1. September 1969: Libysche Revolution

1969: Libyen/Weltlage . 50. Jahrestag der libyschen 69-Revolution unter Muammar al-Gaddafi: Die Welt in den 60er Jahren: Das Ende der Kolonialzeit

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Nach dem Zweiten Weltkrieg spaltete der Kalte Krieg die Welt in eine westliche und eine östliche Einflusssphäre. Während die politischen Eliten im Westen im Wesentlichen dazu neigten, die alten politischen Systeme an der Macht zu halten, unterstützte der Osten vielerorts die Unabhängigkeitsbestrebungen in der Dritten Welt. Die souverän gewordenen neuen Staaten strebten in der Regel trotz eines sozialistischen Anspruchs einen eigenen politischen Weg zwischen den Blöcken an. Durch die gnadenlose Ablehnung jeder sozialistischen Idee durch die USA und ihrer Abhängigkeit von Handelsmöglichkeiten und Aufbaukrediten wurden sie häufig in das Lager des Ostblocks getrieben.

Der Westen

Die westliche Jugend sympathisierte in diesen Zeiten des Umbruchs und des Aufbruchs mit den Freiheitsbewegungen in aller Welt. Sie unterstützte mit Ho-Chi-Minh-Rufen den Kampf Nordvietnams gegen die USA, die Mao-Bibel war ebenso wie Karl Marx‘ „Kapital“ Pflichtlektüre in studentischen Lesezirkeln. In den Hauptstädten Europas, von Paris und Berlin bis Rom, demonstrierte die 68er-Generation sowohl gegen den Schah in Persien als auch gegen den faschistischen Diktator Franco in Spanien, der die Todesstrafe noch bis 1974 mittels der Garrotte, das heißt durch langsames Erdrosseln mittels einer metallenen, um den Hals gelegten Würgeschraube, ausführen ließ. In Italien war die Kommunistische Partei knapp davor, die Regierung zu übernehmen. Der Generaldirektor des italienischen Energieunternehmens ENI, Enrico Mattei, erklärte das amerikanische Erdölmonopol für beendet, finanzierte algerische Unabhängigkeitskämpfer und machte die Unabhängigkeit Algeriens zur Voraussetzung für eine Übereinkunft mit anderen Ölkonzernen. 1962 brachte eine Bombe Matteis Flugzeug zum Absturz, Mattei fand den Tod. In Griechenland wurde gegen die Junta gekämpft, die sich 1967 an die Macht geputscht hatte.

In Deutschland hatte sich ein Proteststurm erhoben gegen die Väter-Generation des Nationalsozialismus und frisch etablierte Alt-Nazis in politischen Ämtern, sowie gegen die verabschiedeten Notstandsgesetze, mit deren Einführung die bürgerlichen und politischen Freiheiten im Notfall außer Kraft gesetzt werden können. Als Rudi Dutschke in Berlin bei einer Demonstration gegen den Springer-Verlag erschossen wurde, eskalierte die Situation immer mehr, Straßenkämpfe folgten. Die Jugend marschierte für Sozialismus und eine gerechtere Welt.

In den USA richtete sich der Protest vor allem gegen den Vietnamkrieg und die Gräueltaten der amerikanischen Armee, die mit Napalmbomben vietnamesische Dörfer ausradierte und mit dem hochgiftigen Entlaubungsmittel Agent Orange eine Chemiewaffe einsetzte, an deren Spätfolgen noch heute in dritter Generation die Menschen leiden. Die Bilder brennender vietnamesischer Frauen und Kinder schockten auf den Titelseiten der Nachrichtenmagazine. John Lennon und Yoko Ono hielten mit „Give Peace a Chance“ dagegen. Die Black Panther kämpften mit Malcolm X und Angela Davis unter dem Motto „Black is beautiful“ gegen Rassendiskriminierung, Martin Luther King hielt seine aufrüttelnde Rede „I have a dream…“, bevor er 1968 erschossen wurde. Die gesamte westliche Jugend rebellierte gegen das politische Establishment, gegen verkrustete Macht- und Staatsstrukturen, gegen Imperialismus, Rassismus und Krieg.

