Flüchtlingsströme aus Nordafrika oder "Piccola Tunisia in Italia"

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In der Märzausgabe von Le Monde Diplomatique wird der Sorge mancher Tunesier Ausdruck gegeben, die befürchten, dass sich ihre Landsleute bald nach Ben Ali zurücksehnen könnten, da dessen Anhänger nun in Tunesien eine Politik der verbrannten Erde betrieben. Sämtliche Ordnungskräfte seien aus dem Straßenbild verschwunden, Polizei nicht mehr existent. Chaos breite sich aus.
Nach Ben Ali und seinem Polizeistaat zurücksehnen könnte sich auch bald mancher italienische Politiker, konfrontiert mit den massiven Flüchtlingsströmen aus dem nordafrikanischen Land.

Flüchtlingsströme aus Tunesien
Über 20.000 Tunesier sind in den vergangenen Wochen in Italien eingetroffen, ungehindert aus Tunesien in zumeist kleinen Fischerbooten ausgereist. Die meisten von ihnen stranden auf Lampedusa, diesem Vorposten Europas im Mittelmeer. Lampedusa wird von den Flüchtlingsschiffen bevorzugt angesteuert, stellt die Fahrstrecke zu dieser Insel doch die kürzeste Verbindung zwischen dem afrikanischen Kontinent und Europa dar und vermindert somit das Risiko, für die gefahrvolle Fahrt über das Mittelmeer - wie einige Tausend Menschen im Jahr - sogar mit dem Leben bezahlen zu müssen.

Bisher konnten Barrieren wie Mauern, Zäune, Militärkontrollen, elektronische und Infrarotkontrollen und Abkommen mit den Herkunfts- und Transitländern in Afrika den Schengenraum gegen die afrikanischen Flüchtlinge relativ dicht machen. Mit Hilfe von Frontex, zuständig für die europäische Zusammenarbeit an den Außengrenzen, versuchte Europa, das Migrantenproblem immer mehr nach Nordafrika zu verlagern.

Doch in den letzten Wochen hat sich die Menge der auf Lampedusa ankommenden Flüchtlinge dramatisch erhöht. Ausschlaggebend dafür sind der Krieg in Libyen und die instabile politische Lage in Tunesien. Schon vorher geplagt von hoher Arbeitslosigkeit, strömten nun all die Ägypter, Tunesier und Marokkaner, die vorher in Libyen Brot und Auskommen gefunden hatten, zurück in ihre Heimatländer. In diesen politisch und ökonomisch schwierigen Zeiten stellen sie für ihre Länder, die sich nach den politischen Umstürzen versuchen neu zu sortieren, eine weitere Belastung dar.

Die migrationswilligen Menschen nutzen natürlich die einmalige Chance, die sich ihnen durch das Chaos in Libyen und Tunesien bietet. Schlepper machen das Geschäft ihres Lebens, nur stürmisches Wetter kann die Woge der Auswanderungswilligen im Moment stoppen.

So erzählt zum Beispiel Farid, er sei seit acht Jahren arbeitslos. Vorher hätte er in Hammamed in einem Hotel gearbeitet. Aber er sei chancenlos in Tunesien, es gäbe einfach zu viele junge Menschen, die keine Arbeit fänden. Und es würde immer schlimmer und dazu würde auch alles immer noch teurer. Für die Überfahrt habe er über tausend Euro bezahlt, 45 junge Männer seien sie auf einem vier Meter langen Fischerboot gewesen. Natürlich bestünde ein Risiko, doch das wäre eine einmalige Chance, die er einfach hätte nutzen müssen.

Auch für jeden, der ein einigermaßen seetüchtiges Boot in Tunesien besitzt, ist das momentane Chaos im Land die Chance seines Lebens. Kontrollen gibt es nicht mehr, und 45 mal 1000 Euro, das macht schon 45.000 Euro. Schafft es der tunesische Fischer auch nur zweimal von der tunesischen Küste nach Lampedusa, hat er fast 100.000 Euro verdient. Für so viel Geld würde auch mancher Europäer ein Risiko eingehen, ein tunesischer Fischer kann so eine Möglichkeit schlichtweg nicht ausschlagen.

