Lockerbie: Schmierentheater reloaded

Libyen. Mitte Oktober 2015 forderten das amerikanische FBI und die britische Justiz 26 Jahre nach dem Lockerbie-Anschlag erneut die Auslieferung von zwei libyschen Staatsbürgern.

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Über dem schottischen Lockerbie war im Dezember 1988 ein US-amerikanisches Passagierflugzeug explodiert, am 19.9.1989 stürzte ein französisches Verkehrsflugzeug über dem Niger ab. In beiden Fällen beschuldigten die USA, Großbritannien und Frankreich Libyen, für diese Taten verantwortlich zu sein. Von 1. Oktober 1990 bis Februar 1991 fand in Schottland eine Öffentliche Anhörung statt, bei der ein Abschlussbericht vorgelegt wurde. Im November 1991 erhoben die USA Anklage wegen Mordes gegen zwei libysche Staatsbürger und forderten deren Auslieferung. 1992 und 1993 ließen sich die Vereinten Nationen dazu einspannen, aufgrund reiner Verdächtigungen der USA und Großbritanniens schwere Sanktionen gegen Libyen zu verhängen. Im April 1999 wurden die beiden Verdächtigen von Libyen ausgeliefert. Der Prozess gegen Abdelbaser Ali Mohmed al-Megrahi, libyscher Nachrichtenoffizier und Sicherheitschef der Libysch-Arabischen Fluglinien, und Al Amin Khalifa Fhimah, Stationsmanager für die Syrisch-Arabischen Fluglinien auf dem maltesischen Flughafen, fand von Mai 2000 bis Januar 2001 vor einem schottischen Sondergericht statt, das in den Niederlanden tagte. Es endete mit einem Freispruch des einen und mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen eines staatsterroristischen Aktes für den anderen Angeklagten al-Megrahi. Der offiziell ernannte internationale UN-Prozessbeobachter Prof. Hans Köchler veröffentlichte 2001 und 2002 jeweils Berichte, in denen er von einem „spektakulären Justizirrtum“ sprach.[1] Im April 2003 erklärt sich Libyen bereit, die Verantwortung für den Anschlag zu übernehmen und 2,7 Millliarden US-Dollar an die Hinterbliebenen zu zahlen. Der Versuch, im Juli 2003 den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzuschalten, wurde abgeschmettert. 2003 klagte al-Megrahi erfolglos vor dem Gerichtshof in Glasgow. Nachdem eine offizielle schottische Untersuchungskommission die Verurteilung des libyschen Geheimdienstlers als "möglichen Justizirrtum" bewertet hatte und Vorwürfe im Raum standen, dass Beweise gefälscht und Zeugen manipuliert worden seien, der Prozess also an einem Justizirrtum leiden könnte, wurde der Fall 2007 an das Höchste Schottische Gericht überwiesen,[2] das in einer ersten Entscheidung 2008 al-Megrahi bezüglich einer Immunitätsfrage für britische Minister nicht recht gab. Bevor es allerdings zu einer endgültigen Entscheidung kommen konnte, zog al-Megrahi am 14. August 2009 seine Berufung zur Gänze zurück, um nur sechs Tage später, am 20. August 2009, wegen einer lebensgefährlichen Krebserkrankung aus der Haft entlassen zu werden. Al-Megrahi, der immer seine Unschuld beteuert hatte, konnte nach Libyen zurückkehren, wo er begeistert empfangen wurde. Gaddafi dankte der schottischen Regierung für ihren Mut. In einem bekannt gewordenen Telegramm, dass die amerikanische Botschaft in Tripolis am 28.1. 2009 abgesandt hatte, hieß es, dass die Botschaft Großbritanniens äußerst negative Reaktionen befürchteten, sollte al-Megrahi in Haft sterben oder sich die Schottischen Behörden weigern, seiner Freilassung zuzustimmen.

Im Mai 2012 starb al-Megrahi im Kreise seiner Familie.

Im Oktober 2015 forderten die USA und Großbritannien erneut die Auslieferung von zwei Libyern, die angeblich an dem damaligen Anschlag beteiligt gewesen sein sollen.

Der Fall Lockerbie ist bis heute nicht geklärt, an der Urheberschaft Libyens bestanden von Anfang an beträchtliche Zweifel, hervorgerufen durch massive Ungereimtheiten in der Beweisführung. Der Fall Lockerbie versinkt bis heute in einem Sumpf von internationalen politischen Intrigen und Komplotts, die jede Verschwörungstheorie blass aussehen lassen. Wie stellt sich das Geschehen aus heutiger Sicht dar?

Gut zwei Wochen vor dem Anschlag am 5. Dezember 1988 war eine Terrorwarnung bei der US-Botschaft in Finnland eingegangen. Ein mit arabischem Akzent sprechender Mann hatte in Helsinki angerufen und in den folgenden zwei Wochen einen Anschlag auf einen PanAm-Flug von Frankfurt in die USA angekündigt. Das Attentat solle von der Abu-Nidal-Organisation (ANO) ausgeführt werden, einer Abspaltung von der PLO, die für ein unabhängiges Palästina kämpfte. Daraufhin gab die amerikanische Luftfahrtbehörde FAA eine Sicherheitsmeldung heraus, in der es unter anderem hieß: „Die Federal Aviation Administration wurde über die Drohung in Kenntnis gesetzt und die Sicherheitsvorkehrungen für PanAm-Flüge von Frankfurt erhöht.“[3] Die Warnung wurde auch von der US-Botschaft in Moskau veröffentlicht und an US-Bürger, die sich dort aufhielten, weitergegeben. Dies führte dazu, dass viele Fluggäste den Flug umbuchten, so dass die freigewordenen Sitze günstig an andere Reisende, nun überwiegend Studenten, vergeben wurden.

