III. Reaktionen der ungarischen Minderheiten auf den Vertrag von Trianon
Die Einstellung der ungarischen Minderheiten gegenüber dem Vertrag von Trianon ist nicht entsprechend den Regierungswechseln in Ungarn gliederbar (wie die ersten beiden Teile), denn diese Wechsel waren für die ungarischen Minderheitengesellschaften von nachrangiger Bedeutung. Stattdessen erscheint eine Einteilung nach der Generationenabfolge sinnvoller, weil eine solche Einteilung dominierende politische Strömungen eher zu erfassen vermag.
1) Die politische und intellektuelle Führung der Minderheiten bestand nach 1918 zuerst aus arrivierten Personen, die ihre Sozialisierung noch in der Monarchie erfahren haben. Sie besaßen zumeist das Vertrauen der Budapester Regierungskreise. Auch wenn sie es vermutlich nie offen ausgesprochen haben (hätten), scheinen heutige Historiker davon auszugehen, dass diese Personen ihr Politisieren mit dem Fernziel einer Rückkehr nach Ungarn betrieben. Diese Generation wurde aber in den 1930er Jahren von einer neuen, jungen Generation herausgefordert. Diese war mittlerweile in die Minderheitenposition hineingewachsen, sprach etwa das Slowakische fließend und war teilweise sehr liberal bis äußerst links (kommunistisch) eingestellt. Daher ist wohl zu hinterfragen, ob sie so ohne weiteres in ein (wie im ersten Teil dargestellt) sehr nationalistisches und rechtskonservatives Ungarn zurückkehren wollte. Stattdessen propagierte sie eher ein lokales Identitätsbewusstsein („Siebenbürgertum“), was eine Abkehr von (oder zumindest Indifferenz gegenüber) den großungarischen Träumen der Elterngeneration bedeutete. Demnach war Ende der 1930er Jahre, Anfang der 1940er Jahre die Zeit dieser Generation noch nicht gekommen, denn sie konnten mit ihren politischen Ansichten im vergrößerten Ungarn, also als sie selbst zu Mehrheitsangehörigen wurden, natürlich nicht reüssieren.
2) Erst nach der Machtübernahme durch die Kommunisten scheinen diese jüngeren Generationen ihren Marsch durch die Institutionen angetreten zu haben. Sie haben wohl leitende Positionen in der Vojvodina, in Siebenbürgen bekleidet und glaubten, dass die sozialistische Gesellschaftsordnung nationalistische Spannungen, die sie als von der Gesellschaftsordnung verursacht definierten, von alleine lösen werde.
3) Erst Ende der 1960er Jahre scheinen Teile dieser kommunistischen Minderheitenungarn ihren Irrtum erkannt zu haben. Doch die wenigsten besaßen die intellektuelle Redlichkeit, ihn einzugestehen und zuzugeben, dass nationale Spannungen verursacht durch eine nationalistische Assimilationspolitik auch in sozialistischen Gesellschaften möglich waren und real bestanden. Diese Generation wurde daher (bzw. auch aus Altersgründen)zunehmend von jüngeren verdrängt. Die Ende der 1930er, Mitte der 1940er geborene Generation sah die Diskrepanz zwischen Lehre und Realität des Sozialismus deutlich, auch wenn sie ihre Kritik nur versteckt äußern konnte. Ihr einziges legales Mittel war, sich der rechtlichen Rahmenbedingungen zu bedienen und so durch die Schaffung von Institutionen etwas (= eigenes Identitätsbewusstsein, Beharren auf der eigenen ethnischen Sonderart) der andersnationalen obrigkeitlichen Gewalt entgegenzusetzen.
4) Die abnehmende Zahl der Minderheitenungarn in den 1970er und 1980er Jahren ist aber eher dafür ein Beleg, dass die Strategien der Generation der 1970er zur Bewältigung der ethnischen Identitätskrise ihrer Gruppe nicht besonders erfolgreich waren. Die `89er Generation, die also zur Zeit der politischen Wende in Osteuropa etwa 20-25 Jahre alt war, kann als Generation der Illusionslosigkeit genannt werden. Da sie kaum auf eine freie und politische Identitätsentfaltung setzte, wanderte ein Großteil von ihr aus. (Die Ungarn in der heutigen Ukraine besitzen heute kaum mehr eine Intellektuellenschicht, jene der Ungarn in Serbien ist äußerst ausgedünnt).
