Ins Herz getroffen

Paris 2003 Das zweite Europäische Sozialforum war noch vielfältiger, vor allem näher dran an den sozialen Brennpunkten

Die französischen Tageszeitungen sahen ihre Gelegenheit gekommen. Am Morgen der Eröffnung des zweiten Europäischen Sozialforums (ESF) überschlugen sie sich mit gigantomanischen Aufmachern. "Die Völker haben das Wort", entschied die kommunistische L´Humanité. "Die Altermondialisten erschüttern die Parteien", sah der rechte Figaro voraus. Les Echos warb vorab für eine "Reise ins Herz des Widerspruchs" und lieferte dann pünktlich auf sage und schreibe 24 Sonderseiten eine Inspektion der neuen Bewegungskultur.

Was für ein Unterschied schon auf den ersten Blick zum ersten Sozialforum im italienischen Florenz im November 2002. Wochenlang hatten im Berlusconi-Italien hysterisierende Zeitungs- und Fernsehberichte vor den Sozialforumsvandalen gewarnt und Geschäftsleute davon überzeugt, ihre Läden zu verbarrikadieren und in die Ferien zu fahren. Die italienische Presse erfand den kruden Slogan "no global". Ganz anders dagegen die französische Wortschöpfung "Altermondialiste" - will sagen: die sind nicht dagegen, die wollen etwas anderes.

Vor Jahresfrist mobilisierte der bevorstehende Irak-Krieg: zum ersten ESF in der monumentalen Festung von Florenz kamen 60.000 und zur Abschlussdemonstration eine Million Menschen. In Paris stand - glücklicherweise - kein so gut wie sicherer Krieg bevor. Trotzdem erreichte zumindest das Forum fast die gleiche Dimension. Aus gutem Grund wird auch die Antikriegsmobilisierung weitergehen: Am 20. März 2004 sollen - wie am 15. Februar dieses Jahres - weltweit Antikriegsdemonstrationen stattfinden.

Eines der wichtigsten und sehr kontrovers diskutierten Themen war in Paris die neue europäische Verfassung. Nur in einem Punkt war man sich einig: der freie Wettbewerb darf nicht zu einem obersten Verfassungswert werden, weil das weiteren Sozialabbau programmieren würde. Aus Rücksicht auf Teile der Gewerkschaften, die in erstaunlichem Optimismus darauf setzen, dass die Regierungen der EU-Länder den Entwurf noch verbessern, wurden in der Schlussdeklaration der sozialen Bewegungen die Worte "Ablehnung" und "Referendum" vermieden. Auf jeden Fall soll der 9. Mai 2004, an dem die Europäische Verfassung voraussichtlich ratifiziert wird, zum allgemeinen Aktionstag für ein soziales Europa werden.

Ebenfalls anders als in Florenz stand diesmal kein einzelner Ort zur Verfügung, wo aufgrund der schieren Masse ein Wir-Gefühl sich hätte einstellen können. Drei Arbeiterstädte im roten Gürtel von Paris und das in der Mitte gelegene ultramoderne Veranstaltungszentrum La Villette - diese Dezentralisierung hatte ihre Risiken. Denn im Zentrum platzten die Säle aus allen Nähten, während in der deprimierenden Plattenbau-Tristesse von Bobigny, Saint Denis und Ivry längst nicht alle Workshops und Seminare die verdiente Aufmerksamkeit fanden.

Die Verteilung auf mehrere Standorte hatte aber auch ihren Nutzen. Das zweite ESF ist noch vielfältiger geworden, vor allem weiblicher und näher dran an den sozialen Brennpunkten. So wurde etwa Bobigny zum Zentrum der Frauen. Mit 7.000 Teilnehmerinnen war ihr Demofest die größte der vier, allesamt kreativen Eröffnungsveranstaltungen. Erstmals waren auch Mitglieder der "Ohne..."-Bewegung auf einer derartigen Veranstaltung: die in Frankreich vergleichsweise gut organisierten Menschen ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne legale Dokumente. Sie konnten sich für symbolische drei Euro einschreiben und eines der 1.000 kostenlosen Transporttickets nutzen. Mehrmals während der Forumstage demonstrierten Illegale, und unmittelbar vor der Eröffnung gingen 10.000 Obdachlose auf die Straße. Mitglieder des GLAD (Globalisierung der Kämpfe und Aktionen des Ungehorsams), eine Gruppe, die sich neben La Villette selbstorganisiert eingerichtet hatte, solidarisierte sich, grimmig von der Polizei bewacht, mit den Angestellten einer bestreikten McDonalds-Filiale. Andere besetzten ein Haus. Mit Erfolg: in diesen Tagen will die Stadt ihnen einen Nutzungsvertrag anbieten.

Und was war mit dem Anspruch, für ein anderes Europa, für eine andere Welt zu sorgen? Krieg und Verfassung dürften in den kommenden Monaten zu Mobilisierungsfaktoren werden. Ein guter Hebel ist zweifellos auch die Kampagne, GATS-freie Städte und Gemeinden auszurufen. Die Stadt Paris hat sich bereits dazu erklärt und damit dem GATS, dem derzeit in der WTO verhandelten Abkommen zur Liberalisierung von Dienstleistungen, eine frontale Absage erteilt. Von deutscher Seite wurde ein Netzwerk gegen die Liberalisierungen im Dienstleistungsbereich gegründet. Die Liste konkreter Aktionen ist lang und reicht bis zum dritten ESF in London im kommenden Jahr. Eine unglaubliche Mobilisierung geht durch Europa, konnte man am Sonntag Nachmittag, nach überstandenem Forum, denken. Zweifellos wird sich etwas ändern. Aber das glaubte man auch vor einem Jahr in Florenz. Wie jede Bewegung brauchen auch die Sozialforen einen langen Atem.


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