In Dresden demonstrieren jede Woche zehntausende Menschen gegen die Demokratie, die westlichen Werte, die Aufklärung, die Solidarität. Wir sind das Volk! Das Einzige! Das einzig Wahre! Zehntausend sind es im Schnitt. Aber Dreiundachtzigtausend wählten bei der letzten Landtagswahl die NPD. Waren die NPD-Wähler die besorgten Bürger? Besorgniserregend, ja.
Lumpenproletariat, schreibt Heinz Bude, Problembürger nennt sie Norbert Frei, die bellenden Völkischen meint Herfried Münkler.
Überall ein Quäntchen Wahrheit. Und doch bleibt ein blinder Fleck. Hinter alldem zeigen sich nämlich auch neue Formen einer lebensweltlichen Prekarisierung. Einer biopolitischen Prekarisierung, die bei den einen in die freiheitliche Selbstprekarisierung führte und bei den anderen in den sich gegen Fremde richtenden Selbsthass.
Diffus. Ein Wort das oft fällt dieser Tage: diffuse Ängste, diffuse Theorien, diffuse Meinungen. Nein, es ist die diffuse Form einer Prekarisierung die sich verselbstständigt hat, die den Regierenden zunehmend aus der Hand gleitet und die Regierten in die politische Unkultur führt. Die Kommunikation ist gescheitert. Die Politik ist gescheitert. Ebenenübergreifend. Aus dem Rettet was zu retten ist wird das bitterböse Rettet das Abendland. Das Gute, das unsere.
Die Sozialpsychologie staunt über die neue Kraft, die Kraft der Gemeinschaft, die Kraft der Gemeinschaft der vermeintlich Kraftlosen. Sie rotten sich zusammen, sie grölen, sie zerstören, sie fordern, sie jaulen. Sie scheren sich nicht um Geschichte, um Erinnerung, um Humanität, um Menschenwürde; nein, was zählt ist ihre Würde, die Würde ihrer völkischen Schicksalsgemeinschaft. Nein, Nazis sind sie nicht, sie sind besorgt, besorgt um sich selbst. Sagen sie. Sie wurden zur Besorgnis prekarisiert und individualisiert. Es sind die Geister, die der Neoliberalismus rief.
Deutlich lässt sich dies erkennen, wenn man gen Osten blickt. In Ostdeutschland wird gegen Flüchtlinge demonstriert, die aber trotzdem kommen und untergebracht werden. Ostdeutschland entging der neoliberalen Landnahme nicht, aber es wurde nicht so hart getroffen wie die übrigen osteuropäischen Staaten. Philipp Ther führt uns das vor Augen in seiner Geschichte des neoliberalen Europa. Und siehe da: Dort wird nicht demonstriert, dort wird verweigert, kategorisch verweigert. In Osteuropa reiften die bitteren Früchte des Neoliberalismus in all ihrer Pracht – und besonders prachtvoll die neoliberale Prekarisierung. Hier sind sie, die Prekarisierten, die in Polen jetzt rechts wählen, die Kirchen, die die Nächstenliebe fast vergessen haben, und erst recht niemanden in ihre Nähe lassen. Das meine gehört mir. So wurde es mir beigebracht nach 1990. Was hatte ich zu leiden, die Jahre davor, was leide ich noch heute. Was? Andere leiden auch? Dann lasst uns zusammen leiden, aber doch getrennt; zusammen im Leid, getrennt im Raum. Wir können nicht, die anderen sollen: wir sind prekär.
Ja, so sollten sie doch sein. Die Prekären sollten doch steuerbar sein, einfach zu leiten. Man wollte es doch austarieren, testen wie weit es geht, das Minimum. Und nun? Ist es aus. Nun rückt sie vor, die Gefahr. Angst, Abschiebung, Abschottung heißt die neue Troika.
Die politische Kultur der Gefahr wird ausgetestet. Wie weit wird sie gehen? Was wird sie verändern? Wie wird man sie wieder los?