5) Nach der politischen Wende von 1989, die zu einem freie(re)n Personen- und Güterverkehr (Bücher, Medien) zwischen Ungarn und den Nachbarländern führte, war es teilweise zu engeren ungarisch-ungarischen Kontaktmöglichkeiten und –räumen gekommen. Vor allem die jüngeren Minderheitenungarn nutzten diese, wodurch zum Einen ihr Identitätsbewusstsein gestärkt, zum Anderen sie selbst der Gesellschaft ihres Staates in einem stärkeren Maß entfremdet wurden, als dies bei den vorangegangenen Generationen der Fall war (die Intensität der Kenntnisse der jeweiligen Mehrheitssprache nahm z.B. ab). Viele studierten und arbeiteten in Ungarn (oder Westeuropa), woher sie dann nicht mehr in ihre Heimat zurückkehrten. Diese und ähnliche Entscheidungen wurden von der wirtschaftlichen Lage motiviert, kann jedoch auch als eine Attitüde und Antwort auf den Vertrag von Trianon bezeichnet werden. Diesen zu revidieren, ist wohl nurmehr der Wunsch eines verschwindend kleinen Teils der ungarischen Minderheiten. Sie wissen einerseits um die Unmöglichkeit von Grenzveränderungen im heutigen Europa. Andererseits bestehen heute keine so kompakten ungarischen Siedlungblöcke mehr wie noch 1939, was bei einer Grenzrevision zu immens großen slowakischen und serbischen Minderheiten führen würde. (Die rein ungarischen Gebiete wurden nämlich erfolgreich zersiedelt bzw. mit Angehörigen der jeweiligen Mehrheitsnation majorisiert). Die als negativ empfundene Erfahrung von 2004, als sich nicht genügende Ungarn zur Teilnahme an der Volksabstimmung über die Verleihung der ungarischen Staatsangehörigkeit an die Minderheitenungarn fanden, führte zu einem Bruch in den ungarisch-ungarischen Beziehungen, deren Konsequenzen noch kaum abzuschätzen sind. Die meisten Minderheitenungarn scheinen dieses Desinteresse als Negation ihrer Anerkennung als Ungarn, ihrer ungarischen Identität, bewertet zu haben.
Der Vertrag von Trianon spielt also auch heute auf die eine oder andere Weise eine wichtige Rolle im ungarischen kollektiven Bewusstsein. Sei es als Negativfolie für einen Traum über die Zeiten vor Trianon (die „schöngeträumt“ werden). Sei es als Ursache einer Reihe von bis heute wirksamer Traumata (gesellschaftliche und politische Marginalisierung als Minderheit, politische Ohnmachtsgefühle der Ungarn allgemein, ja die Selbstmordrate), die ursächlich und chronologisch auf den Vertrag zurückgeführt werden. Sei es als Auslöser von Terror, der von den Ungarn selbst (1919, 1942, 1944) an anderen Ethnien oder von den anderen Ethnien (1944ff, 1990) an den Ungarn verübt wurde. Es scheint, als könnten sich die Ungarn zu Trianon nicht nicht verhalten. Die Bezeichnung dieses Dreiecks als Trianon-Syndrom kennzeichnet das Phänomen wohl ziemlich genau. Doch wirft das auch die Frage auf, wofür dieses Syndrom dann steht. Der von einem Autor verwendete Begriff „national narcissism“ scheint die Gemütsverfassung der Ungarn sehr genau zu beschreiben. Wie sie mit solch virulenten und narzistischen Kränkungsgefühlen von Nationen umzugehen gedenkt, hat die EU noch nicht deutlich gemacht. Die geopolitische Lage Ungarns lässt zwar das Syndrom aus gesamteuropäischer Perspektive als von nachrangiger Bedeutung erscheinen, doch ist die Frage berechtigt, ob man auf Selbstheilungskräfte und Vergessen setzen kann. Nichts lässt sich nämlich so schnell und so einfach missbrauchen wie das Gefühl, dass einem Unrecht widerfahren ist. Dies erklärt die Wahlerfolge der ungarischen Rechtsextremen mit.
