Es gibt Orte und Gebäude, die "verbraucht" sind. Als die amerikanische Kunsthistorikerin Barbara Miller Lane, durch ihr 1986 in deutscher Übersetzung erschienenes Buch Architecture and Politics in Germany 1919-1945 als Kennerin der Produktion und Rezeption der Architektur des Dritten Reiches ausgewiesen, Anfang der neunziger Jahre als Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin weilte, äußerte sie sich grundsätzlich zum Umgang mit dem erstmals in seiner gesamtstädtischen Dimension erfahrbaren architektonischen Erbe des Nationalsozialismus. Lanes Auffassung nach sind solche Objekte für keinerlei Umnutzung anzueignen. Damit zielte sie ausdrücklich nicht auf den materiellen Zustand der Bauwerke, sondern auf ihren Symbolgehalt. In diesem Sinne hielt sie die Umnutzung des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums in der Wilhelmstrasse für unmöglich und empfahl den Abriss.
Angewendet auf die Stätten der Vernichtung, nicht nur die Bauwerke, sondern allein schon die Flächen der Lager, hat ihre Bewertung viel für sich. An einem Ort wie Sachsenhausen, Buchenwald, Dachau oder auf dem als Topographie des Terrors bekanntgewordenen ehemaligen Gestapo-Gelände in Berlin kann man keinen Supermarkt, keinen Kindergarten und gewiss kein Regierungsgebäude errichten, ganz gleich, wie sehr man sich bemühen wollte, mit den Mitteln der Architektur, der bildenden Kunst und der Geschichtsdidaktik Distanz und Reflexion zum historischen Geschehen aufzubauen. Das Gelände, auch wenn es nicht bebaut ist, ist besetzt. Ich selber habe seinerzeit diese Argumentation auf den Umgang mit dem Todesstreifen im Bereich des Mauerdenkmals an der Bernauer Strasse angewendet. Schachtelhalme, Trümmerblumen, Birken und Robinien, die unweigerlich jede nicht bearbeitete Fläche in Berlin besetzen, schienen mir die einzig angemessene "Sukzession".
Angewendet auf das 1934/36 nach dem Plänen Ernst Sagebiels für das neu geschaffene und Hermann Göring unterstellte Reichsluftfahrtministerium an der Wilhelmstrasse, wird die Sache problematisch. Und das nicht nur aus ökologischen und ökonomischen Gründen. Anders als die Flächen der Lager, könnte man das Grundstück an der innerstädtischen Wilhelmstrasse wohl kaum als historische Brache liegenlassen. Man würde es also neu bebauen, die Spuren des "Dritten Reiches" und der Zeiten danach hinter sich lassend, womit die Beseitigung des Bauwerks als aktive Vergessensleistung zu bewerten wäre. Kein guter Anfang für die Berliner Republik.
In der Folge wurde denn auch rasch klar, dass die Leistung darin bestehen sollte, die Großbauten des NS im ehemaligen Ost-Berlin in die vom Berliner Senat und dem Bundesbauministerium gemeinsam aufgelegte Hauptstadtplanung als Regierungsstandorte mit einzubeziehen, instandgesetzt und durch kluge denkmalpflegerische und künstlerische Konzepte neu angeeignet. Seitdem hört man nichts mehr von "verbrauchten" Orten, aber oft und ausgiebig von deren "Kontamination", ein Begriff, der immerhin eine "De-Kontamination" denkbar macht. Wer aber solches vorhat - die De-Kontamination eines Gebäudes - muss sich zunächst darüber Klarheit verschaffen, worin die Verseuchung besteht. In unserem Falle, also in Sagebiels Reichsluftfahrtministerium, das nun das Bundesministerium der Finanzen beherbergt, fragt sich also, ob das Übel vorzugsweise in der Form steckt, in der Größe des Gebäudes, seiner Grundrissgestaltung, seinem Material und seinem Dekor, oder in der Geschichte des Hauses, als Stätte der Rüstungsplanung, der Verwaltung eines Eroberungskrieges und Residenz Hermann Görings, einer der Schlüsselfiguren des "Dritten Reiches".