Tunesien – Italien – Frankreich – wohin mit den Menschen?
Für Italien sind diese vielen Bootsflüchtlinge ein nahezu unlösbares Problem. Halten sich in Italien doch auch schon viele Illegale aus anderen afrikanischen Ländern aber auch aus Balkanstaaten wie Rumänien und Albanien auf. Zwischen Italien und Tunesien war bisher vertraglich geregelt, dass Italien pro Tag vier Emigranten rückführen darf. Inzwischen will Rom gemäß einer neuen mit Tunis getroffenen Vereinbarung alle neu ankommenden tunesischen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückschicken.

Dabei wollen die meisten der tunesischen Emigranten überhaupt nicht in Italien bleiben. Sie wollen weiter nach Frankreich, zu Familienangehörigen und Freunden. Und da trotz eindringlicher Hilferufe das übrige Europa Italien mit seinem Tunesien-Problem allein lässt – laut Schengenabkommen soll jeweils der Staat für die Prüfung des Asylverfahrens zuständig sein, in das der Asylbewerber nach Europa eingereist ist – hat sich der italienische Innenminister Maroni daran gemacht, den illegal eingereisten Tunesiern eine befristete Aufenthaltserlaubnis auszustellen, die ihnen ein freies Reiserecht in Europa zusichert.

Dagegen liefParis Sturm. Es hinderte sehr zum Ärger Roms die Emigranten daran, nach Frankreich einzureisen und hat die geltenden Einreisevorschriften für diesen Personenkreis erhöht. So müssen Tunesier nun mindestens 61 Euro pro Tag vorweisen, um die Grenze nach Frankreich überschreiten zu dürfen.

Inzwischen haben sich Italien und Frankreich darauf geeinigt, mit gemeinsamen Patrouillen zu See und in der Luft gegen die Flüchtlingsströme vorzugehen.

Die Menschenwürde der Emigranten in Apulien achten
Die Emigranten werden unter Federführung Roms von Lampedusa aus auf verschiedene Lager innerhalb Italiens verteilt, mit Vorliebe auf Camps in Apulien. Das größte Auffanglager befindet sich in Bari, aber seit einigen Tagen werden viele Flüchtlinge auch in einer auf einem ehemaligen Militärflughafen errichteten Zeltstadt zwischen Manduria und Oria untergebracht. Inzwischen befinden sich dort etwa 1700 Tunesier, fast ausschließlich junge Männer.

Der Weg zum Camp kann man nicht verfehlt werden, denn auf der Landstraße ist eine kleineVölkerwanderung im Gange. Junge Männer, die sich im Camp langweilen, pilgern in kleinen Gruppen nach Oria, das nur drei Kilometer von der Zeltstadt entfernt auf einer Anhöhe liegt. Normalerweise ist Oriaein kleines verschlafenes Städtchen mit einer alten Stauferburg, doch heute ist alles anders. Fast ausschließlich Tunesier bevölkern die Parkanlagen und sitzen in den Cafés. Oria könnte heute auch eine Stadt im Maghreb sein. Die Einheimischen reagieren verblüfft auf die Invasion, die ihr Städtchen heimsucht, aber nicht aggressiv. Vielleicht erinnert sich so manch ältere Apulier an seine eigene Jugend, als auch er als Gastarbeiter sein Glück in der Fremde suchen musste, weil es im bitterarmen Apulien für ihn keine Zukunft gab.

Die jungen Tunesier blicken sich verunsichert in Italien um, wohl selbst erstaunt, wo sie hier gelandet sind. Ein bisschen ängstlich und unsicher wirken sie, aber vor allem ahnungslos, ob der Zukunft, die sie in Europa erwartet. Als wir in einer Bar mit Mohammed ins Gespräch kommen, erzählt er: Ddie Überfahrt von Tunis nach Lampedusanur hätte ihn zwar sechshundert Euro gekostet, dafür sei die vom italienischen Staat organisierte Schifffahrt von Lampedusa nach Tarantano in Apulien (die nächst gelegene Hafenstadt) gratis gewesen, obwohl viel länger und komfortabler.

