Für die Polin Ester Waisman hatte es gerade noch so gereicht: Als vierte wurde sie 73-jährig auf dem jüdischen Friedhof im Stadtteil Inhaúma in Rio de Janeiro beerdigt. Damit erfüllte sich für die ehemalige jüdische Prostituierte ein Herzenswunsch: im Tod in der Fremde einen eigenen, würdigen »Ort« mit jüdischen Glaubensschwestern und -brüdern zu teilen. Auf einem städtischen Friedhof wäre das unmöglich gewesen, auf einem »normalen« jüdischen Friedhof hätte man sie als Hure zusammen mit Selbstmördern an der Mauer verscharrt.
Erst sechs Wochen zuvor, am 1. Oktober 1916, hatten die in der Israelitischen Vereinigung für Wohltätigkeit, Beerdigungen und Religion (ABFRI) zusammengeschlossenen Prostituierten ihren privaten Friedhof eingeweiht. Ein Journalist von Rios Tageszeitung A noite beschrieb den Akt als makabres und ausschweifendes jüdisches Ritual. Wohl eine antisemitische Kampagne fürchtend, distanzierte sich der Chefredakteur des jüdischen Blattes A columna mit einer geharnischten Antwort. Solche Festivitäten hätten mitnichten ihren Ursprung in jüdischen Vorschriften. Und überhaupt, mit diesem kriminellen Abschaum, diesen Huren und Zuhältern, habe die jüdische Gemeinde nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Unbekannt ist der tatsächliche Ablauf der Einweihung. Vermutlich hatte der Journalist in der fraglichen Reportage lediglich seiner Phantasie über die »Halbwelt«, gemixt mit Vorurteilen über Juden, freien Lauf gelassen. Tatsache aber ist die abgrundtiefe Verachtung, mit der die »reine« jüdische Bevölkerung in Rio wie anderswo in Brasilien das jüdische Prostitutionsmilieu strafte. Vereinigungen wie die Londoner Jewish Association for the Protection of Girls and Women (JAPGW) versuchten seit der Jahrhundertwende mit moralischem Impetus, die (in die Hände skrupelloser Frauenhändler) gefallenen Mädchen in den Einwanderungsländern zu retten. Im Alltag aber überwog die Haltung des Chefredakteurs der A Columna: Man mied sie »wie Aussätzige«. Und in Rio war man gleichzeitig insgeheim neidisch, weil die Halbwelt viel besser als Gemeinschaft organisiert war. Jüngstes Beispiel war der eigene Friedhof, etwas, das die anderen JüdInnen nicht besaßen.
Zwischen 1880 und 1920 wanderten rund vier Millionen Juden und Jüdinnen auf der Flucht vor Pogromen oder Armut aus Osteuropa in die neue Welt aus, vornehmlich in die USA und Argentinien; als diese Länder Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Einwanderungsgesetze verschärften, auch verstärkt nach Brasilien, dessen Regierung sich zur Imageverbesserung nach außen explizit um diese ImmigrantInnen bemühte. Für die meisten erfüllte sich der Traum von einem Leben in Ruhe und Wohlstand nicht.
Schon ab Mitte des 19. Jahrhunderts war die erste »Generation« osteuropäischer Prostituierter und Zuhälterinnen nach Brasilien gekommen, aus unterschiedlichen Gründen, zu denen auch der Frauenhandel zählte. Viele derjenigen, die sich in Brasilien prostituierten, arbeiteten aber auch schon in Osteuropa im Milieu. 1889 waren - nach einer Erhebung des russischen Reiches - 70 Prozent der Bordelllizenzen in jüdischer Hand, rund ein Viertel der Prostituierten in Krakau waren Jüdinnen. Arme jüdische Frauen, ohne Schulbildung, ohne Mitgift und daher ohne Aussicht auf Heirat und bei der Ankunft in Brasilien zudem ohne Sprachkenntnisse, hatten wenig Alternativen des Broterwerbs. In Lateinamerika hießen die Frauen aus Osteuropa generell »polacas« (Polinnen), Prostituierte für die Armen, Reiche Männer nahmen sich eine Französin.
