Geheimnisvolle Vorgänge rund um Sirte

Libyen. Wie stark ist der IS wirklich und unter welchem Schutz steht er?

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Während die ‚Einheitsregierung‘ unter Sarradsch sich darüber freute, dass sich auch die im Osten operierenden Milizen von Ibrahim Dschadhran (Kommandant der Sicherheitsmilizen der Ölanlagen) dem Oberbefehl der ‚Einheitsregierung‘ unterworfen hätten und nun von Osten gegen Sirte zögen, um den IS zu bekämpfen, machten sich auch Misrata-Brigaden auf den Weg, um die Stadt vom Westen und Süden her zu umzingeln.

Die Welt[1] hatte bereits in einem Artikel darüber berichtet, dass Misrata eine Stadt der Moslembruderschaft ist, die [dank der massiven Unterstützung von Katar und der Türkei] immer noch reich und von Wohlstand gesegnet ist, während das restliche Libyen im Chaos versinkt. Seit jeher bekannt für ihre Geschäftstüchtigkeit, verwundert es nicht, dass sich Misrata nun auf die Seite der ‚Einheitsregierung‘ geschlagen hat, sind von dort doch Gelder und Waffen von der ‚internationalen Gemeinschaft‘ frei Haus zu erwarten, wurden Misratas islamistische Milizen anerkannt und wichtige neue politische Posten mit Moslembrüdern aus Misrata besetzt.

Die internationalen Medien berichten brav über die Fortschritte bei der Bekämpfung des IS in und um Sirte und um die Bedeutung dieser militärischen Erfolge für die ‚Einheitsregierung‘ von Abu Sita (Marinebasis bei Tripolis).

Bei der Berichterstattung von Augenzeugen aus der Stadt Sirte selbst ergeben sich allerdings beträchtliche Ungereimtheiten.

Während bereits am 29. Mai die ‚Einheitsregierung‘ den Vormarsch der ihnen angeschlossenen Milizen auf den IS in Sirte bejubelte, berichteten Einwohner, es sei in der Stadt die ganze Nacht über ruhig geblieben, vom IS sei keine Spur mehr zu sehen gewesen.

Am 6. Juni meldeten Augenzeugen, dass in den Vororten gekämpft werde und es weiterhin zu sporadischen Zusammenstößen zwischen dem IS und den LIFG-Milizen der ‚Einheitsregierung‘ komme. Am 8. Juni hieß es, zwei Militärjets hätten das Zentrum von Sirte bombardiert und die Stadt sei von starken Explosionen erschüttert worden. Im Süden der Stadt käme es zu Kämpfen zwischen IS und Al-Kaida-/LIFT- und Misrata-Milizen. An den Verkehrsknotenpunkten hätte der IS Checkpoints errichtet. Auffallend sei, dass sich unter den IS-Kämpfern viele ausländische Söldner befänden. Der IS hätte nach dem Abzug Ende Mai sein Hauptquartier in Sirte wieder bezogen.

Doch am 9. Juni scheint sich das Blatt auf mysteriöse Weise gewendet zu haben. Augenzeugen berichten aus Sirte, dass sich in den frühen Morgenstunden die Kämpfer des IS aus den östlichen Gebieten der Stadt siebzig Kilometer weit zurückgezogen hätten. Die Milizen von Ibrahim Dschadhran (Kommandant der Sicherheitsmilizen der Ölanlagen), die sich der ‚Einheitsregierung‘ angeschlossen hatten, könnten sich ohne auf Widerstand zu stoßen frei in der Stadt bewegen. In allen Gebieten der Stadt (West- und Ostachse, Campus etc.) wurde das komplette Verschwinden des IS inclusive seiner Waffen und Fahrzeugen bestätigt. Auffallend sei auch, dass keine Meldungen über Gefangennahmen oder Opfern von IS-Kämpfern vorlägen. Doch wie und wohin konnte der IS so schnell verschwinden?[2]

Was wird hier gespielt? Erklären lassen sich die Vorgänge nur so, dass der IS freies Geleit für den Abzug bekommen hat, während sich Sarradsch und seine ‚Einheitsregierung‘ den Erfolg beim Kampf gegen den IS und die Eroberung von Sirte ans Revers heften. Allerdings scheint es zu diesen Kämpfen um Sirte nicht wirklich gekommen zu sein. Wie soll der IS besiegt werden, wenn Martin Kobler, Paolo Serra und die Milizen der Einheitsregierung den IS ziehen lassen, damit er an anderer Stelle wieder auferstehen kann? Wie eng ist der IS mit den al-Kaida- und LIFT-Milizen (Libyan Islamic Fighting Group), die nun Bestandteil der ‚Nationalgarde‘ sind, verbandelt? Ist nicht anzunehmen, dass die Moslembruderschaft von Misrata dem IS ideologisch bedeutend näher steht als dem säkularen Parlament in Tobruk und General Hefter?

Wie auch immer, es ist kaum auszuschließen, dass geplante Waffenlieferungen an die ‚Nationalgarde‘ der Abu-Sita-Regierung in den Händen dschihadistischer Gruppierungen und sogar des IS landen. Ist der ‚internationalen Gemeinschaft‘ und der UN wirklich klar, wen sie hier mit den Misrata-, LIFG-Milizen zu ihren Waffenbrüdern erklärt hat? Kann das Bekenntnis zur Anerkennung der ‚Einheitsregierung‘ nicht ein reines Lippenbekenntnis sein? Hat die ‚internationale Gemeinschaft‘ überhaupt einen Schimmer davon, gegen wen die Waffen in einigen Monaten gerichtet werden könnten? Das scheint aber alles keine Rolle zu spielen: Kobler beziehungsweise die hinter ihm stehenden Kräfte brauchen für ihre ‚Abu-Sita-Einheitsregierung‘ schnelle Erfolge – und wenn sie sich dafür mit dem IS arrangieren müssen.

Vielleicht will man den IS in Libyen auch gar nicht wirklich aufreiben? Man würde damit ja das Ticket zerreißen, mit dem man jederzeit militärisch nach Libyen reisen kann – auf Einladung der ‚Einheitsregierung‘. Die im Westen kursierenden Angaben über die Anzahl der IS-Kämpfer in Libyen sind nach anderen Angaben auch sehr übertrieben. Tatsächlich soll es sich statt um einige tausend nur um einige hundert handeln.[3]

Wie hatte der ehemalige britische Botschafter in Syrien bemerkt: Die internationale Gemeinschaft habe jeden politischen Kompass verloren, wenn sie islamistisch-dschihadistische Gruppierungen wie al-Kaida unterstützt. Und jetzt freies Geleit für den IS? Die Kompassnadel rotiert nur noch.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

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