An Drehbüchern kein Mangel

DIE EU UND DIE WTO-AGENDA Die Welthandelsrunde gilt als unbedingte Chefsache

Wenn Ende November die Lichter der WTO-Ministerkonferenz angehen, sitzen Boeing und Microsoft in der ersten Reihe. Gleich dahinter die Verhandlungsführer aus der EU, den USA, Japan, Kanada und erst dann der Rest der Welt. Rangordnungsprinzip ist wie gehabt ökonomische Macht. Im März hatten die beiden US-amerikanischen Industriegiganten unter dem Namen "Seattle Gastgeberorganisation" einen Brief an ihresgleichen geschickt und darin um Sponsoren geworben. Mit 250.000 US-Dollar (Smaragd) oder mehr darf eine Sponsorfirma fünf Teilnehmer zum Eröffnungs- und Abschlussempfang sowie einem Minister-Dinner schicken, vier zu einer Business-Konferenz und offiziellen Briefings. Bei 150.000 - 249.000 US-Dollar (Diamant) reduziert sich die Anwesenheit um eine Person. Geldgeschenke der Kategorie Platin oder Gold bedeuten Zugang in vermindertem Umfang. Wer bis zu 10.000 US-Dollar spendiert, darf immerhin noch sein Werbematerial auf den Konferenztischen verteilen.

Zum ersten Mal zeigt die "Business-Community" bei einem WTO-Treffen derart dreist, wer bei der (De-)Regulierung des Welthandels das Sagen hat. Dass dies in Zeiten weltweit zunehmender Kritik an der WTO schlecht für deren Image ist, begriff selbst der bisherige neoliberale EU-Außenhandelskommissar Leon Brittan und protestierte. Darauf änderten Gates Co. die marktschreierische Wortwahl - nicht aber die Belohnungen ihrer Sponsorenwerbung.

Umstrittenes Verhandlungsmandat

Die anstehende Ministerkonferenz sollte laut WTO-Fahrplan lediglich Neuverhandlungen - sprich Liberalisierungen - im Agrarbereich und bei Dienstleistungen einläuten. Dann aber würden viele Europäer am eigenen Leibe spüren, was sie anderen Ländern gern aufbürden. Bei einer Öffnung der europäischen Agrarmärkte ist größter Widerstand von Bauern zu erwarten - siehe Frankreich. Weder wollen sie "billige" Konkurrenz noch den Abbau von Subventionen, dank derer die EU erst Netto-Nahrungsmittelexporteur wurde. So versuchte sich Leon Brittan an einer Ablenkungstaktik. Die Aufnahme "neuer Themen" wie Investitionen, Wettbewerb, öffentliche Ausschreibungen und Waldwirtschaft sollen ebenfalls dem Liberalisierungsstrudel anheimfallen - da hätte die EU sehr viel zu gewinnen. Und überhaupt, die neue Runde soll ja eine Entwicklungsrunde werden. Die Entwicklungsländer müssten endlich ihre Chancen auf dem Weltmarkt wahrnehmen dürfen und nicht länger am Katzentisch sitzen. Gedacht ist an Zollsenkungen für Waren aus den ärmsten Ländern, verlängerte Umsetzfristen (nicht etwa dauerhafte Sonderkonditionen) und ähnliches.

Doch nicht nur die meisten Entwicklungsländer sind höchst skeptisch ob des Segens der Millennium Round. Auch die USA wollen eher Verhandlungen nach dem Prinzip "Sektor für Sektor". Schließlich verweigerte der EU-Ministerrat seinem neuen Handelskommissar Pascal Lamy am 11. Oktober gar das erwartete Verhandlungsmandat, weil zwei Länder querschossen: Deutschland verlangte die Aufnahme einer Arbeitsgruppe zu Sozialstandards in das Mandat, und Frankreich bestand auf Ausnahmeregelungen zur Wahrung kultureller Vielfalt. Kommissionstaktik war dagegen, grundsätzlich keinen Bereich aus dem Seattle-Paket zu nehmen, um zu vermeiden, dass sich andere WTO-Mitglieder ebenfalls zur Beantragung von Ausnahmen ermuntert fühlen. Obwohl in fast allen Punkten am Ende Einigkeit im Ministerrat herrschte, und die EU somit generell eine Kompetenzerweiterung der WTO anstrebt, war Lamys Position für Seattle erst einmal empfindlich geschwächt. Trotzdem reiste er im Anschluss in die USA, um dort für den "europäischen Weg" zu werben. Dort überraschte ihn allerdings die Nachricht, EU-Kommissionspräsident Prodi verhandele selbst mit Clinton über die WTO.