Folgende ursprünglich auf Flug PanAm 103 gebuchten, prominenten Fluggäste stornierten, buchten um oder verpassten den Flug: der Außenminister von Südafrika Roelof Botha und seine zweiundzwanzig köpfige Delegation, der US-Botschafter im Libanon John McKarthy, der Vizedirektor des FBI Chris Revell, ein DEA- (Drug Enforcement Administration) Verwaltungsbeamter namens Steven Greene, die Sängerin Jennifer Rush, die Mitglieder der Soulband „Four Tops“ aus Detroit, der ehemalige Sex-Pistols-Musiker John Lydon und seine Frau. Südafrikas Außenminister Roelof Botha hatte 1989 in einem Interview mit der BBC verlauten lassen, dass er durch eine Warnung des Geheimdienstes dazu gezwungen wurde, seinen Flug mit PanAm 103 in letzter Minute umzubuchen. Die Warnung hätte besagt, dass seine Person das Ziel eines Anschlags des African National Congress (ANC) sein könnte. Nur drei Wochen nach der Lockerbie-Katastrophe beschuldigte das südafrikanische Apartheitsregime dann tatsächlich Nelson Mandela und den ANC als Drahtzieher des Attentats.

Fast noch mehr als diese Liste der nicht mit PanAm 103 geflogenen Passagiere lässt der Name einer Person, die bei diesem Absturz ums Leben kam und also keine Warnung erhielt, an eine Kenntnis der Geheimdienste über das bevorstehenden Attentat glauben. Es handelt sich dabei um den UN-Kommissar für Namibia, den Schweden Bernt Carlsson, das prominenteste Opfer des Todesfluges.[4] Bernt Carlsson war unterwegs zu den Vereinten Nationen in New York, um an einem Festakt teilzunehmen, bei dem die Befreiung Namibias von der Besetzung durch das südafrikanische Apartheitsregime und die Vorbereitung der Durchführung von Wahlen laut der UN-Resolution 435 gefeiert wurde. In Namibia stand somit die Machtübernahme durch die marxistisch orientierte SWAPO-Befreiungsbewegung bevor. Bernt Carlsson hatte sich nicht nur als UN-Kommissar, sondern auch in seiner Eigenschaft als Generalsekretär der Sozialistischen Internationale stets gegen die Apartheitspolitik und für die Unabhängigkeit Namibias stark gemacht und stellte sich damit gegen die Interessen der USA, Großbritanniens und vor allem Südafrikas im Hinblick auf die Gold-, Uran- und vor allem Diamantenminen Namibias.

Jan-Olof Bengtsson, Journalist der schwedischen Tageszeitung Kvällsposten, schrieb, Carlsson sei von dem südafrikanischen Diamantminen-Betreiber De Beers wegen einer Teilnahme an einem Geheimtreffen zu einem Zwischenstopp in London und – genau entgegengesetzt zu Botha – zur Umbuchung auf den Todesflug PanAm 103 gedrängt worden, anstatt wie geplant einen Direktflug der Sabena Airways von Brüssel nach New York zu nehmen. Der ehemalige Diplomat und Journalist Patrick Haseldine warf deshalb 1989 in einem Leserbrief an den englischen Guardian die Frage auf, warum nach dem Flugzeugabsturz von Lockerbie nicht auch Spuren verfolgt wurden, die nach Südafrika führten. Er schrieb: „Die Frage, die (wahrscheinlich an Mrs. Thatcher) gestellt werden muss, lautet: Warum dauerte es so lange, bis Verdachtsmomenten, die in Richtung Südafrika zeigten, nachgegangen wurde, angesichts der Vorliebe Südafrikas, Diplomatengepäck für den Transport von Sprengmaterialien zu benutzen und der Wahrscheinlichkeit, dass die Bombe in Heathrow an Bord des Flugzeugs gelangt war?“ Er äußert den Verdacht, dass der Lockerbie-Anschlag Bernt Carlsson galt, um die bereits weit gediehenen Untersuchungen bezüglich eines Geheimabkommens der britischen Rio-Tinto-Zink-Corporation über die Einfuhr von Uran (Yellowcake) des namibischen Unternehmens Rössing nach Großbritannien zu stoppen.

Nur drei Monate nach dem Lockerbie-Attentat besuchte Margaret Thatcher in Begleitung von David Cameron die Rössing-Uranmine in Namibia. 1991 schrieb Patrick Haseldine: „Es kann nicht nur Zufall sein, dass am gleichen Tag, dem 25. Juli 1991, als Südafrikas Außenminister Botha in Namibia die Zulassung der bis dahin verbotenen Anti-SWAPO-Partei erlaubte, der BBC-Radiosender Four‘s „Today Programme“ ein Interview ausstrahlte, das die schottischen Polizeiermittlungen über die Lockerbie-Katastrophe, bei der auch Carlsson ums Leben kam, zum Inhalt hatte. Demnach seien die Ermittlungen kurz vor dem Abschluss und uns soll jetzt glauben gemacht werden, dass der libysche Geheimdienst für den Absturz verantwortlich war.“ Noch über zwanzig Jahre später, am 8. Januar 2014, schrieb die Namibia Sun: „Das Bombenattentat auf den PanAm Flug 103 … hatte der namibischen Uran-Mine Rössing geholfen, im Geschäft zu bleiben, nachdem ein führender Ermittler [Bernt Carlsson] bezüglich der illegalen Ausfuhr von Uran aus Süd-West-Afrika bei der tödlichen Attacke ums Leben kam.“

Unweigerlich fällt einem zu dem Fall Bernt Carlsson der Name eines anderen Schweden ein, der 1961 ebenfalls bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam: Dag Hammarskjöld.[5] Wie Carlsson arbeitete er für die Vereinten Nationen, er war deren Generalsekretär, engagierte sich für die Unabhängigkeit afrikanischer Staaten und kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Im September 1961 stürzte sein Flugzeug unter mysteriösen Umständen in dem unter britischem Protektorat stehenden Rhodesien (heute Sambia) ab. Im August 1998 gab Erzbischof Desmond Tutu, der Vorsitzende der damals einberufenen südafrikanischen Wahrheitsfindungskommission bekannt, dass neu aufgetauchte Dokumente die Beteiligung des britischen Geheimdienstes MI6, der amerikanischen CIA und des südafrikanischen BOSS am Flugzeugabsturz belegen. (Es gab die Aussage, „Hammarskjöld sollte aus dem Weg geräumt werden“, worauf Allen Dulles, späterer CIA-Chef, hierfür uneingeschränkte Hilfestellung versprach).

Bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahre 2009 forderte Muammar al-Gaddafi, eine UN-Kommission einzusetzen, die den Tod des kongolesischen Premierministers Patrice Lumumba im Jahr 1960 und den Tod von UN-Sekretär Dag Hammarskjöld im Jahre 1961 untersuchen sollte. Im November 2013 wurde bei den Vereinten Nationen eine Wiederaufnahme der Untersuchungen zu den Todesumständen von Hammarskjöld gefordert, zusammen mit dem Fall Bernt Carlsson. Neue Dokumente, Zeugenaussagen und Beweise wiesen darauf hin, dass das Flugzeug, mit dem der UN-Generalsekretär Hammarskjöld unterwegs war, von anderen Flugzeugen abgeschossen worden war, dass Hammerskjöld den Absturz wahrscheinlich überlebt hatte, dann aber per Kopfschuss liquidiert worden war. Hammerskjöld hatte eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen zwischen dem ehemaligen Belgisch-Kongo und der neuen Demokratischen Republik Kongo gespielt. Als sein Flugzeug abstürzte, war er auf dem Weg in den Kongo, um Waffenstillstandvereinbarungen herbeizuführen.[6]

Eine Rolle bei dem Attentat auf Hammerskjöld könnte dabei die belgische Minengesellschaft Umicor (mining/minerals/smelting) gespielt haben, die aus der belgischen Gesellschaft UMHK (Union Minière du Haut Katanga) gebildet worden war. UMHK und die belgische Regierung waren die Besitzer der reichsten Vorkommen von seltenen und wertvollen Mineralien in Katanga. In den Minen von Belgisch-Konto wurde neben Kobalt (weltweit die größten Vorkommen) auch Kupfer, Zinn und Silber abgebaut. Am wichtigsten dürften aber die großen Uranvorkommen im Norden Katangas gewesen sein. Heute ist Katanga eine Provinz der Republik Kongo, damals hatte es sich unter Moise Tshombé als vom Kongo, dessen damaliger erster Premierminister der Sozialist Patrice Lumumba war, für unabhängig erklärt. Der Kongo hatte 1960 seine Unabhängigkeit von Belgien erkämpft und Lumumba trat für die Verstaatlichung der Minen Katangas ein. Wie sich später herausstellte, wurde bei einer informellen Konferenz, an der das CIA, State Department und Defense Department teilnahmen, die Ermordung Lumumbas vorgeschlagen.[7] Als Lumumba nach Katanga flog, verweigerten belgische Truppen die Landung. Lumumba ersuchte darauf UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld um Hilfe und erklärte Belgien den Krieg. Im September 1960 übernahm die Armee unter Mobutu in einem mit den USA abgesprochenen Putsch die Macht im Kongo. Im Januar 1961 wurde Lumumba ermordet. Hammerskjöld setzte sich weiter gegen die Abspaltung Katangas vom Kongo ein, UN-Truppen kämpften gegen katangische Söldner. 1961 kam der UN-Generalsekretär bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.

In diesen 1980er Jahren bezahlte noch ein dritter Schwede sein Engagement für eine friedlichere und sozialere Welt mit dem Tod: Der Sozialdemokrat und schwedische Ministerpräsident Olof Palme wurde 1986 in Stockholm erschossen. Da er sich gegen den Vietnamkrieg engagierte und in hartnäckiger Gegnerschaft zum südafrikanischen Apartheitsregime stand verwundert es nicht, dass erste Spuren nach seiner Ermordung nach Südafrika führten und sich die Hinweise verdichteten, dass auch der schwedische Geheimdienst in das Attentat verwickelt war.[8]

Was hatten Bernt Carlsson, Dag Hammarskjöld und Olof Palme gemeinsam? Alle drei waren schwedische Politiker, die sich gegen Kolonialismus, Rassismus und Apartheit engagierten. Alle drei kamen durch Anschläge ums Leben, deren Motive und Urheberschaft bis heute offiziell nicht geklärt werden konnte. Alle drei standen den Wirtschaftsinteressen der westlichen Kolonialmächte, insbesondere den USA und England, im Weg. In allen drei Fällen führten Spuren auch nach Südafrika.

Doch zurück zu den genaueren Umständen des Lockerbie-Anschlag und den darauf folgenden Ermittlungen. Am 21. Dezember 1988 war ein Passagierflugzeug des Typs Boing 747 mit dem Ziel New York in London mit 25-minütiger Verspätung um 18.25 Uhr gestartet, so dass sich nach der regulären Flugzeit das Flugzeug zum Absturzzeitpunkt bereits über dem Atlantik hätte befinden müssen. Kurz vor 19.03 Uhr verschwand die Maschine im Raum der schottischen Kleinstadt Lockerbie vom Radarschirm der Flugüberwachung, eine Minute später stürzten die Nase und vermutlich ein Triebwerk, die sich nach der Explosion vom Rumpf gelöst hatten, zu Boden. Der Rumpf flog noch etwas weiter, brach dann auseinander und die einzelnen Teile stürzten in mehrere Häuser eines Ortsteils von Lockerbie, der sich sofort in ein Flammenmeer verwandelte. Die Wucht der Explosion im Frachtraum hatte alle Kommunikations- und Navigationssysteme des Flugzeugs außer Betrieb gesetzt. Ein später aufgefundener Flugschreiber führte zu keinen weiteren Erkenntnissen. Die meisten Menschen dürften beim Absturz bereits bewusstlos geworden sein, zwei Überlebende wurden gefunden, die kurz darauf an ihren schweren Verletzungen verstarben. 270 Menschen fanden den Tod, davon elf Bewohner von Lockerbie. Daraufhin setzten die umfangreichsten polizeilichen Ermittlungen in der gesamten Geschichte Großbritannien ein. Sie wurden ausgerechnet von der kleinsten britischen Polizeibehörde, dem „Dumfries and Galloway Constabulary“ unter der Leitung von Sheriff John Stuart Mowat, durchgeführt.