Neigt man der ersten Variante zu, ist genauere architekturhistorische Analyse gefordert, die rasch an den Tag bringen wird, dass das Haus zwar in seinem Ehrenhof mit Führerbalkon und kantigen, sarkophagähnlichen Fensterumrahmungen Leitmotive der NS-Architektur zur Schau stellt, jedoch in seinen rückwärtigen Flügeln, die kammartig an den Haupttrakt angesetzt sind, unverkennbar der Architektur der neuen Sachlichkeit um 1930 nahesteht. Etwa dem gleichfalls sehr großen IG-Farbenhaus in Frankfurt am Main von Hugo Poelzig, einem Bau von 1928-1931, den man wohl kaum als Vorformulierung der NS-Architektur bezeichnen würde. Im Inneren ist das Ministerium als ungewöhnlich gut ausgestatteter Verwaltungsbau zu bewerten, mit großzügigen, Modernität ausstrahlenden Treppenhäusern, Treppengeländern und Türklinken aus Aluminium, dem Werkstoff der Luftfahrt und Leuchtkörpern im besten Art-Deco-Design. In der Form kann das Gift demnach kaum stecken, für das ein Antidot gesucht wird.
Also in der Geschichte. Aber auch hier ist die Sache alles andere als einfach. Denn schließlich wurde der Bau in den gut 60 Jahren seines Bestehens bereits mehrfach umgenutzt. Nach 1945 zog zunächst die russische Militäradministration dort ein, die die Herrschaftszeichen des NS beseitigen und den großen Festsaal im stalinistischen Stile umgestalten ließ.
Schließlich wurde das Haus für zwei Ministerien der DDR eingerichtet. Im Nordportikus, zur Leipziger Straße hin, brachte man an der Stelle des kriegerischen Reliefs von Arno Waldschmidt das in Meißener Keramikfliesen ausgeführte Wandbild von Max Lingner an, das die glückliche sozialistische Gesellschaft auf ihrem Weg in die Zukunft zeigt, ein früherer Versuch, dem Haus einen neuen Geist einzuhauchen. Nach der Wende war Sagebiels Großbau der Sitz der Treuhand, die von dort aus die Auflösung und den Verkauf der volkseigenen Betriebe der DDR organisierte.
Wenngleich unbestritten sein dürfte, dass die NS-Nutzung zwar nur knapp ein Jahrzehnt währte, aber für die Auseinandersetzung mit dem Ort die historisch bedeutsamste Schicht darstellt, sind doch die jüngeren historischen Schichten nicht einfach zu ignorieren, ganz gleich, ob man sie als ähnlich oder als weniger schlimm oder als Gegenpositionen bewerten möchte. Und, um auf die Vorstellung von Kontamination und "De-Kontamination" zurückzukommen: Da man zwar etwas von der Form, wohl kaum aber etwas von der Geschichte wegnehmen kann, ist eine "Entgiftung" nur durch Hinzufügungen denkbar. Es wäre indes müßig, das Geschehene auf solchem Wege überblenden zu wollen. Das könnte auch mit noch so gewichtigen künstlerischen oder geschichtsdidaktischen Gegenzeichen nicht gelingen und sollte es auch nicht. Möglich und sinnvoll sind Bearbeitungen, die jedoch niemals abschließend sein können. Es ist schon so, wie Jochen Gerz es anlässlich der Vorstellung seiner für das inzwischen eingezogene Bundesministerium der Finanzen entstandenen künstlerischen Intervention am Bau formuliert hat: "Was kann man sagen zu dem enormen Palimpsest, das dieses Gebäude darstellt - zu diesem Bus mit sovielen Haltestellen und Besetzungen - und wie kommen wir auf den Gedanken, an der Endstation angekommen zu sein."
