Sirte und der Islamische Staat

Libyen. Das Leben in Sirte unter der Herrschaft des Islamischen Staates.

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Sirte war die Geburtsstadt Gaddafis und leistete 2011 bis zuletzt erbitterten Widerstand gegen die NATO-Krieger und ihre dschihadistischen Unterstützer. Milizen aus der Stadt Misrata, die sich schon immer als die Erzfeinde der in Sirte beheimateten Stämme sahen, belegten die Stadt wochenlang mit Artilleriefeuer, während Nato-Bomber Einsätze flogen. Zuletzt flüchteten Gaddafi und sein Sohn Mutasim Billah, die sich mit einigen Getreuer in der Stadt aufgehalten hatten, in einem Konvoi, wurden von „Aufständischen“ gestellt, gefangengenommen und bestialisch ermordet.

In der Stadt, die nach den umfangreichen Bombardements großflächig in Schutt und Asche gelegt war, hatten zunächst Misrata-Milizen die Kontrolle übernommen, bevor die schutzlosen Bewohner Sirtes den Dschihadisten überlassen wurden. Alle Soldaten der Stadt, die einst in der libyschen Armee gedient und für Gaddafi gekämpft hatten sowie alle anderen Gaddafi-Getreuen, denen es nicht gelungen war zu flüchten, waren entweder getötet worden oder in den Verließen der Sieger verschwunden, wo Folter und Mord an der Tagesordnung waren.

So gelang es immer mehr dschihadistischen Kämpfern, in die Stadt einzudringen und sich dort festzusetzen. Anfang 2015 war es dann soweit: Der IS startete einen Großangriff auf Sirte, das sich in keinster Weise verteidigen konnte. Ein Augenzeuge erzählt: „Wir hatten keine Waffen und keine Männer. Deshalb entschlossen wir uns zur Aufgabe, um das Leben unserer jungen Männer zu schützen.“ Hilferufe in Richtung Tripolis verhallten ungehört. Dem in Tripolis herrschenden GNC (General National Congress) und seinen Milizen, wo ein Belhadsch als ehemaliger Anführer von al-Kaida das Sagen hatte, war es wohl nur recht, wenn ausgerechnet die ehemalige Gaddafi-Stadt Sirte unter die Herrschaft des IS geriet. Jede Demütigung des Stammes von Gaddafi, der Dschihadisten Zeit seines Lebens scharf bekämpft hatte, rief dort vor allem Schadenfreude hervor.

Die Bewohner von Sirte zahlen heute noch einen hohen Preis für ihre Loyalität gegenüber Gaddafi. Täglich wird die totalitäre Kontrolle des IS über die Bewohner von Sirte noch schlimmer, wird die Stadt zunehmend zum Schauplatz für unmenschliche Gräueltaten.

In dem Artikel „Broken Land“ beschäftigt sich buzzfeed.com unter anderem mit der Situation der Stadt Sirte, die seit Anfang 2015 unter IS-Kontrolle steht.
http://www.buzzfeed.com/borzoudaragahi/isis-is-running-rampant-in-libya#.kqaKNYzaz

Altgediente Stammesführer wurden gezwungen, ihre Stellungen aufzugeben. Sie dürfen nicht mehr Recht sprechen, sondern es gilt nur noch das Recht der Scharia-Justiz. Landbesitzer müssen nun eine monatliche Steuer für ihren Besitz entrichten, der IS treibt Steuern für jedes Tier ein, das auf Bauernhöfen gehalten wird. So hat sich das Leben in der Nach-Gaddafi-Ära geändert: Anstatt dass die Bürger an den Öleinnahmen beteiligt werden, sind sie nun gegenüber dem IS steuerpflichtig.

