spät abends

Neulich Von Alten und modernen Senilen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Es war halb Elf, ich saß auf dem Sofa mit einem Buch, tief versunken in eines anderen Menschen Gedankengänge. Da klopft es laut an der Wand. Pack, pack pack, und wieder pack pack pack. Nun, das Haus in dem ich wohne ist recht hellhörig, vieles überträgt sich über die Wände. Hier und da auch mal lautes Stöhnen, welches nach Jahren, gewohnt mit diesen Übertragungen zu leben, dem OG links oder dem EG rechts zuzuordnen ein Leichtes geworden ist. Für die Mitmieterin, Frau C., gilt das insbesondere, wenn Sie in hohem Diskant, zweigestrichen vorwurfsvoll, ihrem Gatten mal wieder ein paar Verse singt. Das ist immer OG, rechts. Die Schlagbohrmaschine, stets freitags, pünktlich zwischen 18 bis 19 Uhr, ist immer EG rechts. Diese Wohnung muß über die Jahre hinweg regelrecht wie durchgepierced sein.

Und dann wieder dieses pack, pack, pack, direkt so, als käme es von den neuen, erst ein Jahr hier wohnenden Nachbarn, die Wand an Wand mit mir wohnen. Immer in kürzeren Abständen, immer anhaltender und tatsächlich so nah und da, als schlüge ich mit einem Hammer auf meinen Tisch.

Nee, Leutchen, es ist gleich Elf. Hose an, Pullover über mein Nachtgewandt, mit Fingerkamm noch kurz durch die Haare und bei den Nachbarn geklingelt. Die Tür geht einen Spalt auf, die junge Nachbarin steht im Spalt.

„Guten Abend, Sie wissen, daß die Wände hier im Haus sehr hellhörig sind?“ So als kleiner Anstoß und Appell gesagt zur Anregung der Selbsterkenntnis. (Wer mich kennt weiß, daß ich einige Stücke auf Sokrates halte.)

„ Wir Tapezieren“, sagt Sie. „Oh, dann muß ich mich entschuldigen, sie so spät dabei noch gestört zu haben. Ich hatte gedacht, sie hätten gehämmert.“ Sie guckt mich siegessicher an, obwohl Sie genau weiß … (Blöde Kuh, tu nicht so, denke ich) „Wissen Sie“, sage ich, „so alte Leute wie ich, nicht wahr, die werden auf ihre alten Tage ja schrullig, sagt man, und andererseits sind sie nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit. Ich hatte wirklich gedacht, sie hätten gehämmert; aber wahrscheinlich benutzen sie die neuen, ganz modernen Tapetensysteme. Die kommen aus Amerika, nicht wahr? Zu meiner Zeit, da hat man Tapeten noch ganz primitiv mit Kleister geklebt. Ich hab neulich gelesen, jetzt fällt es mir wieder ein, daß die ganz modernen Tapeten jetzt auf Stoß genagelt werden; also da muß ich mich jetzt wirklich nochmals entschuldigen, so spät gestört zu haben.“

Inzwischen war ihr Mann an den Türspalt hinter sie getreten und stierte mich mit offen stehendem Mund und wie irgendwie begriffsstutzig mit weit aufgerissenen Augen an. Es ist jene Art offen stehender Mund, den ansonsten nur Menschen mit einem gewissen Hau und viele alte Männer als Dauerzustand im Gesicht tragen, als könnten Sie damit besser sehen und hören.

"Wir feiern morgen aber doch einen Geburtstag. Wollen sie etwa, daß wir jetzt aufhören sollen?", fragt die junge Nachbarin. „Mit dem Hämmern nicht, aber bitte mit dem Tapezieren“, sage ich und wünschte noch einen angenehmen Abend. Dann haben die wohl tatsächlich nur noch gehämmert und nicht mehr tapeziert. Jedenfalls war dann Ruhe.

Heute bin ich den beiden im Treppenhaus begegnet. Ich von unten kommend, sie von oben. Sie voran, er dahinter. „Grüß Gott!“, grüßte ich. Er mit gleichem Gesichtsausdruck wie neulich, als könne er mit offenem Mund tatsächlich besser sehen. Sie, als Sie mich sah, den Kopf gestreckt, die Nase nach oben und Richtung Wand. Bevor ich noch denken konnte, „Aha?“ - war es schon passiert. Anscheinend lassen sich Treppenstufen doch nicht zugleich mit hohen Hacken und gezickter Haltung sicher beschreiten. Aber wahrscheinlich war nur ich dran schuld.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

GEBE

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit sich der Mensch, der sich überwindet.

GEBE

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden