Der Genfer UN-Plan wird Konflikte verschärfen

Libyen. Mit den neuen Vorschlägen arbeitet die ‚internationale Gemeinschaft‘ weiterhin an der Zerschlagung der libyschen Einheit und Staatlichkeit.

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Es ist eindeutig, dass die westlichen Mächte und die UNO ihre Pläne zur Spaltung des Landes in drei Teile noch immer nicht auf gegeben haben. Die neuen UN-Vorschläge spielen auf Zeit und hoffen, ihrem Ziel der Spaltung des Landes wieder ein Stück näher zu kommen. Dauerstreit ist vorprogrammiert und Wahlen rücken in immer weitere Ferne.

Die libysche Verfassungsexpertin Azza Maghur beschreibt in ihrem Artikel zunächst den gescheiterten Versuch, den demokratischen Prozess in Libyen voranzubringen, der 2014 durch brutale Gewalt vollends beendet wurde. Nach 2014 erfolgte die Übernahme der libyschen Politik durch ausländische Mächte. Seitdem bestimme die ‚internationale Gemeinschaft‘ im Namen der Libyer die libysche Politik und stelle die Bevölkerung mittels Resolutionen des UN-Sicherheitsrat vor vollendete Tatsachen. Laut Maghur wurde die demokratische Legitimität durch eine „internationale Legitimität“ ersetzt.

Heute sei Libyen bei einem fünften Übergangsstadium angekommen, das durch den Mangel an Legitimität und direkte ausländische Interventionen gekennzeichnet sei. Unter Ausklammerung der Bereiche Sicherheit, Militär und Wirtschaft nimmt Maghur zum politischen Aspekt dieser fünften Übergangsphase, wie sie nach den Vorstellungen des Regimes verlaufen soll, Stellung.

Die Analyse des UN-Plans für Libyen, der mittels „Auswahl und Ernennung“ im Namen der Libyer zu handeln vorgibt, beinhaltet tatsächlich aber die Gefahr einer kompletten politischen Lähmung.

Die weiteren Aussichten

Dieses fünfte Übergangsstadium wird von Personen geschmiedet, die sich im Ausland treffen. Zu ihnen zählen Vertreter des Parlaments, des Hohen Staatsrats und andere Personen, die von der UNHMIL eingeladen werden. Grundlagen sind nach wie vor das Skhirat-Abkommen, die Berliner Libyen-Konferenz und die Kairo-Erklärung.

Die Ergebnisse des neuen Genfer Treffens werden voraussichtlich wie folgt aussehen:

  1. Drei Regionen: Libyen wird in drei Regionen unterteilt, die jeweils von Mitgliedern des Parlaments, des Staatsrats und anderen Personen repräsentiert werden, die von der UNSMIL ausgewählt wurden.
  2. Präsidialrat: Die Vertreter jeder Region wählen je ein Mitglied eines neuen Präsidialrats, der dann aus insgesamt drei Mitgliedern besteht, die den Präsidenten aus ihrer Mitte wählen (dieser Auswahlmechanismus ist unbekannt).
  3. Regierung: Jede Region wählt eine Person in die Regierung. Der Präsidialrat ernennt den Premierminister, der aus einer anderen Region stammen muss als der Präsident des Präsidialrats, die beiden anderen Personen in Regierungsämtern sind die stellvertretenden Premierminister. Alle drei Regierungsmitglieder wählen die weiteren Regierungsmitglieder aus. Sie sollen sich aus allen Regionen zusammensetzen.
  4. Dauer: Diese neue Übergangszeit dauert 18 Monate und ist um weitere sechs Monate verlängerbar.
  5. Wahlen: Während dieses Zeitraums wird eine verfassungsmäßige Grundlage für künftige Wahlen geschaffen und ein Wahlgesetz erlassen.

