Das Great-Man-Made-River-Projekt

Libyen. Libyen ist ein zweifach gesegnetes Land, denn sein größter Reichtum ist nicht wie viele denken das Erdöl, sondern es ist das Wasser.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wasser ist ein lebensnotwenige Element, das auf unserem Trabanten immer knapper wird und um das deshalb, wie Harald Welzer in seinem Buch über Klimakriege befürchtet, die erbarmungslosesten Kriege des 21. Jahrhunderts geführt werden könnten.

Als man vor nicht ganz fünfzig Jahren unter dem Sand der Sahara unglaublich große Mengen von fossilem Grundwasser entdeckte, stellte dies eine Sensation dar. Der Fund von bestem Süßwasser in der Wüste, das kam einem Wunder gleich! Um dieses Wasser nutzbar zu machen, musste ein Plan erdacht werden, wie das Nass zu fördern und zu transportieren sei. In der Folge entstanden große Pumpanlagen und ein gigantisches Wasserleitungssystem, mit dessen Hilfe das fossile Wasser aus dem Süden des Landes durch ein riesiges Röhrensystem, dessen Röhren vier Meter im Durchmesser haben, an die Küste gepumpt wird, um die dort in den Städten lebende Bevölkerung mit frischem Wasser zu versorgen beziehungsweise es in der Landwirtschaft zur Bewässerung nutzbar zu machen. Nicht nur Großstädte wie Tripolis und Bengasi sind von dieser Wasserzufuhr komplett abhängig, sondern insgesamt deckt der Great-Man-Made-River 70 Prozent des Wasserbedarfs von Libyen. Dieser große künstliche Fluss stellt unzweifelhaft das bedeutendste Projekt der Ära Gaddafi dar. Er ist das größte jemals vom Menschen erschaffene Röhrensystem der Welt und fand als solches 2008 Eingang ins Guinnessbuch der Rekorde. Alle internationalen Experten gaben sich begeistert und seine Bedeutung für die Entwicklung Libyens ist nicht hoch genug einzuschätzen.

Umso schockierender waren die Nachrichten, dass dieses wichtigste unter den Infrastrukturprojekten Libyens im Juli 2011 Ziel eines Bomben-Angriffes durch die NATO-Staaten geworden ist. Nachdem bereits die Wasserleitung von Brega durch Bomben getroffen wurde, bombardierte die NATO am 22. Juli die in der Nähe gelegene Fabrik, in der die Röhren für die Wasserleitungen hergestellt wurden, und zerstörte große Teile der Anlage. Bei dem Angriff kamen auch sechs Sicherheitskräfte des Werks ums Leben. Als Vorwand für den Angriff gab die NATO bei einer Pressekonferenz am 26. Juli 2011 in Neapel an, es hätte sich bei dem angegriffenen Ziel um militärische Versorgungseinrichtungen gehandelt und in der benachbarten Betonfabrik seien bewaffnete Gaddafi-Kräfte mit Raketenabschussvorrichtungen gesichtet worden. Allerdings geht aus damaligen Google-Earth-Aufnahmen eindeutig hervor, dass es sich bei den fraglichen Bauwerken um eine Röhrenfabrik und keinesfalls um militärische Einrichtungen handelte. Dass die Angreifer wussten, was das Ziel ihres Angriffs war, lässt auch die Äußerung des Rebellensprechers Shamsiddin Abdulmolah in einem Interview vier Tage vor der Bombardierung des Röhrenwerks vermuten: „Ihre [Gaddafis Kämpfer, die sich in Brega aufhielten] Lebensmittel- und Wasserversorgung wird gekappt und sie werden nicht mehr schlafen können.“ Sollte also die Zerstörung des Röhrenwerks auch dazu dienen, die Reparatur der Wasserpipeline nach Brega zu verhindern?

Die in der Fabrik produzierten Stahlbetonröhren werden dringend benötigt, um Rohre von defekten Leitungen, deren Länge insgesamt über 4.000 Kilometer misst, bei Reparaturen austauschen zu können. Die Funktionsfähigkeit des Röhrenwerks ist somit für die Versorgung des ganzen Landes mit Wasser von größter Wichtigkeit. Mit dem Flugzeugangriff auf das Röhrenwerk hat sich die NATO unmissverständlich eines Verstoßes gegen das internationale Recht schuldig gemacht, das den Angriff auf Ziele, die der zivilen Infrastruktur und Versorgung der Bevölkerung dienen, als Kriegsverbrechen einstuft. In Paragraph 54 heißt es: „Das Angreifen, Zerstören, Entfernen oder Abschalten benötigter Objekte, die für das Überleben der Zivilbevölkerung unverzichtbar sind, ist verboten.“ Einen Monat nach dem Angriff auf das Great-Man-Made-River-Projekt war mehr als die Hälfte Libyens ohne Fließendwasser.