Um zu ermitteln, was man denn dazu tatsächlich sagen könnte, hat Gerz das Naheliegende getan: er hat die Mitarbeiter des Hauses gefragt. Unterstützt durch den Minister selber, Hans Eichel, der die Aktion mit Wohlwollen begleitet, und sich auch selber befragen ließ, hat der Künstler Interviews mit den Angestellten und Beamten des Finanzministeriums durchgeführt, die auf Video aufgenommen wurden. Die Interviews kann man nun, gekürzt und zu jeweils dreien zusammengestellt, auf Bildschirmen sehen und hören, die in die Torpfosten des Ehrenhofes an der Wilhelmstrasse eingebaut wurden. Auf Knopfdruck erscheint zunächst die Frage, die Gerz den Mitarbeitern stellte, dann folgt, von einem Zufallsgenerator ausgewählt, eine Sequenz von Interviews.
Jochen Gerz wäre nicht er selbst, wenn ihm bei dieser Gelegenheit nicht wieder ein besonderer Kunstgriff eingefallen wäre, mit dem er zugleich Nähe und Distanz zur historischen und politischen Bedeutung des Gebäudes herstellen konnte: Statt ganz einfach um eine Meinungsäußerung zum Reichsluftfahrtministerium zu bitten, stellte er die Frage: "Das Geld, die Liebe, der Tod, die Freiheit - was zählt am Ende?"
In drei Zeilen, in Gerz' Handschrift geschrieben, erscheint die Frage, in ihrer Wortwahl und ihrem Rhythmus ein Stück konkreter Poesie, auf dem Bildschirm und als Laser-Projektion im Ehrenhof, dort allerdings nur schwer zu erfassen, da sie nicht als festes Bild vor Augen steht, sondern rasch über die Wände gleitet, bevor sie auf dem Boden des Hofes für einige Sekunden stillhält und dann verlischt.
Die Mitarbeiter hatten die Wahl, auf den einen oder den anderen Begriff oder auf alle gemeinsam einzugehen, ihre Antwort mehr auf persönliche oder mehr auf politische Überlegungen zu gründen, Vorüberlegtes mitzuteilen oder ganz einfach vor der Kamera ins Plaudern zu geraten. Die Frage eröffnet einen weiten, jedoch nicht unspezifischen Horizont: die Frage nach dem Geld lässt sich auf das Ministerium beziehen, in dem die Männer und Frauen arbeiten, die nach der Liebe auf ihre private Identität, die sie ja mitbringen, die nach dem Tod auf die Geschichte des Hauses, die nach der Freiheit auf ihre Erfahrungen in den beiden deutschen Staaten und in der vereinten Berliner Republik. Aber man kann die Sache auch ganz anders auffassen, politisch oder privat, und Gerz hat, nach eigener Aussage, nur selten durch Nachfragen in den Redefluss seiner Gesprächspartner eingegriffen. So sind die Interviewstücke, die über die Bildschirme in den Torpfosten abgespielt werden, nicht zu allgemeingültigen Aussagen zusammenzufassen, Generalisierungen oder Tendenzbestimmungen fallen schwer, manches erscheint trivial oder unfreiwillig komisch.
Es sind eben ganz normale Leute, die in diesem monumentalen Haus arbeiten. Und wenn ihre Antworten den Passanten nicht genügen sollten, weil man doch anderes, Fundierteres, Reflektierteres und mehr Politisches dazu sagen könnte, dann steht es jedem frei, angesichts des Reichsluftfahrtministeriums über Geld, Liebe, Tod und Freiheit nachzudenken und seine eigenen Anworten zu formulieren. Allerdings werden diese Antworten keinen Eingang in die am Bildschirm zu studierenden Interviewsequenzen finden. Auch die Mitarbeiter des Finanzministeriums selber, die ja in einigen Jahren zu der Auffassung gelangen könnten, dass sie nun ganz anders auf die Frage antworten und die Aktion gern wiederholen oder revidieren würden, sollen an der Arbeit nichts mehr ändern können, denn sie ist als Momentaufnahme gemeint. Sie wird dem Gebäude mit seiner neuen Nutzung beigegeben wie eine Urkunde einer Grundsteinkapsel. Heute ein Zeit-Zeugnis der unmittelbaren Gegenwart, wird die Arbeit mit den Jahren zu einem Zeugnis über die jüngste historische Schicht im Gebäude, das nun erstmals einem demokratischen Gemeinwesen dient. Ob die älteren Schichten jemals ganz in den Hintergund treten werden, bleibt abzuwarten. Der Bus fährt weiter.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.