Azza Maghur stellt fest: Die neue Übergangsphase basiert auf regionalen Quoten, d.h. es treten die Interessen der einzelnen Regionen in den Vordergrund und nicht das Interesse eines gemeinsamen libyschen Staates. Dieses regionale Quotensystem, dessen Mechanismus darin besteht, Loyalitäten zu kaufen, Druck auszuüben und den Rückhalt aus ausländischen Interessen zu beziehen, werde Konflikte und Gewalt, ausgelöst durch Regionalismus und Tribalismus, weiter verstärken.

Liest man die folgenden juristischen Ausführungen von Azza Maghur zu den neuen Genfer Gesprächen wird verständlich, welche Vergewaltigung die libysche Gesetzgebung mit diesen Vorgaben erleidet mit dem Ziel, die westliche Agenda, die nach wie vor die Spaltung Libyens in drei Regionen zum Ziel hat, voranzutreiben.

Bewertung der neuen UN Genf-Gespräche durch Azza Maghur

  1. Der Ausgangspunkt ist nicht korrekt. Es gibt keine libysche Gesetzesgrundlage, in der Libyen in drei Regionen unterteilt wird. Die dritte Änderung der Verfassungserklärung sah „Wahlen“ vor, ähnlich dem „60-Personen-Komitee“ von 1951. Es besteht ein großer Unterschied zwischen „Wahlen“ und „Ernennung“. Wahlen stützen sich auf Wahlbezirke und ein Wahlsystem, dessen Grundlage die Wahlgesetzgebung ist. Es beruht auf der Verfassung, sowie der Wahl „einer Person, einer Liste oder eines anderen Kandidaten“. Ernennung dagegen beruht auf regionalen Quoten, die von einer politischen Ausrichtung abhängen, die sich aus ausländischen Agenden und Erklärungen ergibt, ohne jede verfassungsmäßige Grundlage.
  2. Das vorgeschlagene Quotensystem widerspricht den Normen von Regierungssystemen, auch innerhalb föderaler Systeme, die sich auf zwei Ebenen stützen: die Bundesebene und die Länderebene, d.h. die Einheit des Staates und die Provinzen. In dem UN-Quotenvorschlag werden beide Ebenen vermischt. Dies führt zu einer Zersplitterung des Staates und gefährdet dessen Zusammenhalt.
  3. Das vorgeschlagene Quotensystem unterliegt der falschen Annahme von regionaler Homogenität in Libyen. Die Konflikte in Libyen sind jedoch sehr mehrschichtig, wobei der Konflikt zwischen den drei Regionen der unbedeutendste ist. Die tatsächlichen Konflikte drehen sich um Macht, Geld, Waffen und Ideologie und sind in der Regel individuell begründet. Sie durchziehen jede der drei Regionen. Die Konflikte auf Konflikte der drei Regionen untereinander herunterzubrechen, stellt eine nicht zulässige, irrationale Vereinfachung dar und zieht neue Konfliktlinien ein. So gibt es beispielsweise engere Beziehungen zwischen Städten in verschiedenen Regionen als teilweise zwischen Städten in der gleichen Region. Unverständlich auch, dass angenommen wird, dass sich Mitglieder des Parlaments und des Staatsrats über die Regierungsbildung einig sein sollen, nur weil sie aus der gleichen Region stammen. Wie bekannt, konnten diese beiden Organe seit 2016 keine Einigungen erzielen.
  4. Die Idee eines dreigliedrigen Präsidialrats und einer dreigliedrigen Regierung aus einem Premierminister und zwei Stellvertretern sowie Ministern und deren Stellvertretern wird das Regierungshandeln lähmen, Zwietracht säen und verwaltungsrechtliche Krisen auslösen.
