Im März 1999, als die Bombenangriffe auf serbische Städte begannen, lebte meine Tochter Sanja noch in Belgrad, in einer Schülerpension für Mädchen. Ich war zunächst sehr froh, sie dort untergebracht zu haben, weil sie ständig mit gleichaltrigen Mädchen zusammen sein konnte. Als ich dann aber hörte, dass es Nacht für Nacht Luftangriffe gab und auch Belgrad nicht verschont wurde, rief ich Sanja in ihrem Internat an und bat sie, ihre Sachen zu packen, weil ich sie nach Varvarin holen wollte. Auf der Rückfahrt hielt ich meine Tochter in den Armen und tröstete sie.
Zwar gab es dann in den folgenden Wochen Luftangriffe auf unsere Nachbarstadt Cuprija, aber keiner wäre auf die Idee gekommen, Varvarin könnte auch betroffen sein. Sicherheitshalber hatten wir im Keller unseres Hauses dennoch Betten vorbereitet. Es kamen Kinder aus den Nachbarhäusern, wir aßen, spielten, lachten nachts zusammen und sagten uns immer wieder, die kommen schon nicht bis hierher.
Am 30. Mai verließ Sanja sehr früh das Haus, um sich mit ihren Freundinnen am Fluss zu treffen. Ich war mit meinem Mann Zoran den ganzen Vormittag über mit Vorbereitungen für ein kleines Festessen beschäftigt, das es am nächsten Tag geben sollte. Doch dann hörten wir plötzlich eine erste Detonation. Zoran meinte, das werde wieder in Cuprija gewesen sein. Aber ich hatte sofort das Gefühl, dass es ganz in unserer Nähe passiert war. Und bald spürten wir auch eine starke Erschütterung und wussten nun, es muss irgendwo in der Umgebung einen Einschlag gegeben haben. Jetzt hat es Varvarin doch getroffen, dachte ich. Gemeinsam mit der Nachbarin, der Mutter von Sanjas Freundin Marina, bin ich dann losgelaufen, um nach den Mädchen zu suchen. Unterwegs sahen wir in jedes uns entgegenkommende Gesicht, aber keine Sanja und keine Marina. Wir hörten dabei zum ersten Mal, die Brücke über die Morava sei bombardiert worden. Ob es Tote oder Verletzte gegeben hatte, wusste keiner. Als wir schon fast unten am Fluss waren, hörten wir eine Frau schreien, da seien noch drei Mädchen auf der zerstörten Brücke. Wenige Augenblicke später sahen wir, was geschehen war. Die Brücke lag im Fluss, wie mit dem Messer abgeschnitten. In den Häusern ringsumher gab es gesplitterte Fenster, Risse im Mauerwerk und geborstene Türen.
"Sanja! Sanja!" schrie ich verzweifelt und hörte Hilferufe. Ich kletterte die Uferböschung hinab und sah, wie zwei Mädchen - eines davon war Marina - krampfhaft versuchten, an dem halb im Wasser liegenden Fußgängerweg der Brücke Halt zu finden. Sanja aber lag mit dem Kopf nach unten auf einem Teil des verbogenen Brückengeländers. "Sie atmet, sie lebt, ich helfe ihr!" rief mir Marina zu. Ich stand schon bis zur Brust im Wasser, um zu meiner Tochter vorzudringen, aber die Strömung war zu stark. Dann versuchte ich, über die Brückenteile zu klettern, aber plötzlich waren meine Beine wie gelähmt. Ich sah alles um mich herum und war wie erstarrt.
Inzwischen trafen Rettungsfahrzeuge ein, und den Sanitätern gelang es, Sanja zu bergen. Sie wurde auf ein Brett gelegt und so in den Krankenwagen geschoben. Ich stieg mit ein und beobachtete mein Kind. Die Augen waren offen und bewegten sich, aber Sanja war nicht bei Bewusstsein. Ich nahm ihre Hand und sagte immer wieder: "Sei stark, ich bin doch bei dir." Sie atmete sehr schwer.
Im Hospital musste ich auf dem Flur warten, es dauert nicht lange, bis ein Arzt aus dem Operationssaal kam und sich mit einer schnellen Bewegung die Handschuhe abstreifte - da wusste ich Bescheid. Ich schrie ihn an: "Lassen Sie mich zu meiner Tochter!" Der Chirurg versuchte, mich zu beruhigen, das gerade verstorbene Mädchen sei nicht meine Tochter gewesen. Aber ich wollte selbst sehen, was passiert war, und stürzte in den Behandlungsraum. Das dort auf einer Trage liegende Mädchen mit den weit aufgerissenen, erstarrten Augen war Sanja.
Von da an arbeitete und funktionierte bei mir alles wie bei einem Roboter. Sanja wurde gebadet. Sie hatte eine Wunde an der linken Hüfte, vom Rücken zum Bein, Splitter im Hinterkopf, im Rücken, in den Beinen. Es gab innere Verletzungen an der Lunge. Ihr Körper war völlig zerstört. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass auch mein Sohn inzwischen im Hospital eingetroffen war, um mir beizustehen. Ich beachtete ihn nicht und wollte nicht daran denken, wie er sich fühlte. Ich wollte nur mit Sanja zusammen sein, fühlte kein Blut mehr in mir, nur Eis. Alles war eiskalt.
30. Mai 1999 - Angriff auf Varvarin
Es ist der 67. Tag des NATO-Luftkrieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Frühjahr 1999, ein Sonntag. In der Kleinstadt Varvarin, 200 Kilometer südlich von Belgrad, fühlt man sich einigermaßen sicher. Der nächste Armee-Stützpunkt ist weit. Durch Varvarin laufen keine Truppentransporte, es gibt keine Kasernen, keinen strategisch wichtigen Betrieb, es gibt nur die Brücke über den Fluss Morava, die allein für zivile Zwecke genutzt wird. Schweres Militärgerät kann nicht auf die andere Seite des Flusses gebracht werden, denn der Übergang wurde als Teil deutscher Reparationsleistungen nach dem Ersten Weltkrieg bereits 1924 gebaut und seither nicht erneuert - seine maximale Tragfähigkeit liegt bei acht Tonnen.
An diesem 30. Mai 1999 feuern zwischen 13.00 und 13.10 Uhr zwei aus großer Höhe anfliegende Kampfjets mehrere Raketen des Typs AGM 654 auf die Brücke, die schon mit dem ersten Treffer zerstört wird. Dennoch wird das Ziel ein zweites Mal angeflogen und beschossen. Als die Maschinen endgültig abdrehen, bleiben zehn Tote zurück und 16 zum Teil Schwerverletzte. Wegen des Sonn- und Markttages hatten sich in der Umgebung und auf der Brücke Hunderte Einwohner Varvarins aufgehalten. Weshalb das strategisch wertlose Bauwerk bombardiert wurde, ließ sich keinem NATO-Bulletin entnehmen. Die Vermutung liegt nahe, dass der westlichen Allianz am 67. Tag ihrer Luftschläge die Ziele auszugehen drohten.
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