Zu dem Hergang der Katastrophe gab es in Schottland nur eine einzige öffentliche Anhörung, die zwei Jahre später, von Oktober 1990 bis Februar 1991, stattfand. Von einem Teilnehmer wird das Szenario wie folgt beschrieben: „…Die Wahl des Ortes scheint nachträglich angesichts der grausigen Ereignisse angemessen gewählt: Der Ruheraum einer psychiatrischen Klinik war in einen Gerichtssaal mit 400 Sitzplätzen umgewandelt worden. Als ich eines Morgens kam, um aus dem Medienzentrum zu berichten, fand ich es völlig verlassen vor. Zwar gab es Dutzende von Schreibtischen und Kabinen für die internationale Presse, aber in der ganzen Zeit waren immer nur wenige davon besetzt. Es bestand auch kein Bedarf, die Telefone anzuschließen. Diesen Geisterort zu besuchen war eine merkwürdige Erfahrung. Im Gerichtssaal selbst hatte sich die angenommene große Menge von Verwandten und Interessierten niemals eingefunden; die für die Öffentlichkeit reservierten Plätze waren leer. Die schweren, dunkelgrünen Vorhänge waren fest zugezogen und sorgten dafür, dass das Verfahren in einer düsteren Atmosphäre stattfand. Die Symbolik war perfekt: In einem Raum ohne natürliches Licht legten Zeugen ihre Aussagen vor einem leeren Auditorium ab, die Welt hatte scheinbar jedes Interesse daran verloren…“.[9]

Sheriff Mowat lag ein 54-seitiger Bericht der „Abteilung zur Untersuchung von Katastrophen im Flugverkehr“ vor, auf den sich die Anhörung stützte. In einem zwanzig Punkte umfassenden Schlussdokument, das den gesamten Vorgang der Katastrophe nachzuvollziehen versucht, hält Sheriff Mowat unter Punkt 2 fest: „zu den 243 namentlich bekannten Personen gehörte auch Bernt Wilmar Carlsson (geb. 21.11.1938, wohnhaft Apartment 30, 207 West 106th Street, New York, N.Y. 10025, USA“. Bernt W. Carlsson ist die einzige Person, die in dem Bericht namentlich und mit allen persönlichen Daten aufgeführt wird.[10]

Umstritten und die zweifelsfrei größte Schwachstelle des Dokuments ist Punkt 5. Hier heißt es, dass die Bombenvorrichtung „bestehend aus Semtex-Plastiksprengstoff in einem Toshiba-Radio-Kassettenrekorder, der sich in einem Samsonite-Koffer befand, verborgen war. Dieser Koffer war eines der Gepäckstücke, die sich in dem besagten Gepäck-Container [mit der Nummer AVE4041] befanden. Angestellte von PanAm World Airways am Heathrow-Flughafen in London hatten es dort hineingestellt. Der Inhalt des besagten Containers bestand aus sechs oder sieben Gepäckstücken aus dem Aufbewahrungsraum für durchgecheckte Gepäckstücke und etwa 35 Gepäckstücken, die von PanAm Flug 103A aus Frankfurt nach Heathrow umgeladen und mit der Kennzeichnung als für Flughäfen in den USA einschließlich des Flughafens JFK in New York und Detroit bestimmt, versehen waren. Die Gepäckstücke aus dem Aufbewahrungsraum für durchgecheckte Gepäckstücke waren von Passagieren aufgegeben worden, die auf Flüge in Heathrow von anderen Fluggesellschaften als PanAm Word für den Anschluss an PanAm 103 nach New York gebucht waren.“ Und unter Punkt 10: „Der besagte Koffer kam wahrscheinlich in Frankfurt mit einem Flugzeug oder einem Flug an, das kein PanAm-Flugzeug oder Flug war und wurde von dort an PanAm weitergeleitet. Er wurde umgeladen und für den Flug 103A zugelassen, ohne als unbegleitetes Gepäckstück identifiziert zu sein.“ Die offizielle Lesart war, dass ein unbegleiteter Koffer über ein Gepäcktransportsystem vom Flughafen Malta nach Frankfurt gelangte und dort in den Zubringer-727 für Heathrow verladen wurde.

Barry Walker und Morag Kerr, die sich ausführlich mit den Lockerbie-Vorgängen beschäftigen, konnten zeigen, dass Punkt 5 der Ausführungen von Sheriff Mowat nicht richtig war. Es könne nicht belegt werden, dass der Bombenkoffer mit dem Zubringerflug PanAm 103A aus Frankfurt nach Heathrow gekommen war. Es sei nämlich nicht möglich gewesen, den Koffer in dem Container, in dem alle für den Flug PanAm 103 von Heathrow nach New York vorgesehen Koffer gesammelt wurden, als einen von Frankfurt gekommenen Koffer zu identifizieren. Neben Frankfurt kamen Passagiere und Gepäckstücke von zwölf anderen Flughäfen nach Heathrow zum Weiterflug nach New York. Ein Gepäckarbeiter namens Bedford konnte sich erinnern, zwei Samsonite-Koffer in dem Container gesehen zu haben. Wurde jedoch der Koffer vor Ankunft des Fluges PanAM 103A aus Frankfurt in dem Container gesehen, dann muss das offizielle Szenario, dass der Koffer über Malta nach Frankfurt und von dort nach Heathrow kam, falsch gewesen sein. Aufgrund dieses Szenarios wurde aber einige Jahre später der Libyer al-Megrahi schuldig gesprochen wurde.

