Lehren aus Libyen: Wie man nicht interveniert

Kriegseintritt. Die Vierteljahreszeitschrift für Internationale Sicherheit veröffentlichte im Sept. 2013 unter dem Titel „Lessons from Libya: How Not to Intervene“ eine Harvard-Studie.

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Die Studie von Professor Alan J. Kuperman[1] stellt ein vernichtendes Zeugnis des Libyen-Einsatzes der Nato aus. Es drängen sich Parallelen zum Krieg in Syrien auf.

Den Libyen-Krieg des Jahres 2011 bewertet Prof. Kuperman 2013 wie folgt :

Die herkömmliche Ansicht über den Kriegsgrund ist falsch. Die Aufstände 2011 waren zu keinem Zeitpunkt friedlich, sondern von Anfang bewaffnet und gewalttätig. Muammar al-Gaddafi zielte nie auf Zivilisten oder setzte unterschiedslos Gewalt ein. Obwohl der Kriegseintritt durch humanitäre Impulse ausgelöst wurde, war das Hauptziel der Nato nicht der Schutz libyscher Zivilisten, sondern vielmehr der Sturz des Gaddafi-Regimes, wobei in Kauf genommen wurde, den Schaden für die Menschen in Libyen zu vergrößern.

Die Nato-Einsätze verlängerten die Konfliktdauer um das Sechsfache [A.d.Ü.: Die Konflikte in Libyen halten bis heute an und haben sich seit Mitte 2014 noch mehr verschärft] und es kamen siebenmal mehr Menschen durch sie zu Tode, während sich gleichzeitig Menschenrechtsverletzungen, menschliches Leid und islamischer Radikalismus verschärften. Wie die Vereinten Nationen und Amnesty International dokumentierten, ging im Februar 2011 bei Ausbruch von Unruhen in den vier libyschen Städten Bengasi, al-Baida, Tripolis und Misrata die Gewalt in Wirklichkeit von Anfang an von den Protestierenden aus. Zwar ging die Regierung militärisch dagegen vor, griff aber niemals Zivilisten an oder setzte unterschiedslos Gewalt ein, wie die westlichen Medien behaupteten. Die damaligen Pressemeldungen übertrieben die „Todesrate“ um den Faktor zehn; sie gingen von „mehr als 2.000 Toten“ während der ersten Tage der Proteste in Bengasi aus, während Human Rights Watch (HRW) später nur 233 Tote im ganzen Land zählte. Dass Gaddafi nicht die Zivilbevölkerung, sondern aufständische Kämpfer zum Ziel hatte, zeigt sich auch bei der Zahl von Verwundeten in Misrata. Dort wurden laut HRW in den ersten sieben Wochen 949 Personen verletzt, davon waren nur 30 Frauen oder Kinder. In dieser Zeit wurden in der Stadt Misrata mit einer Bevölkerung von 400.000 genau 257 Menschen getötet. Auch richtete Gaddafi kein Blutbad in einer der anderen Städte wie Aidabija, Bani Walid, Brega, Ras Lanuf, Zawija und dem Großteil von Misrata an, die seine Armee von den Rebellen vor der Nato-Intervention rückerobert hatten. Es findet sich kein Hinweis darauf, dass er dies bei der Rückeroberung der noch von Rebellen gehaltenen Stadt Bengasi vorgehabt hätte. Die weitverbreitete Meinung, das Hauptziel der Nato in Libyen wäre es gewesen, Zivilisten zu schützen ist also falsch. Es gibt genügend Beweise, die zeigen, dass es das Ziel der Nato war, Gaddafi zu stürzen, auch wenn dadurch das Leiden der Zivilbevölkerung zunahm. Im Gegensatz zu Gaddafi attackierte die Nato die libyschen Streitkräfte ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, selbst in solchen Fällen wie in Gaddafis Heimatstadt Sirte, wo die libysche Armee auf dem Rückzug war und die Nato verkündete, die Zivilisten zu schonen. Darüber hinaus unterstützte die Nato auch dann noch die Rebellen, wenn diese wiederholt einen Waffenstillstand, den die Regierungstruppen anboten, ablehnten, obwohl dieser dazu hätte beitragen können, die Gewalt zu beenden und Zivilisten zu schonen. Erst diese militärische Hilfestellung zusätzlich zu Waffenlieferungen, militärischer Ausbildung und der Entsendung verdeckter, hunderte Mann starker Truppen aus Katar, ermöglichte es den Rebellen, Gaddafi gefangen zu nehmen und zu töten und im Oktober 2011 die Macht in Libyen zu übernehmen.

