Erdogan hat überzogen

Libyen/Türkei. Erdogan verliert zunehmend internationale Unterstützung. Trotz seiner Drohungen dürfte er vor einer militärischen Intervention in Libyen zurückschrecken.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Türkei unterstützt massiv die Milizen der ‚Einheitsregierung‘

Schon im Mai dieses Jahres konnte man Schützenpanzer durch die Hauptstadt Tripolis patrouillieren sehen, die laut Spiegel „offenbar kurz zuvor aus der Türkei geliefert worden waren“. Das war ein Verstoß gegen das Waffenembargo der Vereinten Nationen, den in der UN und der EU wohl niemanden interessierte. Selbst wenn Erdogan sagt: „Wir geben ihnen die Unterstützung, die sie brauchen“, muss er weder mit Rügen, noch mit Sanktionen rechnen. Unterstützt er doch die Milizen der gleichen ‚Einheitsregierung‘, die sich noch internationaler Anerkennung erfreut.

So konnte Erdogan auch in einem Interview mit dem staatlichen Fernsehen TRT in diesen Tagen sagen, dass „die Türkei und Libyen gemeinsame Explorationsoperationen im östlichen Mittelmeerraum durchführen können“ und auf die Möglichkeit hinweisen, türkische Soldaten nach Libyen zu entsenden, wenn dies von der ‚Einheitsregierung‘ gefordert werde.

Erdogan reklamiert Führungsanspruch in der islamischen Welt

Am 8. und 9. Dezember fand in Istanbul ein Treffen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) statt. Die OIC ist nach den Vereinten Nationen die zweitgrößte zwischenstaatliche Organisation der Welt und hat ihren Sitz in Dschidda (Saudi-Arabien). Ihr gehören 57 Länder mit einer Bevölkerung von über 1,8 Milliarden Menschen an. Als Gastgeber nutzte Präsident Erdogan die große Bühne, um den Anspruch der Türkei als Führungsnation der islamischen Welt zu untermauern. Er erinnerte die Teilnehmer daran, dass sein Land die 13. größte Wirtschaftsnation der Welt ist und „unübertroffen“ darin, sich den globalen Handelskriegen und „Fluktuationen“ an Finanzmärkten zu widersetzen. Dies dürfte nicht verwundern, finanziert sich die Türkei auch mit dem Griff in die libysche Staatskasse.

Wie Aref Ali Nayed, Botschafter und Vorsitzender des Libya Institut for Advanced Studies, am 11. Dezember in einem Interview mit dem libyschen Fernsehsender Panorama erklärte, wurde Sarradsch mit der internationalen Anerkennung und der damit verbundenen Legitimität, die er durch das Skhirat-Abkommen erlangte, zu Erdogans Handlanger bei dessen Vorhaben, sich zum neuen Sultan aufzuschwingen. Doch das Osmanische Reich bestehe nicht mehr und Libyen könne somit kein Teil davon sein.

Erdogans Griff in die libyschen Kassen

Laut Nayed sind die libyschen Staatsfonds seit der Machtübernahme der Moslembrüder 2011, die seither die libysche Zentralbank kontrollieren, bei türkischen Banken hinterlegt. Und Nayed fragt: „Wissen Sie, dass Milliarden von Dollar libyschen Geldes bei der türkischen Landwirtschaftsbank Ziraat Bankası und der Türkischen Zentralbank hinterlegt sind? Das ist, als ob sie die libysche Staatskasse als Bayt-ul-Mal der Muslime verwenden und als ob der libysche Staatsfonds eine Schatulle der osmanischen Statthalter von Tripolitanien ist, die dem osmanischen Sultan ausgehändigt wurde.“

Die Osmanen hätten die libyschen Stämme fünf Jahrhunderte lang gezwungen, Abgaben an die Türken zu zahlen. „Das libysche Volk lehnt die Rückkehr zu einer solchen Versklavung kategorisch ab. Leider kontrolliert die Muslimbruderschaft in Tripolis das libysche Vermögen und hinterlegt die staatlichen libyschen Gelder bei türkischen Banken, während sie gleichzeitig behaupten, keine finanziellen Ambitionen zu haben. Natürlich haben sie die. Es geht ihnen nur darum, gierig die Staatskassen zu plündern.“

Doch Erdogan sei nicht die Türkei. Das türkische Volk werde respektiert und geschätzt, so wie Türken das libysche Volk wertschätzten. Das Problem sei Erdogan und seine uneingeschränkte Unterstützung der Moslembruderschaft.