In dem braunen Samsonite- Bombenkoffer-Koffer fand man angeblich auch Babykleidung, die von Malta stammte. Die Insel Malta liegt nicht weit entfernt von der libyschen Küste und viele Libyer waren häufig auf Malta zu Gast. Der maltesische Kleiderhändler Tony Gauci, der sich erinnern konnte, die Babysachen an einen libysch aussehenden Mann verkauft zu haben, wurde der Hauptbelastungszeuge gegen al-Megrahi, von dem er behauptete, ihn wiedererkannt zu haben.[11] Wie glaubwürdig Tony Gaucis Aussage war, sei dahingestellt angesichts der Tatsache, dass Gauci eine Belohnung von zwei Millionen Dollar versprochen worden sein soll, falls al-Megrahi verurteilt wird. Gauci beschrieb den Mann, der die Kinderkleidung gekauft hatte, auch als größer und älter als al-Megrahi und der Kauf sollte zwei Wochen vorher stattgefunden haben. Für diese Zeit hatte al-Megrahi allerdings ein Alibi. So blieb nur noch die Aussage des Hauptbelastungszeugen Abdul Majid Giaka übrig, ein ehemaliger Kollege der beiden Angeklagten, der als geldgieriger Fantast bekannt war.

Abstrus wird die Theorie jedoch, wenn man sich vorstellt, dass ein unbegleiteter Koffer seinen Weg von Malta nach Frankfurt machte, dort in das Flugzeug für PanAm Flug 103A umgeladen wurde und weiter seinen Weg in die Unglücksmaschine PanAm 103 fand, die von London nach New York fliegen sollte. Trotz zweifacher Umladung soll der unbegleitete Koffer nicht aufgefallen sein, es soll nicht kontrolliert worden sein, ob er einem Passagier zuzuordnen ist und das, obwohl eine Bombendrohung für einen PanAm-Flug von Frankfurt nach New York vorlag. Dabei muss die Besonderheit berücksichtigt werden, dass der Flug Frankfurt – London (PanAm 103A) unter der gleichen Flugnummer lief wie der Flug London – New York (PanAm 103) und trotz Umsteigens in London als Direktflug Frankfurt – New York, also wie bei der eingegangenen Warnung angegeben, gebucht werden konnte. Wie konnte ein potentieller Bombenleger, der auf Malta einen unbegleiteten Koffer aufgab, damit rechnen, dass dieser Koffer alle Sicherheitskontrollen in Frankfurt und Heathrow unbeschadet durchlaufen wird? Während des gesamten achtmonatigen Lockerbie-Prozesses konnten keine direkten Beweise erbracht werden, dass die Bombe auf Malta verladen wurde. Der damalige Standortchef der Libyan Arab Airlines am Flughafen Malta, Lamin Kalifa Fhimah, war der zweite libysche Angeklagte im Lockerbie-Prozess. Er wurde freigesprochen.

Dagegen sagte Ray Manly, ein ehemaliger Sicherheitsbeamter des Flughafens Heathrow aus, er hätte am Tag des Flugzeugunglücks gegen 18 Uhr ein aufgebrochenes Vorhängeschloss an der Tür des Gepäckaufbewahrungsraums von PanAm entdeckt und würde sich nun sehr wundern, dass dies im Laufe des Prozesses keine Erwähnung fand, obwohl er zu dem Vorfall von der Anti-Terror-Polizei befragt worden war. [12]

Diese Aussage von Manly erhärtet den Verdacht, dass die Bombe erst in Heathrow unter das Fluggepäck geschmuggelt worden war und nicht von Malta kam.

Dazu passt die Theorie, dass die Bombe im Gepäck eines gewissen Khalid Jaafar, einem libanesisch-amerikanischen Drogenkurier, gewesen sein könnte. Bestimmte Kreise innerhalb der CIA hätten Vereinbarungen mit Drogendealern im Mittleren Osten geschlossen, die besagten, den Schmuggel von Drogen in die USA zuzulassen, um im Gegenzug Hilfe bei der Suche und Befreiung von US-amerikanischen Geiseln zu erhalten. Im Zuge einer solchen Transaktion wäre der Heroin-Koffer mit der Bombe dank der Hilfestellung durch das CIA pannensicher an Bord des Flugzeugs gelangt. Unter den Lockerbie-Opfern befanden sich auch einige CIA-Mitarbeiter unter Führung von Major Charles McKee, der zur DIA (Defence Intelligence Agency) gehörte. Verschiedene Quellen gaben an, dass McKee von diesen Vereinbarungen zwischen CIA und Drogendealern Wind bekommen hatte und unterwegs nach Washington war, um diese Vorgänge an die große Glocke zu hängen. Berichte aus dem Libanon wiesen darauf hin, dass die Reisepläne von McKee den Bombenlegern durchgesteckt wurden, die in der radikal-palästinensischen Gruppierung PFLP-GC, die von Syrien und Iran gesponsert wurde, zu suchen waren. Offiziell gab es für diese Version keine Beweise, allerdings wurden Tatsachen beim Prozess entweder nicht erwähnt oder ganz unterschlagen, wie zum Beispiel ein gefundenes T-Shirt mit den Hisbollah-Insignien, große Beträge in US-Dollars oder Reste von gewaltigen Heroinmengen. Sowohl Polizeibeamte als auch freiwillige Helfer sprachen von amerikanischen Agenten, die Gegenstände von der Absturzstelle hätten verschwinden lassen.

Die englische Tageszeitung The Guardian stellte am 27. Juni 2001 anlässlich des Lockerbie-Prozesses folgendes fest: „…Bereits in der Nacht des Flugzeugabsturzes wurden ausschlaggebende Beweise unterschlagen. […] Die Tatsache, dass sich die Richter weigerten, sich von der großen Menge an zweifelhaften Beweisen, die sich durch die ganze Anklage zogen, umstimmen zu lassen, machte viele Beobachter sprachlos.“ [13]

Ein wichtiges Beweisstück für die Täterschaft Libyens war das fingernagelgroße Fragment einer Platine, die zur Zeitschaltuhr der Bombe gehört haben soll. Solche Zeitschaltuhren waren im selben Jahr schon bei festgenommenen libyschen Geheimagenten gefunden worden. Das Züricher Büro der Schweizer Firma Mebo war 1988 an der libyschen Firma ABH beteiligt, mit der Megrahi enge Kontakte hatte. Allerdings lieferte die Schweizer Firma Mebo diese Platinen auch an etliche andere Staaten, darunter die DDR.