Um die Bedeutung dieses Wasserleitungssystem, das von den Libyern als das achte Weltwunder bezeichnet wird, deutlich zu machen, muss man sich noch einmal vor Augen führen, dass Libyen ein Land ist, das zu 95 Prozent aus Wüste besteht. Es gibt in Libyen keinen einzigen natürlichen Fluss, der das ganze Jahr Wasser führt. Die meisten Wadis füllen sich nur einmal im Jahr zur Regenzeit mit Wasser. Es gibt im Süden Libyens Gegenden, in denen es gerade mal alle 25 Jahre regnet, wobei die Feuchtigkeit oft nicht am Boden ankommt, sondern noch in der Luft verdunstet. Zwar regnet es an der Küste in den Wintermonaten, doch hat sich hier der Grundwasserspiegel gesenkt und durch Einsickern des Meereswassers hat das Grundwasser einen relativ hohen Salzgehalt, was sich negativ auf die Trinkwasserqualität auswirkt. Welche Kostbarkeit die Versorgung mit Süßwasser aus der Sahara für ein so wasserknappes Land wie Libyen darstellt, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Nähert man sich heute durch Hitze und Sand auf einer unüberschaubar großen Wüstenplatte Kufra, bemerkt man die neben der Straße verlaufenden Wälle, unter denen die großen Betonstahlrohre verlegt sind. Nahe der Oasenstadt grünt die Sahara wieder, diesmal allerdings in abgezirkelten Kreisen inmitten des gelben Wüstensandes. Es handelt sich um landwirtschaftliche Pflanzungen, die von großen, sich im Kreis drehende Sprinkleranlagen mit fossilem Wasser bewässert werden. Gaddafis Traum, sich das fossile Wasser zunutze machen, wurde wahr.

Das mineralarme Gletscherwasser stammt aus der letzten Feuchtperiode, als es in der Sahara noch grünte und blühte, und ist zwischen 38.000 und 14.000 Jahre alt. Es wird heute aus 40 bis 100 Meter tiefen Becken empor gepumpt. 1983 vergab Gaddafi die ersten Aufträge an bundesdeutsche Röhrenhersteller und koreanische Baufirmen. Zwischenzeitlich ist das gesamte Know-how auf Libyen übergegangen und die Fabriken wurden in eigene Regie übernommen. 1991 weihte man den ersten Strang der Wasserpipeline ein. Mit dieser Leitung werden die Städte Agdabiya, Sirte und Bengasi versorgt. 1996 folgte die Fertigstellung der Phase 2, die nun Tripolis an die fossile Wasserversorgung anschloss, 2006 folgte die Stadt Gharian in den Nafusa-Bergen und in der Phase 3 wurde auch Tobruk an ein neues Brunnenfeld angeschlossen. Die UNESCO zeichnete 1999 Libyen für die Finanzierung des Great-Man-Made-River-Projekts mit dem Internationalen Wasser-Preis aus, der vergeben für bemerkenswerte wissenschaftliche Forschung im Bereich des Wasserverbrauchs in Trockengebieten wird. Von den insgesamt fünf Bauphasen des Projekts konnten die ersten drei bis zum Ausbruch des Kriegs realisiert werden.

Wichtige Lagerstätten des fossilen Nass‘ sind die vier großen Becken von Kufra, Sirte, Mursuk, Hamada- und Al-Jufrah, wo das Wasser in nubischem Sandstein gespeichert ist. Das Kufra-Becken beinhaltet etwa 20.000 km³ Wasser, dies entspricht einer Menge, wie sie in etwa 220 Jahren den Nil hinab fließt; das Sirte-Becken dürfte über die Hälfte dieser Wassermenge verfügen, das Mursuk-Becken etwa über 5.000 km³. Das Wasser wird an die Oberfläche gepumpt und hauptsächlich mithilfe des natürlichen Gefälles, aber auch unter dem Einsatz von Pumpen als großer künstlicher Fluss unterirdisch zur Küste geführt. Ursprünglich war vorgesehen, die Wüste im Bereich der Wasserförderanlagen im großen Stil als landwirtschaftliche Anbauflächen zu nutzen. Jedoch haben sich die Projekte bei Kufra und Sarir aufgrund der starken Wasserverdunstung, der weiten Transportwege und der hohen Kosten nicht als sinnvoll erwiesen und so hat man sich entschieden, das Wasser an die Küste zu transportieren. Auch in den Küstengegenden wird etwa 70 Prozent des Wassers für die Landwirtschaft genutzt. Sogar Versuchsflächen für organischen Landbau wurden angelegt. Es herrschte die Vorstellung, Libyen könne sich unabhängig von Lebensmittelimporten machen, ja sogar Überschüsse für den Export produzieren. Dieser Plan ist jedoch aus oben genannten Gründen nicht aufgegangen und es fragt sich, ob er jemals sinnvoll war. Warum sollte Libyen seine kostbaren Wasserressourcen für eine teure Lebensmittelproduktion verschwenden, anstatt mit den Erlösen aus dem Erdölverkauf Nahrungsmittel zu importieren?