Sarradsch als Handlanger Erdogans und der Moslembrüder

Aref Nayed führt weiter aus, dass das dubiose Abkommen zwischen der ‚Einheitsregierung‘ in Tripolis unter Sarradsch und der türkischen Regierung irreführend als Memorandum of Understanding (MoU) bezeichnet werde, damit es nicht dem libyschen Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden müsse, wie dies bei offiziellen Abkommen mit anderen Staaten vom Skhirat-Abkommen vorgeschrieben sei.
In der Türkei sei das Abkommen durch das Parlament gegangen und dort verabschiedet worden.

Das gewählte Parlament ist die einzige legitime Vertretung des libyschen Volkes

Nayed weist ausdrücklich darauf hin, dass das Parlament das einzige politische Organ in Libyen ist, das durch Wahlen seine Legitimation erhielt und von den Vereinten Nationen anerkannt ist. Im Gegensatz dazu sei der Präsidialrat in Tripolis praktisch nicht existent, da die Hälfte seiner Mitglieder zurückgetreten ist oder den Rat boykottiert. Alle Entscheidungen des Präsidialrats müssten aber einstimmig getroffen werden. Auch sei dem Präsidialrat in Tripolis niemals vom Parlament das Vertrauen ausgesprochen worden, ebenso wenig wie der ‚Einheitsregierung‘ von Fayez as-Sarradsch. Er habe somit absolut kein Mandat und auch keine verfassungsrechtliche Legitimität, solche Vereinbarungen wie das Abkommen mit der Türkei zu unterzeichnen. Das Parlament sei vom libyschen Volk gewählt und sei die einzige legitime Gesetzgebungsinstanz.

Leider habe die internationale Gemeinschaft 2015 sich nicht mit dem gewählten Parlament solidarisch erklärt, sondern habe die militanten Gruppen unterstützt, die 2014 die Kontrolle über die libysche Hauptstadt, die Zentralbank und die Existenzgrundlagen des libyschen Volkes übernommen hätten. Um die Islamisten zu beschwichtigen, sei 2015 das Skhirat-Abkommen ausgehandelt worden, das allerdings vom Parlament nie angenommen wurde; nichtsdestotrotz habe die internationale Gemeinschaft Sarradsch anerkannt.

Das Skhirat-Abkommen sah auch vor, dass Beschlüsse des Präsidialrats einstimmig gefasst werden müssen. In ihm ist die Freilassung politischer Gefangener und viele andere Bestimmungen wie die gerechte Verteilung des libyschen Reichtums zum Wohle der Bevölkerung festgelegt, die niemals von der ‚Einheitsregierung‘ umgesetzt wurden. Stattdessen rissen die Islamisten, die die libysche Zentralbank übernommen hatten, die gesamten Öleinnahmen an sich und nutzten sie zur Finanzierung terroristischer Aktivitäten nicht nur in Libyen, sondern in der gesamten Region.

Es sei richtig, dass der Präsidialrat international anerkannt werde, genauso richtig ist es aber auch, dass das libysche Parlament international anerkannt sei und zwar als gesetzgebendes Organ, das in dieser Funktion ein Abkommen mit der Türkei ratifizieren müsse.

Nayed ist der Meinung, dass dieses rücksichtslose Vorgehen Sarradschs bezüglich des Abkommens mit Erdogan dazu führte, dass Italien seine Position überdachte. Sarradsch habe damit nicht nur Italien, sondern die gesamt Europäische Union gegen sich aufgebracht. Nun sei auch seinen Unterstützern in Tripolis klar geworden, dass Sarradsch nicht nur im libyschen Konflikt instrumentalisiert werde, sondern auch ein Handlanger der Moslembruderschaft in Tripolis und in Istanbul sei.

Zusammenarbeit von ‚Einheitsregierung‘ und terroristischen Gruppierungen

Zum Problem von terroristischen Gruppierungen in Libyen meinte Nayed, dass es falsch war, die Moslembruderschaft als gemäßigte islamische Gruppierung einzuschätzen, die als Puffer zwischen dem Terrorismus und den Staaten dienen könne. Tatsächlich sei die Moslembruderschaft die Basis für den Terrorismus. Es gebe keinen Terroristen, dessen geistigen Überzeugungen nicht auf die Ideologie der Moslembruderschaft zurückgingen. Dies wurde klar, als in den USA nach Obama und Clinton Donald Trump die Regierung übernahm.

Gerade sei ein Pilot der Libyschen Nationalarmee (LNA) von einer Miliz gefangengenommen worden. Die Kämpfer, die demütigende Selfies mit dem Gefangenen gepostet haben, hätten Abzeichen des Innenministeriums der ‚Einheitsregierung‘ getragen. As-Sarrasch habe diesen Kämpfern zur Gefangennahme gratuliert. Just diese auf den Fotos identifizierten Kämpfer sind von der Staatsanwalt in Tripolis wegen ihrer Zugehörigkeit zum IS zur Fahndung ausgeschrieben. Dies heißt, IS-Kämpfer werden vom Innenministerium der ‚Einheitsregierung‘ bezahlt.