Kuba

Die kubanische Revolution des Jahres 1959 unter der Führung von Fidel und Raúl Castro, Camilo Cienfuegos und dem Argentinier Ernesto Che Guevara stürzten den kubanischen Diktator Batista und errichteten 1961 mit der Deklaration von Havanna 1961 auf der Karibikinsel einen sozialistischen Staat. Che Guevara setzte den Guerillakampf anschließend zuerst im Kongo, dann in Bolivien fort.

Asien

Auf dem asiatischen Kontinent hatte Gandhi den Kampf gegen die koloniale Ausbeutung durch Großbritannien mittels gewaltfreiem Widerstand und zivilem Ungehorsam gewonnen. Bereits 1947 war den Briten klargeworden, dass Indien nicht zu halten war. Das Land wurde von der britischen Regierung gegen den strikten Widerstand Gandhis in zwei Teile aufgespalten, die beiden neuen Staaten Indien und Pakistan in die Unabhängigkeit entlassen. Gandhi hatte in seiner südafrikanischen Zeit auch Nelson Mandela stark beeinflusst.

Afrika

Auf dem afrikanischen Kontinent kämpften die Befreiungsbewegungen erbittert gegen die weißen Kolonialherren. Die britische Kronkolonie Goldküste wurde 1957 als eines der ersten afrikanischen Länder unter dem Namen Ghana unabhängig. Unter der Führung des charismatischen Kwame Nkrumah hatte die Bevölkerung die Unabhängigkeit gefordert. Kwame Nkrumah, der erste Präsident des Landes, wurde 1966 während einer Auslandsreise mit westlicher Hilfe durch einen Militärputsch gestürzt. Obervolta, das spätere Burkina Faso, konnte im sogenannten „Afrikanischen Jahr“ 1960 seine Unabhängigkeit ausrufen; Maurice Yaméogo war der erste Präsident des Landes. In Kenia erhob sich die Bevölkerung ab Anfang der fünfziger Jahre gegen die britische Kolonialherrschaft; die Unabhängigkeitsbewegung fand im blutigen Mau-Mau-Aufstand ihren Höhepunkt. Ihr Anführer Jomo Kenyatta wurde nach der Unabhängigkeit 1963 der erste Präsident der Republik Kenia. Tansania erlangte 1961 seine Unabhängigkeit von Großbritannien, Julius Nyerere war sein erster Staatspräsident. Nyerere und seine Partei der Revolution strebten nach einem sozialistischen Staat afrikanischer Prägung. Im Kongo wurde der Führer der Unabhängigkeitsbewegung Patrice Lumumba 1959 eingekerkert und gefoltert. Als im Juni 1960 der Kongo von Belgien in die Unabhängigkeit entlassen werden musste, wurde Lumumba der erste Ministerpräsident des Landes. Als Sozialist wollte er die großen Bergbaugesellschaften verstaatlichen lassen. Daraufhin putschte im September 1960 die Armee mit Hilfe der USA. Lumumba wurde ermordet. In Südafrika war ab 1944 der African National Congress (ANC) gegen die menschenverachtende Apartheidpolitik aktiv geworden. Nelson Mandela musste aufgrund seines Engagements im ANC die Zeit von 1963 bis 1990 als politischer Gefangener in Haft verbringen. In Mosambik erklärten 1966 die Rebellen von ZANU und ZAPU einen Guerillakampf gegen die „weißen“ Machtstrukturen. Portugal führte jahrelang mit aller Härte einen blutigen Kolonialkrieg in Angola, Mosambik und Guinea Bissau. Als klar war, dass diese Kriege militärisch nicht zu gewinnen waren, putschten 1974 die führenden portugiesischen Militärs. Die portugiesische Bevölkerung solidarisierte sich mit den Putschisten, die Volkserhebung führte zur Nelkenrevolution, in Portugal wurde das diktatorische Regime hinweggefegt, die Kolonien erhielten ihre Unabhängigkeit. Die Jahre 1951 bis 1962 können als das ‚Afrikanische Jahrzehnt‘ beschrieben werden, in dem 29 Staaten unabhängig werden: 1951 Libyen, 1956 Sudan, Marokko, Tunesien, 1957 Ghana, 1958 Guinea, 1960 Kamerun, Togo, Madagaskar, Demokratische Republik Kongo, Somalia, Dahomey (heute Benin), Niger, Obervolta (heute Burkina Faso), Elfenbeinküste, Tschad, Zentralafrikanische Republik, Republik Kongo, Gabun, Senegal, Mali, Nigeria, Mauretanien, Sierra Leone, 1961 Tanganjika (heute Tansania), 1962 Algerien, Burundi, Ruanda, Uganda.[1]