Schwerwiegend aber ist in dieser Sache die Aussage von Mitarbeitern der Firma Mebo, dass Platinen, die wie die angeblich gefundene Platine mit einem „M“ gekennzeichnet waren, nicht funktionsfähig waren und mit ihnen keine Bombe hätte gezündet werden können. Außerdem seien diese mit „M“ gekennzeichneten Platinen erst zu einem Zeitpunkt nach der Lockerbie-Katastrophe hergestellt worden. Auch der damalige Fundort der Platine, der von den ermittelnden Behörden als „Waldstück“ angegeben wurde, erscheint nicht glaubhaft. Die Aussage wurde aktenkundig vom damaligen Gericht als „im schlimmsten Fall ausweichend und äußerst verwirrend“ eingestuft. Heute gehen Experten davon aus, dass bei den herrschenden Wind- und Wetterverhältnissen das Platinteilchen in der Nordsee hätte gelandet sein müssen.

Eine weitere undurchsichtige Rolle spielte eine Bombenwerkstatt der Front zur Befreiung Palästinas im deutschen Neuss, die sich darauf spezialisiert hatte, Plastiksprengstoff in Kofferradios einzubauen und die im Oktober 1988 von BKA, BND und Verfassungsschutz ausgehoben wurde. Im Rahmen der Aktion wurden insgesamt sechzehn Verdächtige festgenommen, zwölf aber wieder freigelassen, darunter der Bombenbauer Khreesat, der gegenüber den deutschen Geheimdiensten glaubhaft versichern konnte: „Ich bin doch einer von Euch“. Beim Entschärfen der Khreesat-Bomben kam ein BKA-Mann ums Leben, einer wurde schwer verletzt. Einer der in dieser Werkstatt hergestellten Kofferradios mit Plastiksprengstoff soll beim Absturz von Flug PanAm 103 zum Einsatz gekommen sein.

Kurz nach dem Absturz hatte die CIA bekannt gegeben, es hätten sich mehrere Bekenner gemeldet, von den iranischen „Beschützern der islamischen Revolution“ über den „Islamischen Dschihad“ bis zur irischen „Ulster Defense League“. Es gab auch die Behauptung, der israelische Geheimdienst Mossad hätte das Attentat verübt. Die CIA selbst äußerte sich wie folgt: „Wir erachten bislang das Bekenntnis der „Beschützer der islamischen Revolution“ als das glaubwürdigste. […] Bis jetzt können wir die Verantwortung für diese Tragödie keiner Gruppe zuordnen. Wir erwarten, dass sich, wie schon oft, etliche Gruppen verantwortlich bekennen.“[14] Verdachtsmomente ergaben sich auch gegen ein von Syrien unterstütztes „Generalkommando der Volksfront für die Befreiung Palästinas“. Libyen hatte jegliche Beteiligung am Lockerbie-Attentat bestritten. Allerdings wurde Gaddafi als Motiv Vergeltung für die Bombardierung von Tripolis und Bengasi durch die USA in der Nacht von dem 14. auf den 15. April 1986 unterstellt, eine Strafaktion Ronald Reagans gegen den „tollwütigen Hund“. Bei den Bombenangriffen wurden etwa hundert libysche Zivilisten getötet oder verletzt, auch Hana, die Adoptivtochter Gaddafis, kam ums Leben.

Der 31. Dezember 1991 markierte das offizielle Ende der Sowjetunion. Schon im November 1991 hatten die USA und Großbritannien in einem gemeinsamen Dokument Libyen aufgefordert, die Verantwortung für das Lockerbie-Attentat zu übernehmen und den Nachrichtenoffizier al-Megrahi und den Stationsmanager von Libya-Arab-Airlines am Flughafen von Malta, Kalifa Fhimah, auszuliefern sowie Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen der Absturzopfer zu leisten. Als Libyen jede Beteiligung an dem Anschlag zurückwies und sich weigerte, die beiden Libyer auszuliefern, wurde dies vom UN-Sicherheitsrat als „Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ eingestuft und Libyen mit der Resolution 731 zur Kooperation aufgefordert. Interessant dabei ist, dass zu dieser Zeit terroristische Akte selbst nicht als „Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ angesehen wurden. Dies änderte sich erst nach dem 9/11-Anschlag auf die New Yorker Twin-Towers.

Der Chef des CIA-Lockerbie-Teams hieß Vincent Cannistraro, ein Offizier der Task Force. Cannistraro war schon im Jahre 1986 vom amerikanischen Präsidenten Reagan beauftragt worden, „Libyen zu destabilisieren und das Gaddafi-Regime zu zerstören“. In früheren Jahren hatte sich Cannistraro in der Iran-Contra-Affäre des Jahres 1980 hervorgetan sowie bei der Ausarbeitung des Plans, wie eine Invasion in Nicaragua zu bewerkstelligen sei. Er arbeitete auch im Geheimen daran, die afghanischen Mudschaheddin zu bewaffnen. Ebenfalls ist seine Teilnahme an einem Top-Secret-Treffen mit Oberadmirals Poindexter bezeugt, in dem es um die Möglichkeiten ging, die Regierung des Jemen zu destabilisieren. An dem Lockerbie-Prozess nahm Cannistraro nicht selbst teil und übergab dem Gericht auch keine Beweise.

Libyen versuchte, sich mit gerichtlichen Mitteln zu wehren und rief am 3. März 1992 den Internationalen Gerichtshof in Den Haag an. Die USA und Großbritannien sollten verpflichtet werden, die Androhung von Gewalt gegen Libyen zu unterlassen. Doch noch bevor Den Haag sich zu Wort melden konnte, erließ der UN-Sicherheitsrat am 31. März 1992 die Resolution 748, die Libyen mit umfassenden Sanktionen bezüglich Luftfahrt, Technologietransfer und diplomatischen Vertretungen belegte. Am 11. November 1993 wurden die Sanktionen mittels der UN-Resolution 883 noch einmal verschärft: Staaten sollten Konten und Vermögenswerte Libyens und ihrer Repräsentanten einfrieren. Obwohl kein Ölembargo verhängt worden war, machten sich die Sanktionen für Libyen bitter bemerkbar, beeinträchtigten die weitere Entwicklung des Landes und hinterließen spürbaren Schaden in Wirtschaft und Gesellschaft. Libyen bestritt weiter hartnäckig, für die beiden Flugabstürze in Schottland und im Niger verantwortlich gewesen zu sein. Nicht nur die Afrikanische Union (OAU) und die Arabische Liga (AL), auch die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) und die Bewegung der Blockfreien Staaten (Non-Aligned Movement – NAM) stellten sich auf die Seite Libyens. Besonders die OAU berief sich dabei immer wieder auf die UN-Charta, in der die Pflicht zur Respektierung der Souveränität von Staaten und zur friedlichen Streitbeilegung festgeschrieben ist.

