Tempus edax rerum

Politische Obsoleszenz ...

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"Vergänglichkeit! Wort, das Gott-Welt enthüllt!
Wer dürfte dauern, den ein Ziel erfüllt?"

(Christian Morgenstern)

Vergänglichkeit ist ein Ergebnis von Tatenabfolgen, das durch die allgemeine Entwicklung ausnahmslos eintritt. Kein Ding, keine Sache, steht für sich allein in der Welt. Kein Ding und keine Angelegenheit kann in sich bestehenbleiben, wenn irgendwo eine Veränderung vorgenommen wird.

Die Planeten verändern ihre Stellung und Bahnen in jedem Augenblick, ebenso die Tierkreiszeichen. Damit soll charakterisiert sein, daß es Veränderlichkeit immer ist. Es ist dies ein unabänderliches Geschehen. Ich will in diesem Sinn hier deshalb dafür den Begriff natürliche Obsoleszenz setzen.

„Tempus edax rerum“, wußte Ovid schon zu formulieren.

Zeit ist das unbewußte Wahrnehmen der Mannigfaltigkeit von Taten auf dem Plan einer Dimension, der Taten selbst nicht angehören. Es verhalten sich die Taten zum Wahrnehmen des Zeiteindrucks, wie der unbewußt spontane, perspektivische Tiefeneindruck auf einem zweidimensionalen Gemälde. Hier ist die Tiefe nicht gegeben, und dort nicht die Zeit.

Inzwischen kennen wir technische Obsoleszenz als eine Methode innerhalb der Produktion von Produkten, diese so auszurüsten, daß sie nur eine begrenzte Zeit ihre Gebrauchseigenschaften behalten und danach möglichst im Wesentlichen so geschädigt sind, daß sie unbrauchbar sind.

Was mir innerhalb der Politik auffällt, ist ganz ähnlich. Regelungen, Satzungen, Gesetze, die von vornherein genau so konstruiert sind, daß sie binnen kürzester Zeit untauglich sind und Ersatz brauchen. Seit einigen Jahrzehnten ist dafür der Begriff „Reformen“ in Mode.

Kann es sein, daß politisch Obsoleszenz eine ebensolche absichtsvolle Methode ist, die Politikern ihre Pfründe sichern, so, wie dem Kapitalisten die Einnahmen aus obsoleszenten Produkten?

Kann es sein, daß Absehbarkeiten, simple noch dazu, von seiten der Politik über Verklausulierungen camoufliert werde, und dann verkauft werden als unerwartbare Ereignisse? Ist Politik wirklich ein so diffiziles, schwieriges Geschäft, welches derart kompliziert ist, daß keine Ursachen-Wirkungs-Geschehnisse vorhersehbar sind? Dann, wenn das so ist, könnte man ja getrost auf sie vollends verzichten. Was soll Politik denn dann bringen, was sie auszeichnen, was nicht auch Anarchismus ebenso zu erschaffen in der Lage wäre?

Das Böse ist zeitversetztes, d.h. vorzeitig zur Tatsachenwirkung gewordenes Gutes.[1]

Wir sind Zeitzeugen davon, wie im sozialen, im politischen Leben, sich exponentiell Entwicklungen vollziehen, die sich kulturell nicht mehr etablieren (können) als Grundlagen zur Befähigung gemeinsam getragener Urteilsbildungen für die Ausgestaltung des sozialen Verkehr zueinander, was die Sitte ist.

Durch Beschleunigungen des menschlichen Verkehrs untereinander, durch politische Obsoleszenz , durch nicht nachhaltig eintretende Konsolidierungen, - das, was früher in Traditionen und Konventionen sich als kultureller Bestand kollektiver Sitte ausgelebt hat und was als solche, entgegen vielfacher irriger, weil eben voreiliger Auffassungen, auch niemals etwas auf Ewigkeit beharrlich Festgeschriebenes war, sich vielmehr in Art von konzertierender Interferenzen wandelnd fortentwickelt hat -, kommt es zu unausgereiften und in Folge zu chaotischen Verhältnissen innerhalb des sozialen Lebens.

Gewisse Gruppeninteressen, die sich global betätigen, wissen darum, wie Urteilsbildungsbefähigungen in stetem indifferentem Gleichgewicht zu halten sind. Sie betätigen sich mit ihren Geschäftigkeiten als vorgeblich progressive Verbesserer; was sie tatsächlich schaffen ist, ein beständiges Durcheinanderschmeißen von etwas als gültig setzen und dessen sofortiger Aufhebung, so daß keine Konsolidierung entstehen kann. Sie betreiben als Geschäft insbesondere auch das Ausspielen von Kulturen und Traditionen als letztlich Mensch gegen Mensch.

Das was sich einmal konsolidiert, in Tradition als sittlicher Wertekanon etabliert ausgesprochen hat, erfährt seinem genuinen Beharrungsimpuls nach, welcher nur der natürlichen Obsoleszenz unterliegt (s.o.), nun über allerlei Kompensationen in schnellen Befriedigungsmöglichkeiten durch den Materialismus, durch Dinglichkeiten und ihre utilitären Funktionen, kulturelle Surrogate groteskester Art. (Es sind dies allesamt ja Mannigfaltigkeiten von Taten, wie die mannigfaltigen, perspektivischen Linien auf einem Gemälde.) Es kann hier jedoch nicht von neuer Sitte gesprochen werden, es sei denn, man will nihilistischer Relativierung Sittlichkeit zusprechen, was ein Paradox ist.

Komplikationen sind Zusammenfügungen von Mannigfaltigkeiten.

Sie sind nicht per se Erschwernisse, Verschlimmerung oder unvorhergesehene Schwierigkeiten.

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[1] Ein charakterisierendes Gleichnis dazu:

Ein Wissenschaftler beobachtete einen Schmetterling und sah, wie sehr sich dieser abmühte, durch das enge Loch aus dem Kokon zu schlüpfen. Stundenlang kämpfte der Schmetterling, um sich daraus zu befreien. Da bekam der Wissenschaftler Mitleid mit dem Schmetterling, nahm sein Taschenmesser und weitete vorsichtig das Loch im Kokon damit sich der Schmetterling leichter befreien konnte. Der Schmetterling entschlüpfte dadurch sehr schnell und sehr leicht. Doch was der Mann dann sah, erschreckte ihn doch sehr: Der Schmetterling der da entschlüpfte, war verkrüppelt. - Die Flügel waren ganz kurz und er konnte nur flattern aber nicht richtig fliegen.

Da ging der Wissenschaftler zu einem Freund, einem Biologen, und fragte diesen: "Warum sind die Flügel so kurz und warum kann dieser Schmetterling nicht richtig fliegen?"

Der Biologe fragte ihn, was er denn gemacht hätte.

Da erzählte der Wissenschaftler daß er dem Schmetterling geholfen hatte, leichter aus dem Kokon zu schlüpfen.

"Das war das Schlimmste was du tun konntest. Denn durch die enge Öffnung, ist der Schmetterling gezwungen, sich hindurchzuquetschen. Erst dadurch werden seine Flügel aus dem Körper herausgequetscht und wenn er dann ganz ausgeschlüpft ist, kann er fliegen. Weil du ihm geholfen hast und den Schmerz ersparen wolltest, hast du ihm zwar kurzfristig geholfen, aber langfristig zum Krüppel gemacht." (Unbekannt)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

GEBE

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit sich der Mensch, der sich überwindet.

GEBE

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