Islamischer Staat und andere Ungereimtheiten

IS. Die Geister, die sie riefen...

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Islamistische Gruppierungen

Es fällt nicht leicht, den Überblick zu behalten bei den mittlerweile mehr als 200 verschiedenen islamistischen Grüppchen und Gruppierungen, die allein in Libyen ihr Unwesen treiben und scheinbar aus dem Nichts entstanden sind. Die bekanntesten unter ihnen sind die Muslimbruderschaft, Al-Kaida im Islamischen Maghreb, Sharia, Daesh, LIFG (Libyan Islamic Fighting Group), IS in Libyen. Zu allem Überfluss ist es für den der arabischen Schrift nicht Kundigen schwierig, die unterschiedlichen Schreibweisen der ins Lateinische transkribierten arabischen Namen der jeweiligen Gruppierung zuzuordnen. Wird der Weg vom Arabischen über das Englische ins Deutsche genommen, verkompliziert sich die Transkription noch einmal. (Nur nebenbei, wen’s interessiert: Es gibt eine allgemein anerkannte Transkription vom Arabischen ins Deutsche nach DIN 31635 – siehe https://de.wikipedia.org/wiki/DIN_31635).

Noch kurz zum Milizenverband Daesh, manchmal auch Daiish oder Da’esh geschrieben. Das Wort ist die Abkürzung für „Dawlat al-Islamiyah f’al-Iraq wa al-Sham“ („Islamischer Staat im Irak und in der Levante“). Daesh selbst mag diese Abkürzung nicht, da sie den arabischen Wörtern „Daes“, was soviel wie „etwas zertreten“ beziehungsweise „Dahes“, eine Bezeichnung für jemanden, der Zwietracht sät, ähnelt.

Häufig schließen sich Gruppen zusammen, teilen sich wieder, benennen sich um. Das ist verwirrend und macht es schwer, den Überblick zu behalten und ihre tatsächliche Stärke einzuschätzen. Droht ein Milizchen in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, weil es nur noch aus wenigen Mitgliedern besteht – vielleicht bestand sie auch niemals aus mehr – schließt sie sich einfach dem IS an, zum Nutzen von beiden: Das Milizchen wird durch das neue Etikett aufgewertet und der IS kann behaupten, er hätte jetzt wieder einen neuen Stützpunkt. In der Vogelwelt nennt man so etwas Aufplustern. Für Außenstehende ist es schwierig zu erkennen, ob der neue IS-Ableger aus zehn, hundert oder noch mehr – oder auch weniger – Personen besteht. Um seine Gefährlichkeit zu beweisen, reicht eine selbst gebastelte Bombe auf einem Markt, in ein Hotel, vor eine Polizeistation oder ein – vielleicht gefälschtes – Propagandagewaltvideo im Internet. Allerdings zeigt sich das Gros der IS-Kämpfer seit einiger Zeit bestens ausgerüstet und mit modernster Waffentechnik ausgestattet. Woher kommen Ausrüstung, Waffen und Geld?

Wieso wechseln nicht nur islamistische Gruppen und Milizen ständig ihre Namen, sondern ebenso ihre Führungspersönlichkeiten? Allein für Abu Bakr al-Baghdadi führt Wikipedia fünf verschiedene Namen und Schreibweisen auf. Der sogenannte IS entwindet sich jeder Fassbarkeit, bleibt im wahrsten Sinne unbegreiflich, nur ein diffuses Bedrohungsgefühl wabert in einem verschwommen-geheimnisvollen und gefährlichen Nebel. Wer vernebelt unsere Hirne, wenn es um islamistische Terrormilizen geht? Und warum?