Die arabischen Länder

Auch fast alle arabischen Länder waren in Aufruhr. Syrien, das unter dem Völkerbundmandat Frankreichs stand, wurde 1945 als Syrische Republik in die Unabhängigkeit entlassen. 1954 konnte dort die sozialistisch orientierte Baath-Partei (Baath: Wiedergeburt, Erneuerung) einen großen Wahlerfolg erzielen. In Ägypten wurde 1952 König Faruk durch die „Freien Offiziere“ gestürzt. Der führende Kopf der Revolution war der glühende Panarabist Oberst Gamal Abdel Nasser, der spätere ägyptische Minister- beziehungsweise Staatspräsident. 1956 wurden Marokko und Tunesien von Frankreich in die Unabhängigkeit entlassen; in Marokko übernahm Sultan Muhammed V. mit seiner Partei der Unabhängigkeit die Macht, in Tunesien Habib Bourguiba mit der Neuen Verfassungspartei. Im Irak wurde 1958 König Abdallah weggeputscht. 1962 putschte die Armee im Jemen gegen den Zaiditen-Herrscher al-Badr; der Ausrufung der Republik folgte ein achtjähriger Bürgerkrieg. In Algerien schwoll 1945 die Unabhängigkeitsbewegung an, als nach Unruhen zehntausende Algerier von der französischen Armee getötet worden waren. Die Nationale Befreiungsfront FLN ging als Sieger aus dem von 1954 bis 1962 dauernden und mit großer Brutalität geführten Algerienkrieg hervor. Algerien bezahlte seine Unabhängigkeit mit über einer Million Toten. 1961 war Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“ erschienen, der Klassiker zum Thema Kampf der gequälten Völker und Entrechteten gegen den Kolonialismus. Zu diesem kommunistischen Manifest der antikolonialen Revolution steuerte Jean-Paul Sartre ein bemerkenswertes Vorwort bei.

Weltrevolution lag in der Luft. Kein Wunder, dass die westlichen Eliten, in Sorge um ihre Pfründe und ihren Machteinfluss, in Panik verfielen. Der Kalte Krieg mit seinen vielen Stellvertreterkriegen schien sich immer weiter zugunsten des Ostens zu entwickeln.

Die libysche Revolution von 1969

Eingebettet in die damaligen weltpolitischen Geschehnisse war in Libyen die Zeit für einen Umsturz überreif. Wie in anderen Ländern beuteten die westlichen Industrienationen mit Hilfe einer korrupten Elite und dank einer ungebildeten, im Analphabetismus gehaltenen Bevölkerung das erdölreiche Land solange aus, bis dem die Revolution vom 1. September 1969 ein Ende setzte. Der Bund der Freien Unionistischen Offiziere unter Führung von Muammar al-Gaddafi stürzte den König und übernahm in Libyen die Macht. Einheit, Freiheit und Sozialismus sollten in Libyen an die Stelle der Monarchie und ihrer korrupten Machteliten treten. Der Reichtum des Landes sollte gerecht verteilt, in Bildung, Wohnungsbau, medizinische Versorgung und Ausbau der Infrastruktur investiert werden. Schon bald wurden die amerikanischen und britischen Militäreinrichtungen in Libyen geschlossen.