  5. Das Quotensystem wird unweigerlich zu Uneinigkeit und Streit führen. Auch wenn der Präsidialrat von sechs auf drei Personen verkleinert wird, handelt es sich nach wie vor um einen multilateralen Präsidialrat. Dass der Premierminister weder seinen Stellvertreter noch sein Kabinett selbst wählen kann, bedeutet eine Schwächung der Regierung. Die Minister werden ihren Regionen und aus ihrer Region stammenden Präsidiumsmitglied gegenüber loyal sein, aber nicht dem gesamten Präsidialrat gegenüber. Dabei sollte doch gerade der Präsidialrat ein Symbol für die Einheit und Souveränität des Landes darstellen. Mit der angestrebten Quotenregelung wird er sich stattdessen in einen Rat der Interessenvertretung der Regionen verwandeln. Das gleiche gilt für die Minister, die ihre Regionen vertreten werden. Auf diese Weise wird sich der Konflikt verschlimmern, indem er nicht nur horizontal, sondern auch auf eine vertikal Ebene ausgeweitet wird. Die Abhängigkeiten können besser aufgespalten werden und der Regierung wird es nicht möglich sein, effektiv zu handeln. Dies wiederum schwächt die Regierung und ihren Premierminister und verwickelt sie in regionale Konflikte.
  6. Unklar bleibt, welche Rolle das Parlament und der Staatsrat in der neuen Übergangsphase spielen werden sowie in welchem Verhältnis sie zum Präsidialrat und der Regierung stehen. Der Zeitraum von 18 Monaten benötigt nicht so viele Institutionen, die sich gegenseitig beharken und keinen Zweck erfüllen. Die nächste Regierung wird zwangsläufig eine weitere Institution zu den bereits bestehenden sein.
  7. Keinesfalls sollte der Fehler wiederholt werden, auch Personen in den Genfer Dialog miteinzubeziehen, die selbst Führungspositionen anstreben oder sich in solchen befinden, so wie es im Skhirat Dialog geschah. Es hätte letztendlich Korruption zur Folge, beruhend auf Interessenkonflikten.
  8. Wer immer in der kommenden Übergangsperiode den Präsidialrat oder die Regierung leitet, sollte nicht für die nächsten Wahlen kandidieren, um keine bevorzugte Stellung ausnutzen und den Wahlprozess beeinflussen zu können.
  9. Es sollte den derzeitigen Mitgliedern des Parlaments, des Staatsrates und des Präsidialrates nicht gestattet sein, in der nächsten Übergangsphase die Exekutivgewalt oder souveräne oder hochrangige Verwaltungspositionen einzunehmen, da dies Interessenkonflikte auslösen könnte, zumal sie Teil der Verhandlungen und der zu treffenden Absprachen sind.
  10. Die o.g. Personen sind Teil des Konflikts und werden deshalb die nationale Aussöhnung behindern. Ihr Mangel an demokratischem Engagement zeigt sich, indem sie ihre Amtszeiten überziehen und nicht bereit sind, ihre Macht abzugeben. Sie versäumten es, die staatlichen Institutionen ordentlich zu verwalten und haben stattdessen dazu beigetragen, sie weiter zu spalten. Das Leid der Bürger wurde nicht gemildert. Sie sind auch ein Hindernis für die Bekämpfung der grassierenden Korruption, wie es aus offiziellen nationalen und internationalen Berichten hervorgeht.

Abschließend bedauert Azza Maghur, nur ein unklares Bild bezüglich Absprachen zu haben, die mit der UNHMIL getroffenen wurden. Dies beträfe nicht nur das libysche Volk, sondern sogar jene, die an dem Genfer Dialog teilnehmen werden, und so könnten sie dabei nur eine schwache Rolle spielen. Trotzdem will Maghur mit ihrem Artikel Diskussionen anstoßen, die als Vorbereitung auf die kommenden Verhandlungen dienen könnten.

https://almarsad.co/en/2020/09/27/constitutional-lawyer-azza-maghur-evaluates-the-next-plan-for-libya/

In diesem Zusammenhang sollte auch darauf hingewiesen, dass in Libyen bis 2011 die Dschamahirija, was in etwa Herrschaft des Volkes bedeutet, die Regierungsform war. Die meisten politischen Entscheidungen lagen bei den libyschen Stämmen und wurden auf basisdemokratischem Wege getroffen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

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