Ein falsches Verständnis ist es also, wenn gemeint wird, dass die Intervention Leben rettete und Libyen und seinen Nachbarn von Nutzen war. Denn als die Nato Mitte März 2011 in Libyen intervenierte, hatte Gaddafi bereits über den Großteil von Libyen wieder die Kontrolle zurückerlangt, während sich die Rebellen auf einem schnellen Rückzug in Richtung Ägypten befanden. Der Konflikt war sechs Wochen nach seinem Beginn so gut wie zu Ende und hatte etwa 1.000 Menschen das Leben gekostet, darin eingeschlossen Soldaten, Rebellen und Zivilisten, die ins Kreuzfeuer geraten waren. Als die Nato eingriff, konnten die Rebellen ihre Angriffe fortsetzen, was insgesamt 7.000 mehr Tote bedeutete. (A.d.Ü.: Man geht inzwischen von mindestens 25.000 Toten aus, Schätzungen sprechen sogar von bis zu 50.000 Toten.)

Die beste Entwicklung im Post-Gaddafi-Libyen war die demokratische Wahl des Jahres 2012, bei der eine moderate, säkulare Regierung gewählt wurde. [A. der Ü.: Wie sich die Situation inzwischen verschlechtert hat, ist ja bekannt. Die moderate Regierung wurde aus Tripolis von dschihadistischen Kämpfern nach Tobruk vertrieben und in Tripolis eine Gegenregierung ausgerufen. Das Land wird beherrscht von sich bekämpfenden Rebellengruppen, der IS breitet sich aus. Libyen ist zerstört und ökonomisch am Ende.] Andere Entwicklungen geben weniger Grund zur Hoffnung. Die siegreichen Rebellen verübten Rachemorde und vertrieben 30.000 meist schwarze Bewohner der Stadt Tawerga aus ihren Häusern mit der Begründung, sie seien Gaddafi-„Söldner“. Wie HRW 2012 berichtete, seien diese Auswüchse, die man als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnen kann, weit verbreitet und würden systematisch betrieben.

Radikale Islamistengruppen, die Gaddafi nicht hatte aufkommen lassen, waren während des Krieges die eifrigsten Kämpfer und verweigerten nun ihre Entwaffnung. Sie erkannten auch die staatlichen Autoritäten nicht an. Die Bedrohung durch diese Gruppen fand im September 2012 einen Höhepunkt, als US-Einrichtungen in Bengasi angegriffen und Botschafter Christopher Stevens und drei seiner Kollegen ermordet wurden. Im April 2013 zerstörte eine Autobombe große Teile der französischen Botschaft in Tripolis. In Anbetracht der unsicheren Lage ist es verständlich, dass die meisten Libyer dazu neigen, nostalgische Gefühle für einen starken Führer wie Gaddafi zu hegen.

Unter den Nachbarstaaten hatte Mali, das in dieser Region vor der Intervention eine Ausnahme bezüglich Frieden und Demokratie darstellte, am meisten unter den Konsequenzen des westlichen Eingreifens zu leiden. Nach dem Sturz Gaddafis flohen die Tuareg Kämpfer, die in der libyschen Armee gedient hatten, zurück in ihre Heimat Mali und begannen im Norden des Landes eine Rebellion, die dazu führte, dass die malische Armee den Präsidenten stürzte. Schon bald wurde die Tuareg-Rebellion von islamistischen Kräften und al-Kaida gekapert, die Scharia wurde eingeführt und weite Teile Nordmalis für unabhängig erklärt. Im Dezember 2012 stellte die nördliche Hälfte Malis „weltweit das größte Gebiet dar, dass je von islamistischen Extremisten kontrolliert wurde“, wie der Vorsitzende des Unterausschusses für Afrika des U.S.-Senats sagte. Dieses Chaos sorgte für die Flucht tausender Zivilisten, so dass Amnesty International von „Malis schlimmster Menschenrechtssituation in den letzten 50 Jahren“ sprach.

Hochentwickelte Waffen aus den Beständen der libyschen Armee – einschließlich tragbarer Boden-Luft-Missiles – fielen in die Hände radikaler Islamisten.

Die Intervention der Nato zugunsten der libyschen Rebellen ermutigte Mitte 2011 auch die syrischen Rebellen, die zunächst friedlich protestiert hatten, gewalttätig vorzugehen. Sie hofften, damit eine ähnliche Intervention wie in Syrien auslösen zu können. Die daraus folgende Eskalation in Syrien vergrößerte die Todesrate um das Zehnfache. [A.d.Ü.: Das war 2013 – heute spricht man von mehr als 250.000 Toten.]

Aus dem Ganzen zieht der Autor drei Schlussfolgerungen: Erstens sollte man sich vor Rebellenpropaganda hüten, die aufgrund gefälschter Völkermordvorwürfe den Ruf nach Intervention ertönen lässt. Zweitens sollten Interventionen aus humanitären Gründen in den Fällen unterlassen werden, die Rebellen Vorteile bringt und Zivilisten gefährdet, sofern nicht wirklich am Kampf Unbeteiligte angegriffen werden. Und drittens sollte man der Tendenz widerstehen, Einsätze aus humanitären Gründen in einen Regime-Change umzuändern, der die Risiken der Zivilbevölkerung vergrößert.

Falls Libyen überhaupt als Modell angesehen wird, dann als ein Modell für Scheitern.

[1] http://belfercenter.ksg.harvard.edu/publication/23387/lessons_from_libya.html

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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