Man kann es als Ironie des Schicksals bezeichnen, dass der in Großbritannien ausgebildete Oberst Gaddafi zunächst vom Westen als „der richtige Mann am richtigen Ort“ gesehen wurde. Sowohl den USA als auch Großbritannien war klar, dass König Idris nicht mehr zu halten war. Sie meinten in Gaddafi den Mann gefunden zu haben, den sie lenken konnten und mit dem sich gute wirtschaftliche Beziehungen aufbauen ließen. So berichtet Richard Tomlinson, ein ehemaliger MI6-Agent, in seinem Buch „Das Zerwürfnis“: „“Der MI6 hat einen Vollzeit-„Talentspäher“ bei der Armee, mit Dienstsitz in der Königlichen Militärakademie Sandhurst... Ein zweiter Talentspäher mit dem Decknamen Packet hat ein Auge auf die ausländischen Kadetten und liefert dem MI6 Hinweise, welcher dieser Studenten zum nützlichen Informanten werden könnte. Berühmt ist ein Fall aus dem Jahr 1960: Der damalige Packet versuchte einen jungen libyschen Kadetten namens Muammar al Gaddafi anzuwerben.“

Dem libyschen Geheimdienst lagen schon seit Monaten Berichte über Spannungen in der Armee vor. Der König hatte abgewirtschaftet und selbst in reaktionären Offizierskreisen wurden heimlich Putschpläne diskutiert. Ein hoher Offizier trat sogar an Gaddafi heran, um ihn für die Ermordung des Kronprinzen Hassan el-Rida, den potentiellen Thronfolger von König Idris, und einen Putsch zu gewinnen.

Doch diesen Plänen kamen die „Freien Offiziere“ unter Muammar al-Gaddafi zuvor. Als sie Omar Schalhi, den Staatschef der Armee, am Tag der Revolution, dem 1. September, verhafteten, gab sich dieser in Verkennung der Situation entrüstet, da der reaktionäre Putsch erst für den 4. September geplant gewesen war.

Über die Bildung der Freien Offiziere schrieb Gaddafi: „Das erste Kommando-Komitee wurde gebildet, als wir noch Studenten der Oberschule in Sebha waren. Unsere Zahl wuchs und unsere Organisation verbreitete sich unter der Jugend. So könnte man ein Datum für den Plan und die Vorbereitung der Revolution angeben. Wir gehen zehn Jahre zurück – auf 1959…

Unsere Seelen waren im Aufstand gegen die Rückständigkeit, die unser Land umfing, dessen heute beste Güter und Reichtümer geplündert wurden – und gegen die Isolierung, die unserem Volk aufgezwungen wurde, um es vom Weg des arabischen Volkes fernzuhalten und seiner großen Aufgabe.“

Die Gruppe revolutionärer Schüler schrieb sich an der libyschen Militärakademie ein. Als sie nach dem Abschluss als junge Truppenoffiziere Dienst taten, starteten sie mit dem Aufbau einer Organisation, die sich Freie Offiziere nannte und eng den Idealen Nassers in Ägypten verbunden war.

Unter Nasser nahm Ägypten die führende politische Rolle in der arabischen Welt ein. Nasser hatte die Briten zum Abzug ihrer Truppen aus Ägypten gezwungen. Als er 1956 den Suezkanal verstaatlichte, wollten Frankreich und England mit Hilfe Israels militärisch intervenieren, wurden aber von den USA und der UdSSR gestoppt. 1958 schlossen sich im Sinne einer arabischen Nationen Ägypten und Syrien zur Vereinigten Arabischen Republik zusammen, die Syrien jedoch schon 1961 wieder verließ. Formal trat auch der Jemen bei, im jemenitischen Bürgerkrieg der Jahre 1962 bis 1969 unterstütze Nasser die Revolutionäre und deren Republik gegen den herrschenden Imam al-Badr. Ursprünglich stand Nasser an der Spitze der Blockfreien-Bewegung, die einen dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus suchte. Als jedoch die USA die Geldmittel für den Bau des Assuan-Staudamms zurückzogen, suchte und fand der ägyptische Präsident die Unterstützung der UdSSR. Da Russland keine kolonialistische Vergangenheit hatte und die UdSSR aufgrund eigener reichlich vorhandener natürlicher Ressourcen nicht an einer Ausbeutung der Bodenschätze Afrikas interessiert war, war es als Verbündeter für die gerade dem Kolonialismus entflohenen Staaten interessanter als der Westen. Gaddafi war ein glühender Verehrer Nassers und begeisterter Anhänger des sozialistischen Panarabismus.