Inzwischen kam im Genfer WTO-Sitz der erste Entwurf für die "Seattle-Erklärung" heraus. Eine "Totgeburt", unkten die einen, mit Entsetzen reagierten die anderen. Angeblich hatte das EU-Handelsministerium den Text des derzeitigen WTO-Ratsvorsitzenden, des tansanischen Botschafters Ali Mchumo, vorab zensiert und umgeschrieben. Nach dieser Vorlage dürften demnächst auch Gesundheit und Bildung als "Dienstleistungsgüter" privatisiert werden. Eine Stillstand-Klausel würde bis zum Abschluss der Handelsrunde verhindern, dass einzelne Länder in irgendeinem betroffenen Bereich - etwa Umweltschutz oder Sozialstandards - ihre Gesetzgebungen fortentwickeln. Zu wesentlichen Themen wie dem Streitregelungsverfahren enthält der Text nur eckige Klammern mit drei Punkten. Oberste Entscheidungsinstanz könnte nicht der Allgemeine WTO-Rat, sondern ein neu einzusetzender "Verhandlungsausschuss Handelsfragen" werden - möglicherweise mit freundlicher Hilfe der oben genannten Firmen.

Aufgrund heftiger Proteste lieferte Ali Mchumo vier Tage später einen Zusatz mit Forderungen einer Reihe von Entwicklungsländern nach. Darin werden eine Revision bisheriger Abkommen und ein Abbau von Anti-Dumping-Maßnahmen sowie von Subventionen auf Seiten der Industrieländer angemahnt. Patente, die Artenvielfalt gefährden, sollen ebenso wie Patente auf bestimmte Arzneimittelgrundstoffe ausgeschlossen werden, Bauern ohne Patentgebühren weiterhin ihre letztjährige Saat benutzen dürfen. Ernährungssicherheit soll verbrieftes Recht werden. Weiter ist daran gedacht, die im WTO-Recht vorgesehenen Sonderkonditionen für Entwicklungsländer durch Konzessionen seitens der Industrieländer zu ergänzen. Da sich derweil jedoch sowohl die EU als auch Japan offiziell gegen die Vorlage aus Genf wehren, werden wohl beide Papiere erst einmal im Papierkorb landen.

NGO als Komparserie

Angesichts all dieser Streitpunkte könnte Seattle ein kurzes Intermezzo mit viel Radau werden. In den USA, meinte ein Brüsseler Beamter, werde bereits vor "Unruhen auf den Straßen" gewarnt. Seit Monaten versucht die EU-Kommission, einer für sie schwer einschätzbaren Opposition Herr zu werden und Nichtregierungsorganisationen (NGO) jedweder Art einzubinden. Beim letzten "Meinungsaustausch" Anfang Oktober in Brüssel kam Kommissar Lamy gar höchstpersönlich. Die Liste der geladenen NGO reichte bemerkenswerter Weise von Umwelt-, Entwicklungs- und KonsumentInnengruppen bis hin zum Verband der Europäischen Automobilhersteller, dem Europäischen Fluglinienverband und der Europäischen Bankenföderation, was Zweifel am gleichberechtigten Dialog zulässt.

Auch in Seattle wird bereits an der Inszenierung des "Dialogs mit der Zivilgesellschaft" gearbeitet. Am 29. November, am Vorabend der Konferenzeröffnung, wird die WTO ein Symposium mit NGO veranstalten. WTO-Direktor Mike Moore hat angeblich bereits seine Teilnahme zugesagt. Sicher werden sich manche auch diesmal wieder von der vermeintlichen Einflussmöglichkeit bei solchen Anlässen beeindrucken lassen, andere setzen auf Fundamentalopposition. Doch, wie Suson George vom Pariser Observatoire de la Mondialisation kürzlich bemerkte: diejenigen, die sich gegen einen WTO-gelenkten globalen Neoliberalismus wehren, sollten sich nicht spalten lassen. In der Tat: Wenn die Agenda der Millennium-Runde wirklich steht, ist noch genügend Zeit, weitere Strategien zu formulieren. Der gemeinsame Nenner kann eigentlich nur heißen, wir brauchen eine Evaluierungs- statt einer Liberalisierungsrunde und eine Einschränkung statt einer Ausweitung der WTO-Kompetenzen. Dies möglichst öffentlichkeitswirksam zu begründen, dürfte angesichts der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich und der allenthalben galoppierenden Umweltzerstörung nicht gerade schwierig sein. Der Zug fährt derzeit in die falsche Richtung, und da geht es zuallererst darum zu bremsen.

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