Familie von al-Megrahi darf in Berufung gehen

Libyen/Lockerbie. Megrahi war für den Flugzeuganschlag über der Kleinstadt Lockerbie zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Nun könnte er posthum entlastet werden.

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2009 wurde Abdelbaset al-Megrahi wegen einer Krebserkrankung aus dem Gefängnis nach Libyen entlassen, wo er 2012 verstarb. Bereits 2001 und 2002 hatte der offiziell ernannte internationale UN-Prozessbeobachter Prof. Hans Köchler Berichte veröffentlichte, in denen er von einem „spektakulären Justizirrtum“ sprach.

Mustafa Fetouri befasst sich in einem Artikel am 26. März 2020 im Internetportal Middle East Monitor mit der nun erfolgten Zulassung eines Wiederaufnahmeverfahrens der Familie des 2012 verstorbenen Libyers Abdelbaset al-Megrahi in der Sache Lockerbie.

Die Schottische Kommission zur Überprüfung von Kriminalfällen (Scottish Criminal Cases Review Commission - SCCRC) hat am 11. März 2020 entschieden, dass eine Berufung beim höchsten schottischen Strafgericht gegen das damalige Urteil posthum von der Familie al-Megrahis eingelegt werden darf, denn es lägen Hinweise auf einen möglichen damaligen Justizirrtum unter anderen aufgrund eines „unangemessenen Urteils“ vor. Insgesamt fand die Kommission sechs Gründe, die eine Berufung rechtfertigen.

Al-Megrahi hatte bis zu seinem Tod stets seine Unschuld beteuert. Bei dem Prozess wurde sein Mitangeklagter Lamin Khalifa Fimah freigesprochen. Fimah lebt heute in Libyen.

Die Familie Megrahis will versuchen, Megrahis Unschuld zu beweisen. Sein Sohn Ali sagte der BBC, sein Vater sei „unschuldig und habe sich mehr um die Opfer gekümmert als um sich selbst“. Bereits mit der Zulassung zur Berufung in der Strafsache Lockerbie hat die Familie einen großen Sieg errungen.

Die englische Tageszeitung The Guardian stellte am 27. Juni 2001 anlässlich des Lockerbie-Prozesses folgendes fest: „…Bereits in der Nacht des Flugzeugabsturzes wurden ausschlaggebende Beweise unterschlagen. […] Die Tatsache, dass sich die Richter weigerten, sich von der großen Menge an zweifelhaften Beweisen, die sich durch die ganze Anklage zogen, umstimmen zu lassen, machte viele Beobachter sprachlos.“[1]

Der UN-Sicherheitsrat hatte am 31. März 1992 die Resolution 748 erlassen und wegen des Lockerbie-Attentats, das man Libyen in die Schuhe schob, umfassende Sanktionen bezüglich Luftfahrt, Technologietransfer und diplomatischen Vertretungen gegen Libyen verhängt. Am 11. November 1993 wurden die Sanktionen mittels der UN-Resolution 883 noch einmal verschärft: Staaten sollten Konten und Vermögenswerte Libyens und ihrer Repräsentanten einfrieren. Die Sanktionen machten sich für Libyen bitter bemerkbar, beeinträchtigten die weitere Entwicklung des Landes und hinterließen spürbaren Schaden in Wirtschaft und Gesellschaft. Libyen bestritt weiter hartnäckig, für den Flugzeugabsturz verantwortlich gewesen zu sein. Nicht nur die Afrikanische Union (OAU) und die Arabische Liga (AL), auch die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) und die Bewegung der Blockfreien Staaten (Non-Aligned Movement – NAM) stellten sich auf die Seite Libyens. Besonders die OAU berief sich dabei immer wieder auf die UN-Charta, in der die Pflicht zur Respektierung der Souveränität von Staaten und zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten festgeschrieben ist.

Im Dezember 1996 erklärte al-Megrahi, sich in einem neutralen Land einem Gerichtsprozess stellen zu wollen, um seine Unschuld zu beweisen. Anlässlich eines Staatsbesuchs in Libyen im Jahre 1997 geißelte Nelson Mandela die „Arroganz der USA“ und unterstützte die Forderung der Arabischen Liga und der Organisation für Afrikanische Einheit nach Aufhebung der gegen Libyen verhängten Sanktionen. Mandela hatte auch versucht, zwischen Libyen und dem Westen zu vermitteln. Die UN erklärten sich bereit, einen Beobachter zum Lockerbie-Prozess zu entsenden.