In Libyen gab es verschiedene militärische Kräfte, zum einen die aus Söhnen der Elite bestehenden paramilitärischen Einheiten der ‚Kyrenaika-Verteidigungskräfte‘ und der ‚Tripolitanischen Verteidigungskräfte‘, auf deren Loyalität sich König Idris verlassen konnte. Zum anderen gab es die reguläre Armee, die für die ärmeren Bevölkerungsteile die einzige Chance zum sozialen Aufstieg bot, der König Idris aber nicht ohne Grund misstraute. Die Militärakademie in Bengasi war 1957 gegründet worden, um Offiziere nicht mehr ‚gefährlichen Einflüssen‘ im Ausland bei ihrer Ausbildung auszusetzen.

Großbritannien und die USA hatten mit König Idris sogenannte ‚Freundschaftsverträge‘ geschlossen, die die libysche Souveränität aushebelten. Als 1957 der damalige US-amerikanische Vizepräsident Nixon Libyen besuchte, stellte er klar, was er von König Idris erwartete: die Abwehr des kommunistischen Einflusses im Nahen Osten und in Nordafrika. Auch wirtschaftlich war Libyen abgehängt: Die Geschäfte machten immer noch die Italiener, die auch die Großgrundbesitzer stellten. Idris war der Vasall des Westens, dessen militärische und wirtschaftliche Interessen die Geschicke des Landes bestimmten.

Als sich König Idris 1965 entgegen der Aufforderung der Arabischen Liga weigerte, die Kontakte mit der Bundesrepublik Deutschland abzubrechen, da diese diplomatische Beziehungen mit Israel aufgenommen hatte, kam es zu Studentenprotesten.

In Libyen spannte unter Gaddafis Führung die Gruppe der Freien Offiziere ein Netz der Verschwörung, das alle Lager und Kommandostrukturen überzog. Eigentlich sollte die Revolution schon am 12. März 1969 beginnen, als aber Truppen aus der Hauptstadt verlegt wurden, Munition eingezogen und König Idris sich unter den Schutz der britischen Stützpunkte stellte, war klar, dass die Revolutionspläne zu den Machthabern durchgesickert waren. Die Revolution wurde verschoben.

Doch am 1. September musste gehandelt werden, denn schon am nächsten Tag sollten junge Offiziere, darunter auch viele Freie Offiziere, zur Weiterbildung nach England verlegt werden. Innerhalb der Armee hatten sich auch die Baath-Anhänger organisiert, von denen sich viele an der Revolution beteiligten, auch wenn sich die Organisation selbst zurückhielt. König Idris befand sich zu diesem Zeitpunkt auf Auslandsreise in der Türkei.

Die Freien Offiziere bemühten sich um die Unterstützung von Oberstleutnant Musa Ahmad, der das Oberkommando über die Kyrenaika-Truppen hatte und die Schutztruppe des Königs bildete. Musa Ahmad stand sowohl in ständiger Verbindung mit den Einsatzverbänden als auch mit den anglo-amerikanischen Militärstützpunkten. Die Vermutung, dass der Umsturz durchaus auch mit Einverständnis der Engländer und Amerikaner erfolgte, die einsahen, dass König Idris nicht mehr zu halten war, liegt nahe. Sie dürften sich an Macchiavellis Rat gehalten haben, dass man sich an die Spitze von Bewegungen stellen sollte, die nicht mehr zu verhindern sind. Auch dürfte es kein Zufall gewesen sein, dass sich der Zögling des Westens, König Idris, außer Landes aufhielt und somit in Sicherheit war. Allerdings waren die ausländischen Mächte der Meinung, die Freien Offiziere und deren Anführer Gaddafi zukünftig kontrollieren zu können.