Doch auch in den westlichen Staaten stießen die Sanktionen auf immer größere Kritik. Libyens „Internationale Gaddafi Stiftung“ hatte wiederholt eine wichtige Vermittlerrolle bei Verhandlungen mit Geiselnehmern gespielt, so im Jahr 2000 als auf den Philippinen westliche Touristen von Islamisten gekidnappt worden waren. Dies war in Europa positiv zur Kenntnis genommen worden.

Im Dezember 1996 erklärte al-Megrahi, sich in einem neutralen Land einem Gerichtsprozess stellen zu wollen, um seine Unschuld zu beweisen. Anlässlich eines Staatsbesuchs von Nelson Mandela in Libyen im Jahre 1997 geißelte dieser die „Arroganz der USA“ und unterstützte die Forderung der Arabischen Liga und der Organisation für Afrikanische Einheit nach Aufhebung der gegen Libyen verhängten Sanktionen. Mandela hatte auch versucht, zwischen Libyen und dem Westen zu vermitteln. Die UN erklärten sich bereit, einen Beobachter zum Lockerbie-Prozess zu entsenden.

Endlich im Februar 1998 erklärte sich der Internationale Gerichtshof in Den Haag zuständig, über die von Libyen eingereichten Klagen zu verhandeln. Mit den Klagen sollten die USA und Großbritannien zur Herausgabe von Beweismitteln über die angebliche Schuld der beiden Libyer gezwungen werden. Allerdings weigerten sich die USA und Großbritannien, die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs anzuerkennen. Im August 1998 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat eine erneute Resolution, die besagte, die verhängten Sanktionen aufzuheben, wenn Libyen die beiden Beschuldigten ausliefere. Daraufhin einigten sich Libyen, Großbritannien und die USA, die Beschuldigten in die Niederlande zu überstellen und dort nach schottischem Recht zu urteilen.

Im April 1999 erfolgte die Auslieferung von al-Megrahi und Khalifa Fhimah an ein schottisches Sondergericht. Die gegen Libyen verhängten Sanktionen wurden ausgesetzt. Im April 2003 erklärte sich Libyen bereit, die Verantwortung für die Handlungen der Libyer zu übernehmen und 2,7 Milliarden US-Dollar an die Hinterbliebenen der Opfer zu zahlen. Der UN-Sicherheitsrat hob daraufhin alle Sanktionen vollständig auf. Libyen hatte sich freigekauft. Shukri Ghanem, libyscher Premierminister in den Jahren 2003 bis 2006 sagte in mindestens zwei Radio- und Fernsehinterviews, dass Libyen für den Flugzeugabsturz nicht verantwortlich gewesen wäre und die Abfindung nur deshalb gezahlt hätte, „um Frieden zu erlangen und vorwärts zu kommen.“ Auch Gaddaifs Sohn, Saif al-Islam, äußerte sich zwanzig Jahre später zu den Bekenntnissen: „Wir haben dem UN-Sicherheitsrat in einem Brief geschrieben, dass wir verantwortlich sind für das Handeln unserer Leute. Das heißt aber nicht, dass wir es auch waren… Ich gebe zu, wir haben mit Worten gespielt. Das mussten wir auch. Das ging nicht anders.“

Im Januar 2001 wurde al-Megrahi für schuldig befunden, eine Bombe in das PanAm-Flugzeug geschmuggelt zu haben und zu lebenslanger Haft verurteilt.

Im September 2002 gaben die USA eine neue Nationale Sicherheitsstrategie bekannt, der zufolge sogenannte „Schurkenstaaten“ schon im Vorhinein angegriffen werden können, wenn es eine „ausreichende Möglichkeit der Bedrohung“ gibt. Danach reicht eine latente Bedrohung aus, um einen Angriff zu rechtfertigen, es bedarf keines unmittelbar bevorstehenden Angriffs. Diese sogenannte Präemptivdoktrin verstößt klar, im Gegensatz zur Präventivdoktrin, gegen das gültige Völkerrecht, das auf der UN-Charta und den Nürnberger Prinzipien beruht. Nebenbei: Im März 2015 unterzeichnete der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Barack Obama, eine Exekutivorder und erklärte das kleine Venezuela zu einer Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA.

Im Mai 2006 strichen die USA Libyen von ihrer Terrorliste, eröffneten eine Botschaft in Tripolis und arbeiteten bei der Bekämpfung von Dschihadisten eng mit Libyen zusammen.