Von Anfang an bestanden ernsthafte Zweifel an dem Verfahren, durch das Megrahi identifiziert und mit der Kleidung in Verbindung gebracht wurde, die in dem Koffer gefunden wurde, der die Bombe enthalten haben soll. Laut dem SCCRC „hätte kein vernünftiges Gericht akzeptieren können, dass Herr Megrahi als Käufer identifiziert wurde“.

Der einzige Zeuge, der Megrahi mit der Kleidung in Verbindung brachte, war ein maltesischer Ladenbesitzer namens Toni Gauci, der 2016 starb. Er war Mitbesitzer eines Kleiderladens in Malta und sagte aus, dass er die Kleidung an al-Megrahi verkauft habe. Megrahi hatte immer vehement bestritten, jemals in dem Laden gewesen zu sein, geschweige denn etwas von dem Zeugen gekauft zu haben. Die Aussage von Toni Gauci war von zentraler Bedeutung für Megrahis Verurteilung. Warum dessen Aussage vor dem Sondergericht überhaupt akzeptiert wurde, ist nach wie vor ein Rätsel.

Der Rechtsprofessor Robert Black sprach von einer Verschwörung, um Libyen etwas anzuhängen: „Ich glaube, die schottische Staatsanwaltschaft wurde von Anfang an übermäßig vom US-Justizministerium, dem FBI und der CIA beeinflusst“. Später stellte sich heraus, dass Toni Gauci, bevor er ganz aus Malta verschwand, für seine Aussage gegen al-Megrahi zwei Millionen Dollar erhalten hatte.

Im April 1999 erfolgte die Auslieferung von al-Megrahi und Khalifa Fimah an das schottische Sondergericht. Die gegen Libyen verhängten Sanktionen wurden ausgesetzt. Im April 2003 erklärte sich Libyen bereit, die Verantwortung für die Handlungen der Libyer zu übernehmen und 2,7 Milliarden US-Dollar an die Hinterbliebenen der Opfer zu zahlen. Der UN-Sicherheitsrat hob daraufhin alle Sanktionen vollständig auf. Libyen hatte sich freigekauft. Shukri Ghanem, libyscher Premierminister in den Jahren 2003 bis 2006, sagte in mindestens zwei Radio- und Fernsehinterviews, dass Libyen für den Flugzeugabsturz nicht verantwortlich gewesen wäre und die Abfindung nur deshalb gezahlt hätte, „um Frieden zu erlangen und vorwärts zu kommen.“ Auch Gaddafis Sohn, Saif al-Islam, äußerte sich zwanzig Jahre später zu den Bekenntnissen: „Wir haben dem UN-Sicherheitsrat in einem Brief geschrieben, dass wir verantwortlich sind für das Handeln unserer Leute. Das heißt aber nicht, dass sie es auch waren… Ich gebe zu, wir haben mit Worten gespielt. Das mussten wir auch. Das ging nicht anders.“

Al-Megrahi wurde am 31. Januar 2001 schuldig gesprochen, eine Bombe in das Flugzeug des PanAm-Flugs geschmuggelt zu haben. Er verbrachte acht Jahre im Gefängnis, bevor er 2009 entlassen wurde, da er unheilbar an Prostatakrebs erkrankt war. Eine ZDF-Fernseh-Dokumentation zog 2013 Bilanz und stellte die Frage: „War der verurteilte Libyer Megrahi nur das Bauernopfer eines weltpolitischen Spiels westlicher Geheimdienste und Regierungen?“

Sollte al-Megrahi rehabilitiert werden, könnte nicht nur seine Familie Wiedergutmachung fordern. Auch der libysche Staat hat durch diese erzwungene Verurteilung schweren wirtschaftlichen Schaden erlitten. Er müsste nicht nur rehabilitiert werden, sondern könnte auch die Rückzahlung der 2,7 Milliarden bezahlter Wiedergutmachung an die damaligen Opfer fordern, die damals von der UN gefordert worden war.

Man kann nur hoffen, dass das schottische Gericht diesmal ein unvoreingenommenes Urteil fällen wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der derzeitige US-Generalstaatsanwalt William Barr der amtierende Generalstaatsanwalt war, der 1991 die beiden Libyer angeklagt hat. Gegenwärtig hat William Barr übrigens den venezolanischen Präsidenten Maduro auf dem Kicker, den er wegen Drogenhandels anklagt hat.

[1] https://www.theguardian.com/uk/2001/jun/27/lockerbie.features11

https://www.middleeastmonitor.com/20200326-lockerbies-only-convict-may-be-exonerated-posthumously/

https://www.freitag.de/autoren/gela/lockerbie-schmierentheater-reloaded

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Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

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