Die Flüchtlinge und die inneritalienische Politik
Apulien wird von einer Mitte-Links-Regierung unter Führung von Nicchi Vendola regiert, einem ökologisch orientierten, ehemaligen Kommunisten, der sich zum Katholizismus und zur Homosexualität bekennt und in der Bevölkerung höchste Wertschätzung genießt. In seiner Person könnte der politischen Klasse in Italien ein ernstzunehmender Gegenspieler erwachsen. Ein Zufall, dass der italienische Innenminister gerade in Vendolas Apulien die neuen Flüchtlingscamps errichten lässt?

Vendola wehrte sich erfolglos gegen die Errichtung dieses Camps bei Manduria, hielt die Belastungen, die denen kleinen Städtchen ringsum daraus erwachsen, für zu hoch. Doch nun, da die Tunesier da sind, stemmt er sich gegen deren Internierung in den Lagern. Sie genießen Bewegungsfreiheit und werden gut versorgt. Er bezeichnet sie als „eine Generation auf der Flucht vor Armut, Angst, Hunger und Krieg“ und rief seine apulischen Bürger dazu auf, sich in die Lage der Flüchtlinge zu versetzen, ihnen mit Respekt zu begegnen und ihre Menschenwürde zu achten.

Berlusconi selbst verliert auch hier im Süden des Landes immer mehr Rückhalt und bald könnte es ihm wie Obama ergehen, der sich einst großer Beliebtheit erfreute: Seit er Bomben und Granaten auf Libyen abregnen lässt, wird er in Süditalien nur noch spöttisch als „Mister Nobel“ bezeichnet – in Anspielung auf dem ihn zugesprochenen Friedensnobelpreis.

Flüchtlinge aus Schwarzafrika
Neben den tunesischen Flüchtlingen, die im Moment die Schlagzeilen beherrschen, seien aber auch nicht die vielen Schwarzafrikaner aus Somalia, Sudan, Nigeria und anderen subsaharischen Staaten vergessen, die im Moment natürlich auch wissen, dass ihre Chancen für eine Flucht nach Europa gut stehen. Um überhaupt nach Nordafrika und an die südliche Mittelmeerküste zu gelangen, mussten sie erst eine abenteuerliche und lebensgefährliche Saharadurchquerung auf überladenen Lkws oder Pickups hinter sich bringen. Es wird geschätzt, dass bis zu 120.000 Personen jedes Jahr aus den Ländern südlich der Sahara in Richtung Nordafrika aufbrechen, 70 % von ihnen haben Libyen als Ziel. Über eine Million von ihnen lebt in Libyen (Altas der Globalisierung, 2009). Häufig sind sie in die von den Libyern aufgegebenen Altstädte gezogen, in denen sich eine schwarzafrikanische Subkultur entwickelt hat. Die jungen Männer arbeiten in der Landwirtschaft, verdingen sich ihr Brot als Tagelöhner. Und natürlich träumen alle vom Sprung über das Mittelmeer nach Europa.

Und nun wieder die schrecklichen Bilder im Fernsehen. Letzten Donnerstag sind über 150 Menschen ertrunken, als ihr Schiff bei der Überfahrt nach Lampedusa mit Motorschaden in schwere See geriet. Es handelte sich in der Hauptsache um Menschen aus Äthiopien und Eritrea.

Außer einigen Menschenrechtsaktivisten hatten die europäischen Politiker keinerlei Bedenken, Gaddafi damit zu betrauen, die libysche Küste zu kontrollieren und unerwünschte Schwarzafrikaner in Lager zu sperren, um sie anschließend wieder in die Sahara zurückzuschicken. Alle Abmachungen, die einst Berlusconi mit Libyen traf, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen, sind nur noch Makulatur. Kein Wunder, dass die Menschen in Süditalien sich nun Sorgen machen, Gaddafi könne seine bei Kriegsbeginn ausgestoßene Drohung, er werde nun Europa schwarz machen, ernst nehmen. „Jetzt bekommt Frankreich das libysche Öl und wir bekommen die Flüchtlinge“, ist ein häufig gehörter Satz in Italien.

Hat die nächste große Völkerwanderung schon längst begonnen?

(Die Autorin hält sich im Moment in Apulien auf)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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