Libyen ist eine Stammesgesellschaft

Libyen. Seit der italienischen Kolonialherrschaft sorgen die Stämme für den Zusammenhalt des Landes und die Wiederherstellung von Frieden.

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In einem Artikel beschäftigt sich nun auch der LibyaHerald mit der herausragenden Bedeutung, die die libyschen Stämme während der gesamten Geschichte des Landes hatten und haben.[1] In Anbetracht des Libyen in den Grundfesten erschütternden NATO- und späteren Bürgerkriegs erlangte eine Art Gewohnheitsrecht, im Arabischen Orf genannt, wieder große Bedeutung. Orf war die Rechtsgrundlage der Stammesführer, um lokale, aber auch nationale Streitigkeiten zu schlichten. Nachdem das libysche Staatswesen und seine Ordnungskräfte 2011 atomisiert worden waren, konnte nur das Rechtssystem des Orf, das von so gut wie allen Libyern respektiert wird, das Land vor dem totalen Zerfall retten.

Zwar brachen während des NATO-Kriegs 2011 alte Stammesstreitigkeiten in voller Stärke aus, doch spielten schon bald die Stammesführer mit ihrem Verhandlungsgeschick bei Friedensgesprächen eine herausragende Rolle. Die Stammesführer, auch Scheichs oder Hukama (Weise) genannt, konnten in geduldigen Verhandlungen nicht nur den Frieden zwischen verfeindeten Stämmen wieder herstellen, sondern ihn auch aufrechterhalten, während Kräfte von außen versuchten, weiterhin die Spaltung des Landes zu betreiben und die Stämme gegeneinander aufzuhetzen.

Schon in der Gaddafi-Ära kam das Gesetz des Orf bei Strafprozessen zum Tragen und spielte insbesondere in den entlegeneren Wüstengebieten, die dem Zugriff der städtischen Justiz entzogen waren, eine große Rolle. Innerhalb der Stammesgesellschaften sorgte der durch Orf ausgeübte soziale Druck für den überlebensnotwendigen Zusammenhalt der Gemeinschaft. Bei Streitigkeiten zwischen verschiedenen Stämmen konnten blutrünstige Racheaktionen damit vermieden werden.

Bei einer Befragung im Jahre 2016 stimmten 60 Prozent der Libyer der Aussage zu, dass die Stämme der Gemeinschaft Sicherheit garantieren können. Ein Scheich sagte: „Wenn auch tausende Libyer im jetzigen Bürgerkrieg ihr Leben verloren haben, so hat Orf hunderttausenden das Leben gerettet.“ Egal, um welche Provinz, um welchen Stamm, ob es sich um Ost-, Süd- oder Westlibyen handelt, Orf und Hukama werden überall in gleicher Weise als Grundlage des gemeinsamen Zusammenlebens respektiert.

Als Beispiel sei hier der Streit zwischen dem Zinten- und dem Maschaschja-Stamm im Westen Libyens angeführt, der seit 2011 zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern der beiden Stämme geführt hatte. Erst als ein Ältestenrat, zusammengesetzt aus zwölf Stämmen von allen Landesteilen, die Mediation übernahm, konnte der Konflikt beigelegt werden. Nachdem über ein Jahr verhandelt worden war, wurde am 18. Mai 2017 ein Friedensabkommen unterzeichnet. Anschließend konnten von ihren Heimatorten Vertriebene wieder in ihre Häuser zurückkehren, Schulen und Krankenhäuser ihren Betrieb aufnehmen, Läden öffnen.

Doch auch im Osten des Landes, der Kyrenaika, spielte und spielt Orf die bedeutendste Rolle bei der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung. Über die Zeit nach dem Krieg 2011, als das Rechtssystem zusammenbrach und sich dschihadistische Gruppierungen wie Ansar al-Scharia immer weiter ausbreiten konnten, sagte ein Scheich vom Stamm der Twadschir: „Wir konnten nicht warten, bis es wieder eine Regierung oder eine Armee zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung gibt. Wir mussten schnell handeln.“ Auf Betreiben der Stammesführer und ihrer Auffassung von Verantwortung für das Land trafen sich alle Stämme der Kyrenaika am 15. April 2017 in der Stadt Asahel (300 km südwestlich von Bengasi), um Orf als das zeitweilig gültige Rechtssystem zu kodifizieren.

Der sogenannte Ehrencodex der Kyrenaika gilt seither als Richtlinie bei der Bestrafung von Verbrechen oder Gewalttaten. So sollen Konflikte gelöst und der Frieden aufrechterhalten werden. Orf erlangte damit zum ersten Mal einen offiziellen Status, der das Sicherheitsvakuum ausfüllen, Racheakte verhindern, Gewalt abwenden und den Libyern ein Sicherheitsgefühl vermitteln soll. Orf hat in der Kyrenaika gehalten, was es versprochen hat. Trotz des herrschenden Bürgerkriegs wird zwischen den einzelnen Städten und Stämmen der Frieden eingehalten, die Unruhen konnten sich von Bengasi nicht weiter ausbreiten.

Wer nicht sieht oder sehen will (wie beispielsweise der gescheiterte UN-Vermittler Martin Kobler), welche wichtige Rolle die Stämme und deren Gesetze in Libyen spielen, wer Orf und Hukama missachtet, darf sich nicht wundern, wenn ihm auf ewig fremdbleiben wird, auf welche Art und Weise Libyen funktioniert.

Den libyschen Stämmen wird es gelingen, ihre Probleme zu meistern, auch oder gerade ohne jede Einmischung von außen.


[1] www.libyaherald.com/2017/07/13/op-ed-in-libya-only-one-system-of-law-is-functioning-and-its-not-state-law/

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Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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