Eine wichtige Rolle beim Umsturz spielte die einstige Kolonialmacht Italien. Denn die geheimen Treffen der Freien Offiziere fanden nicht nur in Tripolis, sondern auch in Italien statt. Die letzten Einzelheiten für den Umsturz wurden vom 24. Bis 27. August 1969 in dem norditalienischen Städtchen Abano Terme festgelegt. Paolo Sensini schreibt: „Auf die Frage, ob an Gaddafis Umsturz etwa der italienische Geheimdienst mitgewirkt haben könnte, antwortete der italienische Richter Rosario Priore […] wie folgt: >Der Staatsstreich wurde in einem Hotel in Abano Terme organisiert. Ich glaube schon, dass eine italienische Handreichung denkbar ist. So bald Gaddafi an der Macht war, schickten wir ihm im Handumdrehen für seine Siegesparade Schiffe voller Panzer, ganze Divisionen, währenddessen sogar unsere eigenen Grenzen dieser Verteidigungsmaterialien beraubt waren […] Wir wussten, dass (unter diesem Riesen-Sandkasten) immens viel Erdöl lag. Libyen machte Appetit, weil es unsere strategische Reserve hätte sein können, der Treibstoff für unsere wirtschaftliche Entwicklung. So war es dann ja auch […] Die Libyer schlossen sofort die englischen und amerikanischen Stützpunkte und wiesen die Soldaten beider Länder aus […] und Italien wurde sofort der wirtschaftliche Handelspartner von Gaddafi.<“[2]

Am 1. September 1969, um 2:30 begann die Operation Jerusalem. Es gelang, zuerst die Königsgarde und die Offiziere, die sich der Revolution nicht angeschlossen hatten, zu entwaffnen. Anschließend wurde die Befehlszentrale des Nachrichtendienstes in Bengasi lahmgelegt. In Tripolis rückten in einer als Übung getarnten Aktion Panzer ein. Sowohl in Bengasi als auch in Tripolis wurden die militärischen Anlagen, Kasernen, Polizeistationen, Regierungsgebäude, Fernmeldeämter, Radio- und Fernsehstationen und Flughäfen übernommen.

Über Radio Bengasi verlas Muammar al-Gaddafi am Morgen des 1. Septembers die erste Erklärung des Revolutionären Kommandorates:

Im Namen Allahs, des Barmherzigen und Mitfühlenden. Oh Großes Volk Libyens“ In der Ausübung deines freien Willens, in der Erfüllung deiner sehnlichsten Hoffnungen und als Antwort auf deinen wiederholten Rufe nach Wandel und Reinigung, der zu Aktion und Initiative drängt, sowie Erhebung und raschen Angriff fordert, haben deine Streitkräfte das dekadente, rückständige und reaktionäre Regime gestürzt, dessen Gestank die Nasen abstumpften ließ und dessen Antlitz Abscheu hervorrief.

Durch einen einzigen Schlag Eurer heldenhaften Armee stürzten die Götzen und brachen zusammen, und so ist in einem schicksalhaften Augenblick der Vorsehung die Finsternis der Vergangenheit geschwunden: von der Herrschaft der Türken über die Tyrannei der Italiener, bis hin zur Ära der Reaktion, Bestechung, Nepotismus, Treulosigkeit und Verrat.