Bekannt sei auch geworden, dass Khaled al-Mishri, der Vorsitzende des Hohen Staatsrates (laut Skhirat-Abkommen ein Organ mit beratender Funktion) während einer Inspektionsreise nach Zawaiya dort das Haus des von der UN sanktionierten Anführers einer der berüchtigtsten Menschen- und Kraftstoffschmuggelmafia besuchte.

Nayed sagt, er stehe in ständigem Kontakt mit dem Leiter der UN-Sondermission für Libyen (UNSMIL) sowie dessen Stellvertreter und dem politischen Büro der UNSMIL. Alle Staaten würden ständig über die Situation in Libyen informiert, allen diplomatischen Vertretungen lägen die Berichte vor. Seit 2014 sei es das größte Problem, dass militante Terrorgruppen die libysche Zentralbank kontrollierten.

Die Dreistigkeit des Türkei-Sarradsch-Abkommens könnte den Fall der ‚Einheitsregierung‘ beschleunigen

Nayed ist der Meinung, dass die Türkei die Situation nicht weiter eskalieren wird, da dies Konfrontationen mit allen Ländern der Region zur Folge hätte. Neben ägyptischen Militärübungen fänden gerade Marineübungen im östlichen Mittelmeer statt, an denen Franzosen, Italiener und Griechen teilnehmen. Die Vereinigten Staaten hätten die Türkei und Russland darüber informiert, dass dieses rücksichtslose Abkommen inakzeptabel ist. Das libysche Volk sei keinem osmanischen Sultan untergeordnet. Und Nayed bedauert, dass Libyer aus angesehenen Familie wie as-Sarradsch und Muhammad al-Tahir Siala, sich dazu hergaben, dieses Abkommen zu unterzeichnen.

Die Berlin-Konferenz

Als großen Fehler bezeichnet Nayed dass an der Berliner Libyenkonferenz keine Libyer teilnehmen werden. Eine politische Lösung für Libyen sei Sache der libyschen Bevölkerung.

Der Kampf um Tripolis

Die LNA habe die jungen Männer in Tripolis aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen und die LNA zu unterstützen, da sie die Armee des gesamten libyschen Volkes sei. Sie sei weder die Armee der Kyrenaika noch die Armee von Ostlibyen, sondern sie setze sich aus Soldaten aus allen libyschen Städten zusammen: Tarhouna, Wirshafana, Bani Walid, Tripolis, Zawiya, Surman, den Nafusa-Bergen, dem Süden und allen anderen Teilen Libyens.

Dies sei die libysche Nationalarmee, die dem vom Volk gewählten libyschen Parlament angegliedert sei. Es könnten schon bald Vereinbarungen mit den jugendlichen Kämpfern in Tripolis getroffen werden, um einen reibungslosen Einzug der LNA in Tripolis zu ermöglichen, bei dem die Zivilbevölkerung geschützt wird und gleichzeitig die Anerkennung des Präsidialrats aufgehoben wird, ob von der Arabischen Liga, der Afrikanischen Union, der Europäischen Union oder den Vereinten Nationen.

Und Nayed weist darauf hin, dass am 17. Dezember Sarradsch vier Jahre im Amt ist. Laut dem Skhirat-Abkommen hätte seine Amtszeit nach der Anerkennung durch das Parlament nur um zweimal ein Jahr verlängert werden können, allerdings sei diese Anerkennung nie erfolgt. Sarradsch habe niemals einen Amtseid abgelegt.

Die ‚Einheitsregierung‘ habe keinerlei rechtliche oder verfassungsrechtliche Grundlage, um an der Macht zu bleiben. Dementsprechend habe das libysche Parlament das Recht, seine amtierende libysche Übergangsregierung zu unterstützen, die das Vertrauensvotum erhalten hat.

Während in Tripolis heftig gekämpft wird, sollen sich laut neuesten Meldungen westliche Diplomaten in der Stadt Janzour versammelt haben, um ihre Abreise auf dem Seeweg vorzubereiten.

https://www.addresslibya.co/en/archives/52277

https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-erdogans-riskante-libyen-wette-a-1276573.html

https://almarsad.co/en/2019/12/12/aref-nayed-erdogan-thinks-he-is-sultan-abdul-hamid-and-libya-is-an-ottoman-province-thanks-to-the-muslim-brotherhood/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden