England, Libyen und die Friedensbewegung

London. Alles, was 2011 die britische Friedensbewegung und Jeremy Corbyn über die schlimmen Folgen des Libyen-Krieges voraussagten, traf ein.

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Der britische Morning Star veröffentlichte im April 2019 einen Beitrag von Kevin Ovenden, der 2011 für die britische Stop the War Coalition tätig war. Hier der leicht überarbeitete Artikel:

Vor acht Jahren, im März 2011, sagte der damalige britische Premierminister David Cameron auf der „Libyen-Konferenz“ in London: „Unsere Botschaft lautet: Libyen stehen bessere Tage bevor ... ein Neuanfang für Libyen ist in greifbarer Nähe und wir werden dabei helfen.“

Cameron verwies auf die Resolution des UN-Sicherheitsrats. Doch dessen eng begrenzte Einsatzvorgaben wurden bereits am ersten Tag der Bombardierung Libyens durch Frankreich, Großbritannien und die USA missachtet. Der offensichtlich angestrebte Regimewechsel stand ganz klar im Widerspruch zu internationalem Recht.

In Großbritannien störte dies außerhalb der Friedensbewegung kaum jemanden. Nur ein Dutzend Abgeordnete unter Führung von Jeremy Corbyn stimmte gegen den Kriegseinsatz. So gut wie jede britische Tageszeitung, mit Ausnahme des Morning Star, unterstützte begeistert diese „humanitäre Intervention“, die auch laut des damaligen französischen Außenministers Alain Juppe angeblich ein „Massaker in Bengasi“ verhindern sollte. Die Luftwaffe der großen Nato-Staaten beim Einsatz für eine fortschrittliche Revolution des Volkes. Ganz wunderbar!

Muammar Gaddafi wurde gestürzt und gelyncht und Cameron ließ sich mit handverlesenem Publikum in Bengasi werbewirksam fotografieren. Er sah aus, als wolle er die Rolle von Anthony Quinn im Film „Der Löwe der Wüste“ übernehmen.

Und wie es die Stop-the-War-Bewegung schon vorausgesagt hatte, richteten sich die Kameras nun auf Syrien, wo Cameron sich dafür einsetzte, dass sich Großbritannien im Namen der Humanität stärker in das Kriegsgeschehen um einen erneuten Regimechange einbringen sollte. Nach Libyen sollte auch Syrien „der Hölle entrissen“ werden.

Acht Jahre später: Im April 2019 wurden die US-Streitkräfte mit Schiffen aus Tripolis evakuiert. Die Libysche Nationalarmee unter Feldmarschall Haftar belagert Tripolis, um gegen die dort vorherrschenden Milizen zu kämpfen, die eine lachhafte ‚Einheitsregierung‘ bilden, die kaum mehr als die Innenstadt von Tripolis kontrolliert.

Der einzig funktionierende Flughafen der Hauptstadt Tripolis musste geschlossen werden, Ausländer sind evakuiert. Die Kämpfe um Tripolis dauern an.

Doch dies stellt wahrlich nicht den Tiefpunkt dar, den das Chaos in Libyen erreicht hat, soweit man diesen zerstörten Staat überhaupt noch als Libyen bezeichnen mag. Chaos und Kämpfe rivalisierender Milizen sind seit dem Sturz Gaddafis durch die westliche Intervention für das Land bezeichnend geworden.

Ohne Rückbesinnung auf das, was sie vor acht Jahren sagten, bringen heute BBC-Nachrichten Berichte von Warlords, die das Land, das in seine Bestandteile zerlegt wurde, beherrschen.

Dies genau hatte die Friedensbewegung vorausgesagt. Jegliche zivile Revolte gegen eine autoritäre Herrschaft wurde durch die Nato-Intervention und den herbeigeführten Regimewechsel gestoppt. Stattdessen arbeitete der Westen mit Reaktionären zusammen, deren Denkweise sie zwar nicht verstanden, aber glaubten, sie würden ihren Interessen dienen.

Ab dem Moment als Cameron und seine Kumpane zum Sturz Gaddafis aufgerufen hatten, gab es in Libyen keinen einzigen Tag, an dem Frieden herrschte. Dafür erreichten uns erschreckende Bilder von Migrantenlagern für Schwarzafrikaner, die unter der Kontrolle von Milizen standen. Die EU-Festung hatte ihre Verteidigung an Vergewaltiger, Folterer und Sklavenhändler ausgelagert, so jedenfalls beschreiben dies UN-Flüchtlingsorganisation und internationale Hilfsorganisationen.

Wie richtig 2011 die Friedensbewegung mit ihrer Einschätzung der Situation in Libyen lag, bestätigte im September 2016 ein Bericht, den ein von den britischen Torys dominierter Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten erarbeitet hatte, und in dem Camerons Krieg verurteilt wurde.[1] Dieser Bericht ist schon wieder in Vergessenheit geraten, was als Hinweis dafür gelten kann, dass die Führung der Labour-Partei durch Jeremy Corbyn vom britischen Establishment und seinen Medien in Frage gestellt wird.