Konsultierte (teilweise auch nur „quergelesene“) Literatur
Bárdi Nándor :
Cleavages in Cross-Border Magyar Minority Politics, 1989-1998
Bárdi Nándor :
Hungary and the Hungarians Living Abroad: a Historical Outline
Bárdi Nándor :
Generation Groups in the History of HungarianMinority Elites
Király Béla: Case study on Trianon
www.hungarian-history.hu/lib/tria/
Mócsy, I. I.: The Effects of World War I The Uprooted: Hungarian Refugees and Their Impact on Hungary's Domestic Politics, 1918-1921
Myra A. Waterbury :
Ideology, Organization, Opposition: How Domestic Political Strategy Shapes Hungary's Ethnic Activism
Zeidler Miklós :
Irredentism in Everyday Life in Hungary during the Inter-war Period
Kommentare 6
Danke Zachor!, sehr gerne gelesen.
Mich würde interessieren, ob die Minderheitenangehörigen, welche nach der Machtübernahme der Kommunisten leitende Positionen übernahmen, frei von dem Vertreten nationalen Interessen agierten.
Auch würden mich Details zu der nationalistischen Assimilationspolitik interessieren.
Hallo Leif,
es freut mich, dass dir der Text gefallen hat. Vielen Dank für dein Feedback.
Zu deinen Fragen: ich glaube, wenn ich mich an die Literatur richtig erinnere, dass es ein vielfältiges Spektrum ab Verhaltensweisen gab, bezüglich der Minderheitenungarn, die kommunistische Leitungspositionen bekleideten. Manche haben ihre Herkunft vernachlässigt bis hin zur Slowakisierung oder Rumänisierung ihrer Namen. Andere versuchten dagegen, den Kommunismus und seinen Aufbau den Ungarn auf Ungarisch zu "verkaufen", in der Hoffnung, die Errichtung/Implementierung der neuen Ordnung und Verhältnisse ginge so schneller und reibungsloser. Inwieweit dabei eindeutig nationale Interessen im Vordergrund standen (oder lediglich Nebeneffekte waren), ist heute wohl schwer eruierbar.
Nationalistische Assimilationspolitik: Schließung von Minderheitenschulen, Verbot der Einfuhr jeglicher Kulturerzeugnisse aus Ungarn (Bücher, Musik, Filme, Theaterrundreisen etc.), Rückgang der universitären Ausbildung in den Minderheitensprachen, Zurückdrängung aus öffentlichen Leitungspositionen in Politik und Verwaltung, Verhinderung der Entfaltung spezifisch minderheitenbezogener Äußerungen, Rückgang der Minderheitenpresse, Slowakisierung/Serbisierung der ungarischen Name usw.
@Zachor!, erstmal vielen Dank und gleich anschließend noch eine Detailfrage: Die Zurückdrängung der Ungarn aus öffentlichen Leitungspositionen, wie geschah das? Inwieweit wurden sie "verdrängt" oder "verzichteten" die Angehörigen der Minderheiten auf diese Positionen, vielleicht weil sie als Minderheiten evtl. eher unter einem 'Vergrößerungsglas' lebten oder ihre Bestrebungen, den Interessen ihrer Ethnie zu dienen illusorisch waren?
Die Zurückdrängung aus der öffentlichen Verwaltung lässt sich etwa nachverfolgen, wenn man die Zahlen von 1952 den Zahlen von 1982 gegenüberstellt: Während die ersteren dem prozentualen Anteil der Minderheit an der Gesamtbevölkerung entsprachen (oder gar überstieg - die Gründe hierfür wie auch die Konsequenzen sind sehr interessant), war dieser Anteil in den 1980ern bei weitem unterschritten. Faktisch und praktisch geschah die Zurückdrängung, indem man die Minderheitenangehörigen nicht beförderte, ihnen Mehrheitsangehörige aus anderen Landesteilen davor setzte usw. Ich kenne mich nicht aus, aber ich kann es mir kaum vorstellen, dass man selbst auf Beförderungen etc. freiwillig verzichtete.
@Zachor! Ich meinte folgendes: Ich denke, man sollte vielleicht die Zahlen der Zurückgedrängten in Relation setzen zu den Zahlen der Parteimitglieder. Ich denke, dass z.B. der Druck der eigenen Gemeinschaft, die Hemmschwelle für Minderheitenangehörige in die Partei einzutreten (ein sicherlich ausschlaggebendes Puzzleteilchen für die Karriere) sehr groß werden ließ. Ich bin aber gar nicht sicher, ob dies auch für die ungarische Minderheit gilt...
Da bin ich auch überfragt... :-D
Keine Ahnung...