Das Auftreten der IS-Milizen

IS-Milizen marschieren immer – egal wo sie auftreten – unter der gleichen Flagge: auf schwarzem Grund der in weiß gehaltene arabische Schriftzug „La Allah ila Allah“, was bedeutet: „Es gibt nur einen einzigen Gott“. Merkwürdig, dass sich der IS eine Aussage, die nicht gerade durch ihre Originalität auffällt, als Schlachtruf gewählt hat. Diese Aussage kann auch jeder Christ oder gläubige Jude unterschreiben. Manchmal ist bei Al-Kaida-Milizen diese schwarze Fahne noch mit einem weißen Kreis geschmückt, der zumindest einen Verweis auf Mohammed enthält. „La Allah ila Allah“ hat für alle gläubigen Moslems eine hohe religiöse Bedeutung, auch für die überwältigende muslimische Mehrheit, die den IS für eine brutale Terrormiliz hält und deren Kämpfer für Takfirs, ungläubige Moslems. Sich diesen Spruch auf die Fahne zu schreiben, kann daher nur als anmaßend bezeichnet werden. Oder ist er mit Bedacht gewählt, um den Islam insgesamt als Religion zu diskreditieren, im Kampf der Kulturen? In wessen Sinne wäre dies?

Ebenfalls auffallend ist die den Ninjas – ehemalige japanische Partisanenkämpfer, bekannt durch ihre Spionageaktivitäten – entliehene schwarze Phantasiekleidung mit weiten Hosen und gegürteten Jacken, die einem Actionthriller beziehungsweise einem Computerspiel entsprungen scheinen. Sie nennen sich IS wie islamischer Staat, ISIS wie islamischer Staat in Syrien oder ISI wie islamischer Staat im Irak. Das Ziel dieser Gruppe(n) ist die Errichtung eines Kalifats, bei dem sowohl die staatliche als auch die geistliche Führerschaft in der Hand einer Person, des Kalifen, liegt. Also in etwa ein islamischer Vatikan, nur halt viel größer. Die Idee eines Kalifats hatte schon einmal Hochkonjunktur, insbesondere zu Zeiten des späten Osmanischen Reiches, als man dem durch seine Technik überlegenen Westen, der eine beispiellose Expansions- und Kolonisationspolitik betrieb, eine der eigenen Kultur entstammende Macht entgegensetzen wollte, anstatt den westlichen Werten nachzustreben und diese zu übernehmen.

Ein Markenzeichen der sogenannten IS-Gruppen ist die Ausstrahlung von brutal-schaurigen Videos im Internet, die dreierlei bezwecken. Zum einen versetzen Bilder von zum Beispiel grausamen Massenköpfungen Feinde in Angst und Schrecken, die schon zur Flucht ansetzen, wenn sich auch nur in weiter Ferne IS-Kämpfer ankündigen. Zum zweiten üben diese Bilder, gerade weil sie so bedrohlich wirken, große Anziehungskraft auf potentielle IS-Sympathisanten aus, die den „dekadenten“ und den Krieg in die arabische Welt tragenden Westen mit Freuden vor diesem IS erzittern sehen. Jugendlichen gelingt es, mit der Hinwendung zum IS, die eigene gefühlte Hilflosigkeit zu überwinden und nicht nur ein Selbstwert-, sondern ein Überlegenheitsgefühl zu emtwickeln. Der IS kann durch seine Angst und Schrecken auslösende, Hollywood reife Selbstinszenierung – archaische Tötungsrituale, geheimnisvolle Maskierung, japanischen Ninja-Kämpfern entlehnte Kostümierung, teure Autos, moderne Waffen – tatsächlich immer neue Kämpfer zu rekrutieren. Das Abtauchen in die inszenierte Welt einer globalen mediokrenen Jugendkultur, egal ob im Westen oder in arabischen Raum, hilft gegen Frustration, Isolation und Werteverlust, ist Flucht in eine neue, aufregende Welt. Daneben zählt natürlich auch, dass den jugendlichen Kämpfern der islamistischen IS-Milizen gutes Geld winkt.

Diese beiden Emotionen, Angst beziehungsweise Bewunderung, die der IS auszulösen in der Lage ist, bilden den dritten Grund für die Ausstrahlung von Gewaltvideos im Internet: Die USA und andere westlichen Staaten können damit Fronten gegen islamische Staaten aufbauen sowie Waffenlieferungen an und Kriege in fremden Ländern rechtfertigen. Gleichzeitig wird zuhause der Überwachungsstaat weiter ausgebaut – um vor angeblichen Bedrohungen durch den islamistischen Terror zu schützen.