Kommentare 6
Von "Postdemokratie" spricht Bruno Jonas und meint die Gegenwart. Ja, Demokratie hat seine Leuchtkraft verloren, das zeigen die durchgängig niedrigen Wahlbeteiligungen. Das Volk, das Wahlvolk, der sogenannte "Souverän" hat Zweifel, zu recht. In die Neuen Bundesländern z.B. kam sie, `89, die Pax Helmutia, die Vision, die Wunschprojektion der "Blühenden Landschaft" per `99. Blühen tut der Neoliberalismus, nicht die Landschaft, dort. Das ist bitter. Und dahin, in diese Landschaft bringt die Demokratie nicht die Blüte, nein, die Flüchtlinge. Das kann nicht ohne entsprechendes feedback bleiben. Nicht mit uns...schon wieder. Warum, bitte, demonstrieren die 10.000 ff nicht einfach mal in Oggersheim? Bevor es zu spät ist.
Hallo Garbo.
„Die Sozialpsychologie staunt über die neue Kraft, die Kraft der Gemeinschaft, die Kraft der Gemeinschaft der vermeintlich Kraftlosen.“
Das kann ich mir nicht vorstellen, denn es ist das ureigenste Gebiet der Sozialpsychologie und wer nur irgendwas von seinem Fach verstanden hat, wird gewiss nicht darüber staunen, dass die Gemeinschaft über beträchtliche Kraft verfügt. Diese Kraft geht manchmal etwas merkwürdige Wege, aber auch die sind im Grunde bestens untersucht, es ist nur so, dass etwas zu wissen nicht gleichbedeutend damit ist, es verändern oder steuern zu können.
Was sie beschreiben, sind Regressionseffekte, wie sie in etwas popularisierter Form hier beschrieben werden
„Es sind die Geister, die der Neoliberalismus rief.“
Also doch.
Ist der Neoliberalismus, der böse, nicht der anonyme Hauklotz in jedem zweiten Artikel?
Ich wartete auf den fast (un)möglichen Zusammenhang.
„Wir können nicht, die anderen sollen: wir sind prekär.“
Meine Beobachtung ist, dass es vielleicht weniger das Prekariat, also die Unterschicht ist, die auf die Straße geht, denn die ist in einigen Teilen tatsächlich so abgehängt und unpolitisch, dass sie gar nicht auf die Straße geht. Auch Vorländers Analyse in der FAZ kommt ja zu dem Schluss, dass es (wenigstens zu Beginn) nicht das abgehängte Prekariat war, was spazieren ging, sondern die (im statistischen Vergleich) Bessergestellten und Gebildeten, also Anhänger der Mittelschicht.
Die haben Angst bald zum Prekariat zu gehören, da heute eben nicht einmal mehr eine akademische Ausbildung samt Anstellung ein Garant dafür ist die Latte der monetären Kriterien die die Unterschicht von der Mittelschicht trennt, nicht zu reißen. Die Mittelschicht hat Panik und solidarisiert sich gerade nicht mit denen da unten, sondern blendet deren Existenz als Leute, die vielleicht nur zufällig unter die Räder kamen, aus.
Entweder sind die irgendwie selbst schuld (ohne dass man genauer hinschauen würde), oder eine Bedrohung für das, was es zu verteidigen gilt, oder es kommt zu so skurrilen Verhaltensweisen, dass Menschen weiterhin so tun als ob sie arbeiten gehen, nur um nicht den Eindruck zu erwecken, sie seien arbeitslos. Denn Arbeit zu haben – egal welche und zu fragen, ob die Arbeit Spaß macht, erfüllt, ist ja eher was für Esoteriker, nicht für rationale Menschen, wie wir alle wissen – ist eine Auszeichnung an sich, dann bin ich schon mal wer, kein Asi.
Das mag man meinetwegen als neoliberalen Irrweg abhandeln, geschenkt, aber ansonsten wäre doch zu fragen, ob die einzige Kritieren die gelten um in die Mittelschicht zu kommen tatsächlich monetären Art sein müssen. Bin ich denn niemand, wenn ich Abi habe, gebildet bin oder einfach nur ein netter Mensch?
Wer zwingt uns denn Leute scheiße zu finden, die nett aber arm sind?