Unter Gaddafi wurden im Jahr 1983 die ersten Aufträge an koreanische Baufirmen erteilt, dass unter dem Saharasand gefundene fossile Wasser, zu fördern. In der Folge entstand ein gigantisches, in der Welt absolut einmaliges Projekt. Das Wasserförderprojekt in Sarir, wo das Wasser aus 150 bis 400 Metern Tiefe geholt werden muss, verfügt beispielsweise über ein eigenes Kraftwerk mit sechs Gasturbinen zur Erzeugung von Strom. Zwei Leitungsstränge führen von hier an die Küste, wo das Wasser in einen riesigen, ebenfalls menschengemachten See fließt. Die Wassermassen dieser künstlichen Seen verbessern durch die Verdunstung das Mikroklima. Das neueste von vier Wasserreservoiren verfügt über einen 35 Meter hohen Damm, die Grundfläche hat die Größe von 93 Fußballfeldern. Bemerkenswert dabei, dass Libyen inzwischen fast keine ausländische Unterstützung für diese Großprojekte mehr braucht, sondern die gesamte Planung und den Bau alleine bewältigt. Libyen war bis zum Krieg 2011 weltweit führend in Wasserbautechnologie.

Die Leitstelle für das gesamte Management des Projekts Wüstenwasser befindet sich in Bengasi. Von einem Kontrollraum aus kann alles überwacht und gesteuert werden. Der tägliche Mindestverbrauch liegt bei einer halben Million Kubikmeter Wasser.

Die Befürchtungen, die Förderung des fossilen Grundwassers könne zu einem Absinken des Wasserspiegels führen, haben sich nicht bewahrheitet. So wird in Tazerbo ständig der Wasserspiegel geprüft. Bisher konnte kein Abfall festgestellt werden, obwohl Bengasi bereits seit 1991 am Wüstenwasser angeschlossen ist und Tripolis 1996 folgte.

Schätzungen zufolge könnten die fossilen Wasserreserven etwa hundert Jahre reichen. Das spricht jedenfalls nicht dafür, das Wasser nicht zu nutzen. Denn was ist besser? In hundert Jahren kein Wasser mehr zu haben, oder gleich kein Wasser zu haben? Im ersteren Fall hat man zumindest Zeit gewonnen. Und vielleicht sollte man noch erwähnen, dass dieses Leitungssystem grundsätzlich auch mit entsalztem Meerwasser genutzt werden könnte.

„Wasser statt Waffen“, unter dieses Motto stellte Gaddafi das größte Wasserbau-Ingenieurwerk der Welt, dass der libyschen Bevölkerung die Versorgungssicherheit mit dem wichtigsten aller Lebensmittel garantiert. Welch böse Ironie, dass dessen Funktionieren nun gerade durch Waffen in Frage gestellt wird.

Das Sahara-Wasser weckt Begehrlichkeiten. Wer hatte gehofft, nach dem Waffengang gegen Libyen vom fossilen Wasser profitieren zu können? Bisher hat das Wüstenwasser die Lebensverhältnisse des libyschen Volkes immens verbessert. Jetzt steht zu befürchten, dass gierige Großkonzerne bereitstehen, um das libysche Wasser – den wichtigsten Rohstoff der Zukunft – zu privatisieren. Gerade in dieser trockenen Weltgegend, in der Länder wie Sudan und Ägypten verbittert bei zunehmender Wasserknappheit um das Wasser des Nils oder Jordanien und Israel um das Wasser des Jordans streiten, stellt sich die Frage: Wer kann sich Libyens Wasser ohne eigene Investitionskosten unter den Nagel reißen? Es bleibt zu hoffen, dass sich auf dem Etikett der Plastikflaschen zukünftig neben „Man-Made-River-Water“ nicht die Namen von Lebensmittelkonzernen wie Nestle oder von privaten Wasserwerken wie Veolia finden.

Doku Phoenix „Libyens Wüstenwasser – Der künstliche Fluss durch die Sahara – Great-Man-Made-River Libya“:
http://www.youtube.com/watch?v=m1omQdyEkqk

Gottfried Tichy
Die Kraft der Erde – zur geologischen Entwicklung Libyens

Konrad Schliephake
Der Große Künstliche Fluss Libyens

(beide in: Fritz Edlinger/Erwin M. Ruprechtsberger Hrsg., Promedia 2009
Libyen. Geschichte – Landschaft – Gesellschaft – Politik.

http://humanrightsinvestigations.org/2011/07/27/great-man-made-river-nato-bombs/

http://english.pravda.ru/history/11-12-2013/126361-gaddafi_man_made_river_0/

Harald Welzer, S. Fischer, 2008
Klimakriege: Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden