langen blonden Pferdeschwanz und einen dunklen kurz geschnittenen Lockenkopf zu sehen - Schneeweißchen und Rosenrot. Der Lockenkopf steckt mir einen Ring an den Finger. "Vergiss uns nicht." Dann fliegen die beiden davon wie zwei schwarze Vögel. Als der Zug Ankara erreicht, muss auch Jannat gehen - und nimmt die Fröhlichkeit der letzten Stunden mit.

Auf dem Bahnhof von Haydar Pasha in Istanbul umarme ich Simin und Reza und sitze noch eine Weile mit Kamal am Hafen, wir trinken Eistee und warten auf unsere Fähre. Dann winken wir lange von Deck zu Deck, bis die Schiffe ganz klein geworden sind.


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