Doch handelt es sich bei diesen Köpfungs- und sonstigen Schreckensvideos wirklich um reale Vorkommnisse oder sind es inszenierte Bilder, bewusst für bestimmte Zwecke eingesetzt? Ernstzunehmende Zweifel an der Echtheit der im Netz auftauchenden Videos werden immer häufiger geäußert. Gerade im Enthauptungsvideo der 21 ägyptischen Kopten gibt es etliche Hinweise darauf, dass dieses Video gefälscht sein könnte, angefangen beim Aufnahmeort – angeblich gedreht an der libyschen Küste nahe Sirte – bis zur äußerst professionellen Aufnahmetechnik. Auch soll es sich bei den Tätern nicht um Araber gehandelt haben, dafür seien sie zu groß und zu hellhäutig gewesen, und der Hauptprotagonist soll ein Arabisch mit deutlich ausländischem Akzent gesprochen haben.

Doch wie konnte dieser nebulöse IS, der anfangs ISIS hieß – diese Abkürzung weckte wohl zu viele positive Assoziationen, von einer ägyptischen Göttin bis zu westlichen Modelabels – überhaupt diese unglaubliche, die ganze Welt in Angst und Schrecken versetzende Bedeutung erlangen?

Die Entstehung des IS in islamischen Staaten

Bereits in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts unterstützte der CIA die Moslembruderschaft gegen Gamal Abdel Nasser in Ägypten, „Sarekat Islam“ gegen Sukarno in Indonesien und „Jamaat-e-Islami“ gegen Zulfiqar Ali Bhutto in Pakistan, um der Ausbreitung der marxistischen Ideologie in den islamischen Ländern entgegenzuwirken. In den 1980er Jahren bildete die CIA islamistische Al-Kaida-Kämpfer aus, die in Afghanistan mit finanzieller Unterstützung aus Saudi Arabien gegen russische Truppen kämpften. Als sich nach dem Abzug der sowjetischen Truppen die afghanischen Stämme gegen die USA wendeten, die 9/11-Attentate Osama bin Laden in die Schuhe geschoben wurde, der sich angeblich in Afghanistan versteckt halten sollte, drehte sich das Verhältnis der USA zu Al-Kaida. Aus den ehemaligen Verbündeten wurden Feinde. Das Verhältnis zwischen CIA und Al-Kaida ist seitdem stets ein gespaltenes, je nachdem, ob die Aktivitäten der Terrormiliz den Interessen der USA in einem Land dienen oder nicht, im ersten Fall werden sie unterstützt, im zweiten aggressiv bekämpft.

Im Jahr 2003 führten die USA mit ihrer „Koalition der Willigen“ Krieg gegen den Irak. Nach ihrem Sieg besetzten sie das Land, zerstörten die von Saddam Hussein errichteten Sicherheitsstrukturen und ersetzten sie durch eine überdominante schiitische Verwaltung. Die sunnitischen Bevölkerungsteile wurden unterdrückt, eine neoliberale Wirtschaftspolitik installiert. Viele Sunniten fanden sich plötzlich ihrer Existenz beraubt. Ein idealer Nährboden für die Entstehung radikaler sunnitischer Milizen.

Der Begriff ISI oder auch ISIL taucht erstmals 1999 in Zusammenhang mit Abu Musab al-Zarqawi auf, ein Jordanier, der angeblich ein Trainingscamp im Irak betrieb und für terroristische Anschläge verantwortlich zeichnete. Ursprünglich hatte seine Terrorgruppe den Namen „Jama at al-Tawhid wal-Jihad“, bevor sie sich 2004 in „Al-Kaida im Irak“ umbenannte und sich Osama bin Laden anschloss. Anschließend operierte die Gruppe unter verschiedenen Namen bis ihr heutiger Anführer, Abu Bakr al-Baghdadi, 2006 den Islamischen Staat im Irak (ISI) ausrief, 2013 ein „al-Sham“ hinzufügte und ihn damit zum ISIS machte, zum „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“ („Al-Dawla Al-Islamiya fi al-Irq wa al-Sham“), wobei die Levante, das Morgenland, die heutigen Länder Syrien, Libanon, Israel, Palästina und Jordanien umfasst. Im Juni 2014 ernannte sich Abu Bakr al-Baghdadi zum Kalifen Ibrahim und erklärte sich als solcher zum obersten Führer des islamischen Staates. Doch wer ist Abu Bakr al-Baghdadi wirklich? Seine Biografie verfasste ein Bahrainer namens Turki al Bin’Ali, ein führender Ideologe des IS. 2004 soll Abu Bakr al-Baghdadi im Irak von den USA verhaftet worden und ein knappes Jahr in einem Lager interniert gewesen sein. Als Grund für seine Entlassung wurde angegeben, er sei nicht gefährlich. Übrigens berichtete die New York Times 2007, dass es gar keinen Al-Baghdadi gäbe, sondern es sich dabei um eine erfundene Person handle, deren erdachter Namen den Rückschluss auf eine irakische Herkunft nahe lege.

