Über die politische Kultur der Gefahr

Prekäre Zeiten Angst, Abschiebung, Abschottung heißt eine neue europäische Troika. Erste Überlegungen zu einem (un)möglichen Zusammenhang

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Besorgt und ängstlich oder einfach gefährlich? Bürgerinnen und Bürger auf einer Pegida-Kundgebung in Dresden
Besorgt und ängstlich oder einfach gefährlich? Bürgerinnen und Bürger auf einer Pegida-Kundgebung in Dresden

Foto: ROBERT MICHAEL/AFP/Getty Images

In Dresden demonstrieren jede Woche zehntausende Menschen gegen die Demokratie, die westlichen Werte, die Aufklärung, die Solidarität. Wir sind das Volk! Das Einzige! Das einzig Wahre! Zehntausend sind es im Schnitt. Aber Dreiundachtzigtausend wählten bei der letzten Landtagswahl die NPD. Waren die NPD-Wähler die besorgten Bürger? Besorgniserregend, ja.

Lumpenproletariat, schreibt Heinz Bude, Problembürger nennt sie Norbert Frei, die bellenden Völkischen meint Herfried Münkler.

Überall ein Quäntchen Wahrheit. Und doch bleibt ein blinder Fleck. Hinter alldem zeigen sich nämlich auch neue Formen einer lebensweltlichen Prekarisierung. Einer biopolitischen Prekarisierung, die bei den einen in die freiheitliche Selbstprekarisierung führte und bei den anderen in den sich gegen Fremde richtenden Selbsthass.

Diffus. Ein Wort das oft fällt dieser Tage: diffuse Ängste, diffuse Theorien, diffuse Meinungen. Nein, es ist die diffuse Form einer Prekarisierung die sich verselbstständigt hat, die den Regierenden zunehmend aus der Hand gleitet und die Regierten in die politische Unkultur führt. Die Kommunikation ist gescheitert. Die Politik ist gescheitert. Ebenenübergreifend. Aus dem Rettet was zu retten ist wird das bitterböse Rettet das Abendland. Das Gute, das unsere.

Die Sozialpsychologie staunt über die neue Kraft, die Kraft der Gemeinschaft, die Kraft der Gemeinschaft der vermeintlich Kraftlosen. Sie rotten sich zusammen, sie grölen, sie zerstören, sie fordern, sie jaulen. Sie scheren sich nicht um Geschichte, um Erinnerung, um Humanität, um Menschenwürde; nein, was zählt ist ihre Würde, die Würde ihrer völkischen Schicksalsgemeinschaft. Nein, Nazis sind sie nicht, sie sind besorgt, besorgt um sich selbst. Sagen sie. Sie wurden zur Besorgnis prekarisiert und individualisiert. Es sind die Geister, die der Neoliberalismus rief.

Deutlich lässt sich dies erkennen, wenn man gen Osten blickt. In Ostdeutschland wird gegen Flüchtlinge demonstriert, die aber trotzdem kommen und untergebracht werden. Ostdeutschland entging der neoliberalen Landnahme nicht, aber es wurde nicht so hart getroffen wie die übrigen osteuropäischen Staaten. Philipp Ther führt uns das vor Augen in seiner Geschichte des neoliberalen Europa. Und siehe da: Dort wird nicht demonstriert, dort wird verweigert, kategorisch verweigert. In Osteuropa reiften die bitteren Früchte des Neoliberalismus in all ihrer Pracht – und besonders prachtvoll die neoliberale Prekarisierung. Hier sind sie, die Prekarisierten, die in Polen jetzt rechts wählen, die Kirchen, die die Nächstenliebe fast vergessen haben, und erst recht niemanden in ihre Nähe lassen. Das meine gehört mir. So wurde es mir beigebracht nach 1990. Was hatte ich zu leiden, die Jahre davor, was leide ich noch heute. Was? Andere leiden auch? Dann lasst uns zusammen leiden, aber doch getrennt; zusammen im Leid, getrennt im Raum. Wir können nicht, die anderen sollen: wir sind prekär.

Ja, so sollten sie doch sein. Die Prekären sollten doch steuerbar sein, einfach zu leiten. Man wollte es doch austarieren, testen wie weit es geht, das Minimum. Und nun? Ist es aus. Nun rückt sie vor, die Gefahr. Angst, Abschiebung, Abschottung heißt die neue Troika.

Die politische Kultur der Gefahr wird ausgetestet. Wie weit wird sie gehen? Was wird sie verändern? Wie wird man sie wieder los?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Garbo

»Die Zeit der Kunst ist eine andere Zeit als die der Politik. Das berührt sich nur manchmal, und wenn man Glück hat, entstehen Funken«

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