Aus den Geschehnissen geht eindeutig hervor, dass die Interessen von politischen Mächten Vorrang vor nationalem und internationalem Recht hatten. Eine ZDF-Fernseh-Dokumentation zog 2013 Bilanz und stellte die Frage: „War der verurteilte Libyer Megrahi nur das Bauernopfer eines weltpolitischen Spiels westlicher Geheimdienste und Regierungen?“ [15]

Nachdem Libyen wieder in die sogenannte „Staatengemeinschaft“ aufgenommen worden war, machten sich die USA und Großbritannien daran, einen neuen Hauptverdächtigen aufzubauen. Hierfür musste der „Schurkenstaat“ Nummer zwei, der Iran, herhalten. So behauptete Vincent Cannistrano, Vorsitzender des CIA-Counterterrosim-Center im November 1990: „Präsident Hashemi Rafsandschani hat die Bombardierung des Fluges PanAm 103 im Sommer 1988 angeordnet. Er war damals Parlamentssprecher. Wir wissen, wer es war. Aus Sicht der Geheimdienste ist der Fall gelöst.“ Dies wurde auch von einem ehemaliger Mitarbeiter des iranischen Geheimdiensts, Abolgaschem Mesbahi bestätigt, ein Überläufer, der sich allerdings immer wieder als unglaubwürdig herausgestellt hatte. Plötzlich wiesen viele Fakten nicht mehr nach Libyen, sondern zu den Ayatollahs. Diese sollten als Rache für den Abschuss eines iranischen Passagierflugzeugs das Lockerbie Attentat ausgeführt haben. Am 3. Juli 1988 war über der Straße von Hormus ein Airbus der Iran Air, der sich noch im iranischen Luftraum befand und auf den Weg nach Dubai war, von zwei Flugabwehrraketen getroffen worden, abgefeuert von Bord eines US-Kriegsschiffes im Persischen Golf. Alle 290 Passagiere, darunter 66 Kinder, fanden den Tod. Die USA gaben an, sie hätten den Airbus für ein angreifendes iranisches F-14-Kampfflugzeug gehalten und deshalb ohne Vorwarnung die zwei Raketen abgeschossen. Ob dieser Abschuss wirklich als ein Versehen zu bewerten ist, bleibt bis heute höchst umstritten. Die Empörung der Weltöffentlichkeit über diesen Abschuss einer Passagiermaschine hielt sich, ganz im Gegensatz zum Lockerbie-Attentat, in engen Grenzen.

Doch im Jahr 2015 hat sich der politische Wind wiederum gedreht. Die USA haben mit dem „Schurkenstaat“ Iran ein Abkommen geschlossen und das Land ist ein wichtiger Mitspieler auf der politischen Bühne im Nahen Osten, insbesondere was den Krieg in Syrien betrifft. Nun erfolgte also ein erneuter Griff in die Mottentrickkiste: Der neue alte Attentäter ist Libyen, das aufgrund seiner gegenwärtigen Situation nicht in der Lage sein dürfte, sich gegen die Vorwürfe zu wehren. Einer der Beschuldigten ist Abu Agila Mas’ud, ein ehemaliger libyscher Geheimdienst-Offizier, der im Moment in Tripolis von einem Scharia-Gericht beschuldigt wird, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Ein US-Journalist will nach Recherchen herausgefunden haben, Mas’ud hätte nicht nur die Bombe für Flug PanAm 103 gebaut, sondern auch die für den Anschlag auf die Diskothek „La Belle“ 1986 in Berlin.

Schuldig ist immer der, den die USA für schuldig erklären, je nach weltpolitischer Interessenlage. Schmierentheater reloaded.

NACHTRAG 05.05.2018: Ein schottisches Gericht (Scottish Criminal Cases Review Commission - SCCRC) wird das Lockerbie-Urteil von Abdelbaset al-Megrahi komplett überprüfen und dann entscheiden, ob gegen das Urteil Berufung eingelegt werden kann.
Bereits 2017 hatten Familienangehörige des wegen des Lockerbie-Attentats verurteilten Abdelbasit al-Megrahi neuerlich den SCCRC angerufen.
Megrahi wurde 2001 von einem schottischen Sondergericht zu lebenslanger Haft verurteilt. Der offiziell ernannte internationale UN-Prozessbeobachter Prof. Hans Köchler veröffentlichte 2001 und 2002 jeweils Berichte, in denen er von einem „spektakulären Justizirrtum“ sprach. Der Versuch, im Juli 2003 den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzuschalten, wurde abgeschmettert. 2003 klagte al-Megrahi erfolglos vor dem Gerichtshof in Glasgow. Nachdem aber eine offizielle schottische Untersuchungskommission die Verurteilung des libyschen Geheimdienstlers als „möglichen Justizirrtum" bewertet hatte und Vorwürfe im Raum standen, dass Beweise gefälscht und Zeugen manipuliert worden seien, der Prozess also an einem Justizirrtum leiden könnte, wurde der Fall zunächst 2007 an das Höchste Schottische Gericht überwiesen, das in einer ersten Entscheidung 2008 Megrahi bezüglich einer Immunitätsfrage für britische Minister nicht recht gab. Bevor es allerdings zu einer endgültigen Entscheidung kommen konnte, zog Megrahi am 14. August 2009 seine Berufung zur Gänze zurück, um nur sechs Tage später, am 20. August 2009, wegen einer lebensgefährlichen Krebserkrankung aus der Haft entlassen zu werden. Al-Megrahi, der immer seine Unschuld beteuert hatte, konnte nach Libyen zurückkehren. Dort starb er 2012.
In der Begründung des SCCR hieß es, Megrahi habe eine echte und vernünftige Überzeugung gehabt, dass seine Rücknahme des Berufungsantrags dazu führen würde, dass er aus der Haft entlassen und nach Libyen zurückkehren könne. Zu dieser Zeit habe er an Krebs im Endstadium gelitten. Nun liege es im Interesse der Gerechtigkeit, den aktuellen Antrag auf eine vollständige Überprüfung seiner Verurteilung anzunehmen.
Der Anwalt der Familie Megrahi begrüßte die Nachricht.

NACHTRAG 13.03.2020: Die schottische Kommission zur Überprüfung von Kriminalfällen(Scottish Criminal Cases Review Commission - SCCRC) hat erklärt, dass die Familie des 2012 verstorbenen Abdelbaset al-Megrahi gegen seine Verurteilung in Berufung gehen könne.


[1] Yvonne Schmidt, „Die Causa Lockerbie aus völkerrechtlicher Sicht“ in: „Libyen“ (2009)

[7] Gerard Colby, Charlotte Dennet: „Thy will be Done. The Conquest of the Amazon: Nelson Rockefeller and Evangelism in the Age of Oil.“ HarperPerennial, 1996.

[14] http://www.foia.cia.gov/docs/DOC_0000427163/0000427163_0002.gif (Memento vom 1. Februar 2006 im Internet Archive)

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Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

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