„Kalif Ibrahim“ soll heute in Syrien leben, in dem Land, in dem gleich drei Konfliktlinien aufeinander treffen. Die syrische Regierung unter Assad kämpft gegen Aufständische, die von Saudi Arabien und der Türkei unterstützt werden, während der Iran hinter der Assad-Regierung steht. In Syrien sind auch die Interessen von Russland und den USA berührt, die Russen unterstützen die Regierung, die USA steht auf Seiten der Rebellen, allerdings der „guten“ Rebellen, nicht jene des IS, der wiederum von Katar Unterstützung bekommt. Die sogenannten „gemäßigten“ Rebellen haben sich, da militärisch in einer schwachen Position, soweit säkular wieder der Regierung angeschlossen, oder sind, soweit militant-sunnitisch, mitsamt ihren von den Unterstützerländern gelieferten modernen Waffen zu den islamistischen Milizen übergelaufen und somit nicht mehr existent. Es ist also kein Zufall, dass die iranisch-amerikanischen Atom-Verhandlungen wieder umso mehr Fahrt aufnehmen, umso verzwickter die Situation in Syrien für die USA werden und ein Sieg über Assads Syrien und somit auch ein Ausschalten der mit Iran verbandelten libanesischen Hisbollah immer unwahrscheinlicher wird. Kerry denkt inzwischen laut über Verhandlungen mit der syrischen Regierung nach, die vorher kategorisch abelehnt wurden.

Der „Krieg gegen den Terror“

Nachdem der Kommunismus besiegt war, brauchte es ein neues Schreckgespenst, um die eigene, auch aus wirtschaftlichen Gründen dringend benötigte Hochrüstung zu begründen. Der „Krieg gegen den Terror“ hat den amerikanischen Steuerzahler seit 2001 an die 6,6 Billionen Dollar gekostet, davon wurden Milliarden Dollar in die Kassen der Washingtoner Militäreliten gespült. Auch so geht Umverteilung von unten nach oben. Die Kosten für die Finanzierung und Bewaffnung von Osama bin Laden in Afghanistan dürften in der Größenordnung von drei Milliarden Dollar gelegen haben. Man stelle sich vor, was diese enorme Summe in einem armen Land wie Afghanistan bedeutet! Ein neuer Feind tut ebenfalls not, um die Bevölkerung der europäischen Staaten auf den Eintritt in weitere NATO-Kriege einzustimmen. So kreierte man gekonnt den sogenannten fanatischen Islam. Nun sind die modernen Kreuzritter gefordert, in die Schlacht gegen islamische Länder mit missliebigen Regierungen zu ziehen, natürlich in solche mit Ölquellen und Bodenschätzen, die dortigen Regierungen zu stürzen, um anschließend das Territorium zu zerstückeln und innere Machtkämpfe anzufachen, so dass fortan an Gegenwehr überhaupt nicht mehr zu denken ist.

Was geschah in Libyen?

Was geschah nun vor vier Jahren, als die USA beschlossen, in Libyen einen Systemwechsel in Szene zu setzen? Auch hier finanzierten und bewaffneten die USA, Saudi-Arabien und Katar die islamistische Milizenszene, die sie zum Großteil erst aus dem Ausland importieren musste. Der bekannteste Anführer dürfte Abdelhakim Belhadsch sein, auch bekannt unter Abu Abdullah Sadi, der schon Kampferfahrungen unter Osama bin Laden bei Al-Kaida in Afghanistan gesammelt hatte und sich brüstete, im Irak amerikanische Soldaten getötet zu haben. In Libyen stand Belhadsch nun plötzlich an der Seite der USA an vorderster Front gegen Gaddafis Sicherheitskräfte. Das Lob von US-Senator John McCain war ihm genauso sicher wie sein Amt als militärischer Befehlshaber in Tripolis. Er war in vorderster Reihe an den Pogromen gegen schwarze Libyer, den Grünen Widerstand und Anhänger der Dschamahirija beteiligt. Und nun, siehe da, hat sich Belhadsch zum libyschen Ableger des IS bekannt und nimmt dort eine führende Stellung ein!