Ester Waisman war eine der »polacas«. Gerade mal 20 Jahre alt war sie 1863 als eine der ersten jüdischen Prostituierten im Hafen von Rio gelandet. Zehn Jahre vor ihrem Tod war sie bei der Gründung der ABFRI dabei. In deren Statut werden die Ziele der Organisation beschrieben als: Gründung einer Synagoge, kostenlose Grundschule für beide (!) Geschlechter, Unterstützung kranker und invalider Mitglieder (einschließlich Kuren), Beerdigung, Grabpflege und Messen gemäß jüdischem Ritus. Das portugiesische Wort für Mitglied, associadas, kam nur in weiblicher Form vor. Doch stand die Mitgliedschaft Frauen und Männern jüdischen Glaubens offen. Vorstand und Beirat bestanden ausschließlich aus Frauen, lediglich die Betreuung von Schule und Synagoge wurde Männern überlassen. Die ABFRI war in Brasilien die erste Selbstorganisation von Huren mit der klar formulierten Absicht, ein Gemeinschaftsleben im (jüdischen) Glauben zu führen, die Religion zu ehren und eine Art privater Krankenversicherung und -pflege aufzubauen, die sich allein aus Mitgliedsbeiträgen speiste.
In den folgenden Jahren entstanden in Sao Paulo und Santos, möglicherweise auch in anderen brasilianischen Städten ähnliche Einrichtungen. Die Vereinsakten der ABFRI weisen auf ein stark karitativ geprägtes Gemeinschaftsleben hin.
1914 fand jedoch eine kuriose Reorganisation statt: Paragraph 6 des neuen Statuts schloss Frauen von der Vorstandstätigkeit aus! Künftig waren sie für die karitative Arbeit zuständig, Männer für die Verwaltung. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren: ein Mangel an Vorstandskandidatinnen, die des Lesens und Schreibens kundig waren? Die Notwendigkeit eines Schutzes der Frauen nach außen hin? Oder die Nachahmung des patriarchalen Gesellschaftsmodells, das dem Mann als Oberhaupt die Außenvertretung zugestand? Die Protokolle einer 1924 gegründeten gleichgearteten Organisation in Sao Paulo, der SBFRI, legen allerdings den Schluss nahe, es habe sich um einen Handstreich nach Art mafioser Zuhälter gehandelt: In Sao Paulo nämlich hielt schon 1926 eine Satzungsänderung explizit fest: Als Vorstandsmitglieder sind ausschließlich Frauen zugelassen. Als hätten sie von Rio gelernt ...
Erst ab 1932 eroberten sich die Huren in Rio den Vorstand zurück. Krieg und Judenverfolgung in Europa, ebenso antisemitische Politik in Brasilien unter Präsident Getúlio Vargas bedeuteten schwierige Zeiten für die ABFRI. 1942 wurde das Prostituiertenviertel Rios in Mangue und Lapa geschlossen. Einen Aufschwung erlebte es erst wieder in den 50ern mit der República do Mangue: Die Prostituierten bestimmten durch Wahl unter sich ihre jeweilige Puffmutter, die dann folglich ein Amt als Verwalterin und nicht als Besitzerin innehatte.
Doch auch die jüngste Generation der »polacas« kommt unaufhaltsam in die Jahre, ihre Kinder kehrten oftmals dem Milieu den Rücken. 1968 hatte die ABFRI nur noch 73 Mitglieder, lediglich 41 leisten noch Beiträge. 1970 wurde der letzte Vorstand für vier Jahre gewählt. Das Vereinshaus fiel wenig später dem Bau der Metro zum Opfer, das Hurenviertel in der Mangue ebenso. 1970 fand das letzte Begräbnis in Inhaúma statt. Insgesamt 792 Personen jüdischen Glaubens haben dort ihre letzte Ruhestätte gefunden, 80 Prozent davon Frauen. Im Schnitt wurden sie, das zeigt sich auf den Grabstätten, nicht älter als 40 Jahre, Männer höchstens 30.
Die Geschichte der »polacas« und ihrer jüdischen Selbsthilfeorganisationen passt nicht ins (Selbst-)Bild jüdischer Opfer. In der offiziellen Geschichtsschreibung kommt sie entweder gar nicht oder verdreht vor. Um so wichtiger, dass Beatriz Kushnir, selbst Jüdin, dieses Thema in ihrer Diplomarbeit für die Universität von Rio de Janeiro (UFF) aufgegriffen und dem Vergessen entrissen hat. Baile de Máscaras (Tanz der Masken) heißt ihr Buch - ein faszinierender Blick hinter die Masken auf das Privatleben und die privaten Bedürfnisse der sogenannten »öffentlichen« Frauen.
Literatur: Beatriz Kushnir: Baile de máscaras. Mulheres Judías e Prostituçao. As Polacas e suas Associaçoes de Ajuda Mútua. Rio de Janeiro: Imago Editora 1996
Ein ausführlicherer Artikel von Gaby Küppers erscheint Ende Oktober im ila-Heft Nr. 239, zu beziehen über: ila@ila.bonn.de
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