Stadtbewohner erzählen, die IS-Kämpfer stammten mehrheitlich aus anderen Ländern wie Tunesien, Ägypten, Somalia, Mali und Niger. „Ruft der Muezzin zum Gebet und du kommst nicht, halten sie dich auf und sperren dich ein“, erzählt ein Geschäftsmann. „Sie können dich gut behandeln, oder sie können dich zu religiösen Schulungen schicken oder sie können dich auspeitschen lassen.“

„Ehemalige Sicherheitskräfte müssen entweder öffentlich Buße tun oder sie werden als Ungläubige zum Tode verurteilt. Als Hinrichtungsstätte dienen zwei Kreisverkehre. Das Verbrechen wird laut verkündet. Jeder, der gegen den IS gekämpft hat, wird erschossen und gekreuzigt. Einige wurde auch geköpft.“

„Die Lebensumstände sind miserabel. Banken haben geschlossen, Handy- und Telefonnetze funktionieren nicht, Internet und Satelliten-Fernsehen sind unterbrochen, es gibt kein Benzin mehr. Pässe, Geburts- und Eheurkunden werden nicht mehr ausgestellt. Im Radio hört man nur noch Predigten von dem IS-Gründer Abu Bakr al-Bagdadi oder es werden Koranverse rezitiert. Nach Einbruch der Dunkelheit traut sich niemand mehr auf die Straße“, soweit ein anderer Bewohner.

Milizen fahren in Toyota Pickups, von denen die meisten aus dem Bestand der Stadtverwaltung entwendet wurden, durch die Stadt. Hunderte ehemalige Staatsangestellte, die heute arbeitslos sind, müssen sich jeden Tag im Kongresszentrum einfinden, um Koranklassen zu besuchen.

Die IS-Kämpfer haben sich in der Stadt verteilt. Wie schon Jürgen Todenhöfer in einem Interview über die im Irak gelegene IS-Hochburg Rakka erzählt, verteilen sich die IS-Kämpfer in Städten auf verschiedene Wohnungen, zwei bis vier Kämpfer in einer Wohnung, ein bis zwei Wohnungen in einem Haus. Ein paar tausend Kämpfer in einer Stadt, verteilt auf ein paar tausend Wohnungen in ein paar tausend Häusern. Die gesamte Stadt wird zu einem lebenden Schutzschirm. Und sollte die Stadt trotzdem bombardiert werden, werden als Zivilisten die verhassten Stammesangehörigen Gaddafis getroffen.

Der von einer NGO veröffentlichte „Libyen Body Count“ gibt an, dass allein im Jahr 2015 in Sirte 235 Personen durch Gewalteinwirkung zu Tode kamen. Kein Wunder, dass die verbliebenen Einwohner der Stadt einen unbekannten Scharfschützen als Helden feiern, der seit Mitte Januar drei hochrangige IS-Leute erschossen hat.

Während alle drei in Libyen um die Macht ringenden Regierungen (das Tobruk-Parlament, der Tripolis-Rat und die Einheitsregierung in Tunis) die Anschläge von Brüssel mit über 30 Toten verurteilten, feierte sie der IS in Sirte, indem bewaffnete Kämpfer auf ihren Pickups mit wehender IS-Fahne durch die Stadt fuhren und in die Luft schossen.

Unter diesen Umständen hat ein Exodus der Bevölkerung stattgefunden. Wer immer die Möglichkeit hat, versucht aus Sirte zu fliehen. Allerdings ist es nur schwer vorstellbar, dass der IS, der in der Bevölkerung keinen Rückhalt hat, sich auf Dauer in Sirte wird halten können. Statt mit Bomben oder ausländischen Interventionen wäre es wichtig, ihm die Versorgungswege für Waffen, Geld und Kämpfer abzuschneiden. Doch liegt das wirklich im Interesse des Westens, das dringend einen Interventionsgrund braucht? Und liegt es im Interesse der Milizen von Tripolis und Misrata, die zusahen, als der IS in der Gaddafi-Stadt Sirte die Macht übernahm? Wie steht es mit einer nicht nur klammheimlichen Sympathie dieser Kräfte mit dem IS, der sich ideologisch bezüglich der Organisation und Funktion eines Staates nicht allzu sehr von den eigenen Vorstellungen unterscheiden dürfte?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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