In Libyen halten die USA unverdrossen an ihrem Bündnis mit den islamistischen Milizen und Gruppierungen fest und weigern sich, mit der international anerkannten, demokratisch gewählten und säkular orientierten Tobruk-Regierung zusammenzuarbeiten. Es dürfte jedoch umso schwerer werden, diese Position durchzuhalten, je stärker sich der IS in Libyen ausbreitet. Ein islamischer Staat in Libyen dürfte weder im Interessen der libyschen Nachbarstaaten wie Ägypten und Algerien noch in denen der europäischen Staaten wie Italien liegen, deren Mineralölgesellschaft AGIP durch Angriffe des IS auf Ölanlagen arg in Bedrängnis gerät. Doch Vorsicht: Das Blatt könnte sich wenden, um eine erneute Invasion in Libyen zu rechtfertigen. Haben die islamistischen Terrormilizen nicht schon immer den USA für drei Zwecke gedient: als Kampftruppen gegen missliebige Staaten, als Vorwand, um arabische Länder wie Afghanistan angreifen zu können und nicht zuletzt als Argument für den Ausbau eins umfassenden Überwachungsstaat im eigenen Land und in „befreundeten“ Ländern.

Die USA bekämpfen den IS und die gegen IS kämpfenden Truppen

Eine Meldung vom 13. März 2015 lässt aufhorchen: Erneut wurden dutzende irakische Soldaten, bei Luftangriffen von der von den USA angeführten Anti-IS-Koalition getötet! Die irakische Regierung zeigt sich empört und verlangt eine Untersuchung. Insgesamt sollen bereits hundert irakische Soldaten durch solche Angriffe der Anti-IS-Koalition getötet worden sein. Da erstaunt es nicht, dass der irakische Vormarsch gegen die von IS gehaltene Stadt Tikrit ins Stocken gerät. Auch Luftschläge in Syrien galten einige Male nicht den IS-Milizen, sondern den syrischen Regierungstruppen. Ist den USA daran gelegen, ein kriegerisches Gleichgewicht des Schreckens in den Ländern, in denen sie Kriege angezettelt haben, aufrechtzuerhalten? Soll in Irak, Syrien, Libyen keine Seite die Oberhand erlangen, damit das Land gespalten, geschwächt, beherrscht und ausgebeutet werden kann?

Kann es sein, dass der IS oft gar nicht so stark ist wie er scheint und schon längst keine Rolle im politischen Leben spielen würden, wenn er nicht mit modernsten Waffen, viel Geld und ausländischen Kämpfern aufgepäppelt und mit Videoauftritten, der ständigen Verschleierung von Personen und Gruppen durch Umbenennungen und seinem martialischen Auftreten eine Stärke vorspielt, die er gar nicht hat?

Die große Frage ist, wie sich die europäischen Staaten verhalten werden angesichts einer realen oder gefakten Bedrohung durch den IS, der die islamischen Staaten auf der anderen Seite des Mittelmeers, nur wenige Seemeilen von Europa getrennt, ins Chaos stürzt. Staaten, die auf der Suche sind nach einem eigenen politischen Weg, deren Gesellschaft nicht nur vom Islam, sondern auch von europäischer Politik und Kultur geprägt ist, mehr als von einem streng-wahhabitischen Weltbild. Wie wird sich Europa gegenüber den USA positionieren, die mit Hilfe verbündeter Staaten wie Türkei/Saudi Arabien/Katar, diesen IS-Staat instrumentalisiert, anstatt ihn ernsthaft zu bekämpfen? Wird den USA auf Dauer die Grätsche zwischen gleichzeitiger Unterstützung und Bekämpfung des IS gelingen? Vielleicht finden sich am Ende die USA zwischen allen Stühlen wieder, schmerzhaft gelandet auf dem Allerwertesten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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