In dem Bericht heißt es zum Ergebnis der französischen, britischen und US-amerikanischen Intervention in Libyen: „politischer und wirtschaftlicher Zusammenbruch, gewalttätige Zusammenstöße zwischen Milizen und Stämmen, humanitäre Krisen und Migrationskrisen, umfassende Menschenrechtsverletzungen sowie die Verbreitung von Waffen des Gaddafi-Regimes in der gesamten Region und die Ausbreitung des IS in Nordafrika.“

Welche Verbindungen zwischen Libyen und IS-Terroristen bestanden, zeigte sich auf tragische Weise 2017 beim Manchester-Attentat.[2]

Inzwischen hatten französische Journalisten aufgedeckt, dass die damalige Behauptung Juppes, die sich auf Aussagen von Bernard Henri-Levy stützte, nämlich dass in Bengasi ein Massaker an der Zivilbevölkerung kurz bevor stand, von den französischen Geheimdiensten nicht bestätigt werden konnte, ebenso wenig von den britischen. Dazu der Bericht des Ausschusses: „Wäre der Schutz der Zivilbevölkerung in Bengasi das Hauptziel der Intervention gewesen, wäre dieses Ziel im März 2011 in weniger als 24 Stunden erreicht worden.“ Dies heißt, „dass eine begrenzte Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung zu einer opportunistischen Politik des Regimewechsels mit militärischen Mitteln führte.“

Weit davon entfernt, humanistische Zwecke zu verfolgen, gab es laut dem Bericht keine Planung für einen zivilen und sozialen Wiederaufbau in der Nachkriegszeit. Der Krieg wurde tatsächlich bis heute nicht beendet. Stattdessen kam es zu einer nicht enden wollenden Abfolge von internationalen Konferenzen und diplomatischen Intrigen; ein Gleichgewicht der Barbarei zwischen den Dutzenden von Parteien sollte hergestellt werden.

Tatsächlich wurden bisher nur zwei Ziele wirklich verfolgt: Zum einen die Kontrolle über die libysche Ölindustrie so zu organisieren, dass sie Unternehmen wie der italienischen ENI zum Vorteil gereicht; zum anderen, mit barbarischen Methoden Migranten, deren Leben durch imperialistische Militär- und Wirtschaftspolitik zerstört wurde, davon abzuhalten, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen.

Die Rivalitäten zwischen den Großmächten und den Regionalmächten wurde auf diese Art weiter befeuert. Die ehemaligen nordafrikanischen Kolonialmächte Frankreich und Italien hielten in Paris und Palermo rivalisierende „Friedenskonferenzen“ ab und unterstützen rivalisierende Kriegsparteien.

Frankreich sah in Haftar den potenziell starken Mann, der zumindest auf dem Papier eine Integration des Landes (als „neuer Gaddafi“) erzwingen und vor allem die militärischen Anstrengungen Frankreichs in der Region unterstützen könnte, immer unter dem Vorwand, den islamistischen Extremismus zu bekämpfen. Ägypten und Saudi-Arabien unterstützen Haftar aus ähnlichen Gründen.

Frankreich hat in der Sahelzone südlich und westlich von Libyen 4.500 Soldaten stationiert, die von deutschen Truppen unterstützt werden. In Mali herrscht ein verdeckter Krieg, in dem neben französischen und deutschen sogar Spezialkräfte aus Irland im Einsatz sind. Da Irland kein Nato-Mitglied ist und angeblich eine friedliche Außenpolitik verfolgt, geschieht dies im Namen der europäischen Einheit. Dies zeigt, dass europäische Militäreinsätze keinen Deut besser als US-amerikanische sind.

Italien hat auf die instabilen Milizen im ölreichen Westen Libyens gesetzt. Sie sollen Flüchtlinge daran hindern, nach Europa zu kommen. Für ENI handelte Italien begünstigte Ölverträge aus.

Das Ergebnis des Libyenkrieges von 2011 ist ein gescheiterter Staat, in dem konkurrierende Kräfte in wechselnden Bündnissen mit reaktionären Milizen versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Wie Barack Obama betonte, verloren Großbritannien und Cameron schnell das Interesse an Libyen – auch wenn die britische Regierung versuchte, in Tripolis im Spiel zu bleiben.

Gerade stürzt das Kartenhaus ein.

In Großbritannien ist eine Aufarbeitung des Libyen-Krieges angebracht; als Anfang wäre eine von der Opposition geführte Debatte im Unterhaus denkbar. Wichtiger noch ist die Stärkung der Friedensbewegung und ihre Verankerung in der Arbeiterbewegung und der Gesellschaft.

Die heutigen echten Volksaufstände in Algerien und im Sudan zeigen, dass die Prozesse, die den „arabischen Frühling“ ausgelöst haben, andauern. Sie stehen für eine historische Periode jenseits des unmittelbaren Auf und Ab von Revolutionen und Gegenrevolutionen und den Bemühungen, diese nicht ausufern zu lassen.

Eine weitere politische Kontinuität zeigt sich in den vielfachen Interventionen, die mit dem „Krieg gegen den Terror“ eine neue Stufe erreicht haben. Auch hier müssen falsche Behauptungen als Begründung für „humanitäre“ Interventionen herhalten. Es kommt zu Sanktionen, Bombenangriffen, Kriegen, Unterstützung für bestimmte Regime oder Dämonisierung von Gegnern.

Die Linke war vor acht Jahren zu sehr der Idee aufgesessen, dass nur dieses eine Mal und nur in diesem speziellen Fall eine Intervention der Großmächte einem fortschrittlichem Wandel dienlich sei. Dieser Fehler sollte nicht wiederholt werden.

Die britische Friedensbewegung hatte Recht mit Libyen – sie hatte auch Recht mit dem Irak, mit Afghanistan, mit Syrien... Heute nun geht es um den Jemen und um die Aggressionspolitik gegen den Iran.

https://morningstaronline.co.uk/article/anti-war-movement-has-been-utterly-vindicated-over-libya

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[1] https://www.freitag.de/autoren/gela/bericht-ueber-die-libyen-intervention-von-2011

[2] https://www.freitag.de/autoren/gela/gb-naehrte-terror-nattern-am-eigenen-busen

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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