Von nun an wird Libyen eine freie, souveräne Republik mit dem Namen „Libysche Arabische Republik“ sein, aufsteigend, die durch Gottes Gnade auf dem Weg zur Freiheit, Einheit und sozialen Gerechtigkeit zu Taten und zu Größe vorwärtsschreitet. Sie wird all ihren Söhnen das Recht der Gleichheit sichern und ihnen die Tore zu ehrlicher und anständiger Arbeit in einer neuen Gesellschaft öffnen, die keine Unterdrückten, Betrogenen oder Benachteiligten, nicht Herren und nicht Sklaven kennen wird, sondern nur freie Brüder in einer Gesellschaft, über der, so Gott will, das Banner des Wohlstands und der Gleichheit wehen soll.

Lasst uns einander die Hände reichen, öffnet eure Herzen, vergesst Euren Groll und steht zusammen gegen den Feind der arabische Nation, den Feind des Islams und den Feind der Menschheit, der unsere Heiligtümer geschändet und unsere Ehre beschmutzt hat. So wollen wir ruhmreich ein Erbe wiederbeleben und unsere verletzte Würde und unser usurpiertes Recht rächen! Oh! Ihr, die Ihr mit Omar al-Muchtar einen heiligen Krieg für Libyen, die Araber und den Islam gefochten habt, und oh! Ihr, die Ihr gerecht gekämpft habt mit Ahmad asch-Scharif.

Oh! Söhne der Beduinen, Söhne der Wüste, Söhne öder alter Städte, Söhne des reinen Ackerlandes, Söhne der Dörfer, unserer schönen geliebten Dörfer, die Stunde der Arbeit hat geschlagen und so lasst uns vorwärts schreiten.

In diesem Augenblick ist es uns ein Vergnügen, unseren ausländischen Brüdern zu versichern, dass ihr Eigentum und ihr Leben unter dem Schutz der bewaffneten Kräfte stehen – und dass diese Aktion gegen keinen fremden Staat gerichtet ist, gegen keine internationalen Verträge oder ein internationales Recht.

Es ist eine rein innere Angelegenheit, die Libyen und seine chronischen Probleme betrifft!

Vorwärts! Friede und Gottes Gnade seien mit Euch!

Der Revolutionäre Kommando-Rat am 19. Jumada al-Achir 1389 H.“

In Tobruk konnte sich das alte Militär unter britischem Schutz noch drei Tage halten, einer Aufforderung zum Einschreiten kamen die Briten allerdings nicht nach. Sowohl die britischen Garnisonen als auch die USA taten, als seien sie von den Ereignissen vollkommen überrascht. Ganz sicher rechnet sie da noch nicht damit, dass sie bereits im März 1970 ihren Stützpunkt in Tobruk und die amerikanische Militärbasis Wheelus bei Tripolis schließen müssten. Wheelus wurde der spätere libysche Luftwaffenstützpunkt Mitiga.

Die unblutige Revolution hatte unter dem Motto „Freiheit, Sozialismus, Einigkeit“ gesiegt, auch durch Unterstützung der Stämme der Warfallah, Magariha aus dem Westen hatten sich mit den Gaddafa-Stamm Gaddadfis verbündet.

Wie in der französischen Tageszeitung in einem Interview verkündet, strebte Gaddafi einen „islamischen Sozialismus“ an, der mit Hilfe des „nationalen Kapitals die Entwicklung des Landes unterstützt.“[3]

Der aus zwölf Offizieren bestehende Revolutionäre Kommandorat übernahm die Macht. Der engste Weggefährte von Gaddafi war Leutnant Abd al-Salam Dschallud. Der 27-jährige Armeeoberst Muammar al-Gaddafi wurde vom Revolutionären Militärrat als Befehlshaber der Streitkräfte bestätigt. Ägypten, Syrien, Sudan, Irak und Algerien kannten nur wenige Tage nach der Revolution die neue Führung an. König Idris dankte ab.

[1] Edition Le Monde diplomatique „Auf den Ruinen der Imperien. Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus“, 2016, No.18
[2] Nach Paolo Sensini „Es war einmal Libyen“
[3] Le Monde vom 13.12.1969, nach P. Sensini „Es war einmal Libyen“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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