Ist das nach den Gesetzen der Physik nicht anders möglich?
Ja, da sagen Sie was Richtiges, mit der Selbstprekarisierung.
Warum müssen wir uns den Schuh den anziehen, nur weil er da steht? Man kann den auch stehen lassen, aber dann müsste man selbst aktiv werden. Also nicht auf die Straße gehen – meinetwegen auch das – sondern im Leben auswählen. Nicht zwischen diesen und jenen Produkten, sondern zwischen diesen und jenen Zuschreibungen, Normen und Werten.
Und wer fragt, ob man das den kann, dem sei geantwortet: Ja!
Der Neoliberalismus, man mag ihn finden, wie man will, muss doch nicht zum allüberragenden Dämon aufgeblasen werden, gegen den man dann völlig machtlos ist. Wer sich dieses Märchen immer wieder erzählt und unwidersprochen erzählen lässt, verkennt, dass wir es sind, die unsere Werte und Normen diskutieren und ändern können.
"Aufklärung hat was mit der Emanzipation von Religion zu tun, selbst da ist Pegida vermutlich näher dran, als der aktuelle linksliberale Islam-Kuschelkurs."
Nee. Das ist so pauschal nicht richtig. Aufklärung ist die Aufforderung zum Selberdenken. Hier das Original.
„Ja und in der Praxis wurde sie deshalb zum Erfolg, weil die Macht der Kirchen zurückgedrängt wurde.“
Klar, weil die Kirchen die damaligen Machthaber waren. Aber es geht ja um mehr, die Emanzipation der Frauen, und so weiter.
Nur ist der antiklerikale Gesang heute selbst ein inszeniertes Geschäftsmodell, der ganzen Bewegungen eine gefühlte Wichtigkeit verleiht. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat das als
„Sommerlochoffensive der Gottlosen von 2007“ bezeichnet, „der wir zwei der oberflächlichsten Pamphlete der jüngeren Geistesgeschichte verdanken; gezeichnet Christopher Hitchens und Richard Dawklins.“ (in Peter Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern!, Suhrkamp, 2009, S.9)
Kant ist zwar bekanntermaßen viel spazieren gegangen, aber ob er in Dresden zu den Mitgehern zählen würde und sich von Lutz die Welt erklären lassen würde, ich melde Zweifel an.
„Dazu führt Selberdenken ja, ähm, bei manchen Menschen zumindest. Offenbar bei ausreichend vielen.“
Die andere Deutung ist dann eben, dass die einen Glaubenssätze gegen die anderen ausgetauscht wurden. Denkbar?
„Von vielen wird die Aufklärung deshalb auch als Säkularisierungsbewegung verstanden.“
Klar, Herden findet man überall. ;-)
Habe Mut mitzulaufen, steht da nicht, sondern „dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Kant)
„Wie auch immer: Pegida vorzuwerfen die wären antiaufklärerisch ist mindestens eine zweifelhafte Unterstellung.“
Und der Zweifel liegt der Aufklärung ja bekanntlich fern…
***** Top. 👍
Angst , das Zauberwort.
Wenn die Einen Angst haben sind die anderen anscheinend angstfrei.Wenn es so einfach wäre.
Ich glaube auch die Gutmenschen haben mulmige gefühle vor so viel multikulti in ihrer Nachbarschaft. Unterschiedlich ist nur die Art und weise wie ich mit meinen Ängsten umgehe.
Aber in der Propagandaschlacht möchten die selbsternanten Retter der Humanität und Solidarität auf die Keule ANGST nicht verzichten.
In unseren europaischen Nachbarländern die mit enormen ökonomischen Problemen zu kämpfen haben herrscht nicht Angst vor Flüchtlingen sonder schlicht Wut vor einem neuen Deutschen Diktat. Dem Diktat der Verteilung von Migranten.
Wann lese ich in deutschen Leitmedien das deutsche Gutmenschen sich aus Solidarität dagegen aussprechen ,Migranten im europäischen Ausland zu verteilen.
Unsere herrschende Klasse hat die Migranten eingeladen, dann sollen wir sie auch beherbergen.