Tunesien nach den Kämpfen in Ben Gardane

Am Abgrund. Bei einem Angriff von IS-Kämpfern in der tunesischen Stadt Ben Gardane gab es mehr als 50 Todesopfer.

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Am 7. März griffen um fünf Uhr morgens IS-Kämpfer in der tunesischen Stadt Ben Gardane zeitgleich Kasernen der Polizei, der Nationalgarde und der Armee mit Granatwerfern und Schnellfeuergewehren an. Bei den stundenlangen Kämpfen kamen 28 Dschihadisten, 10 Sicherheitskräfte und 7 Zivilisten ums Leben. Die Kämpfer errichteten Straßensperren und versuchten, die Passanten zu beruhigen: „Der Angriff richtet sich nicht gegen Euch, sondern gegen das Militär und die Polizei.“ Laut Zeugenaussagen waren viele der Männer, die sich zweifellos perfekt in der Stadt auskannten, Einwohner von Ben Gardane[1].

Die tunesische Armee riegelte daraufhin alle Ausfahrtsstraßen der Stadt ab, ebenso wie die Zufahrt zur nahe gelegenen Urlauberinsel Dscherba, die Grenze zu Libyen wurde komplett geschlossen und eine nächtliche Ausgangssperre von 19 Uhr abends bis 5 Uhr morgens verhängt. Um den Angriff endgültig zurückzuschlagen, benötigte das tunesische Militär mehrere Tage. Noch am 9. März kam es zu Schießereien, bei denen nochmals sieben Dschihadisten getötet wurden. Die Armee hob ein großes Waffenlager mit automatischen Gewehren, Raketenwerfern und Sprengstoff aus.

Ein Aktivist twittert: „Das sind traurige Tage. Ein Menschenleben zählt in Tunesien nichts. Die toten Zivilisten werden kaum erwähnt.“

Das Städtchen Ben Gardane liegt nur etwa 30 Kilometer von der Grenzstation Ras Ajdir entfernt. Die Stadt lebte vor dem NATO-Krieg gegen Libyen hauptsächlich vom geduldeten kleinen Schmuggel: Billiger libyscher Sprit und die in Libyen subventionierten Gebrauchsgüter wie Kühlschränke und Fernseher wurden via kleinem Grenzverkehr nach Tunesien eingeführt, zusätzlich verdienten sich etliche Bewohner von Ben Gardane ihren Unterhalt mit illegalen Geldtauschgeschäften. Seit dem Krieg 2011 drängten immer mehr Flüchtlinge über die Grenze nach Tunesien und Ben Gardane entwickelte sich immer mehr zu einer Drehscheibe für terroristische Netzwerke und informelle Geschäfte.

Die Behauptung der Medien, der Anschlag in Ben Gardane sei völlig überraschend gekommen, kann nur als falsch bezeichnet werden, denn es ist immer offensichtlicher, dass sich in bestimmten Ländern wie Libyen und Tunesien Zentren für ausländische Kämpfer bildete. Die östlichen Küstenregionen Libyens, besonders Bengasi und Derna, waren als Rekrutierungshochburgen bekannt. In Tunesien lieferte Ben Gardane die größte Anzahl an ausländischen IS-Kämpfern, obwohl die Stadt gerademal 80.000 Einwohner hat. Die dschihadistische Tradition ist in Ben Gardane so ausgeprägt, dass der bereits 2006 getötete, frühere Anführer von al-Kaida im Irak, Abu Musab al-Zarkawi, einmal sagte: „Würde Ben Gardane in der Nähe von Falludschah liegen, hätten wir den Irak schon befreit“.[2] Seit 2012 hat die tunesische Regierung nichts dagegen unternommen, dass sich kampfbereite Dschihadisten frei bewegen und organisieren sowie ihre Hassparolen verbreiten konnten, wie zum Beispiel ein YouTube-Video, aufgenommen in Kairouan, beweist.[3]

Leila Chettaoui, Mitglied des tunesischen Verteidigungs- und Sicherheitsausschusses, zeigte sich besorgt, es könne weitere Angriffe auch in anderen Regionen Tunesiens geben und so bereitet sich das Militär auf das Schlimmste vor.

Doch wie konnte es überhaupt zu dem Vorfall von Ben Gardane kommen? Er ist nur durch ein totales Versagen geheimdienstlicher Aufklärung zu erklären. Betrachtet man Fotos vom Krisenzentrum der tunesischen Armee erstaunt dies nicht wirklich. Abgebildet wird ein heruntergekommenes Büro mit zerfledderten Landkarten und fehlender technischen Ausstattung und der als starker Mann in Sicherheitsfragen inszenierte Präsident Beji Caid Essebsi ist unsägliche 90 Jahre alt! Davor werden die bestens von Saudi-Arabien mit modernsten amerikanischen Waffen ausgerüstete Dschihadisten sicher sehr große Angst haben! Und wenn der amerikanische Botschafter in Tunis erklärt, die USA werden dem Land ihre volle Unterstützung im Sicherheits- und Militärbereich angedeihen lassen, dann haben wohl eher die Tunesier einen Grund zum Fürchten.

Es wird davon ausgegangen, dass bereits an die 700 dschihadistische Kämpfer aus Syrien und Libyen in ihre Heimat Tunesien zurückgekehrt sind. Die meisten sind unerkannt ins Land gekommen, die anderen werden überwacht oder sind gleich im Gefängnis gelandet, wo eine weitere Radikalisierung einsetzen dürfte. Eine Strategie der oft gewalt-traumatisierten Rückkehrer könnte darin bestehen, dass sie sich vom IS abwenden und anderen extrem-islamistischen Gruppen, die von Saudi Arabien und der Türkei finanziert werden, anschließen und so ihren Kampf fortsetzen. Dies stellt eine große Gefahr nicht nur für Tunesien, sondern vor allem für Libyen dar, wo der IS massiv bekämpft wird, gleichzeitig aber eine Unzahl dschihadistisch-islamistischer Gruppen vor allem im Westen des Landes und in der Hauptstadt Tripolis ihr Unwesen treiben, die teilweise auch vom Westen, der Türkei und Saudi-Arabien unterstützt werden.

Angeblich war der Angriff in Ben Gardane schon seit Monaten geplant. Doch sprechen einige Gründe dafür, dass es auch aktuelle Auslöser für die massiven Attacken der Radikal-Islamisten gab. Zum einen dürfte sich der IS für die Angriffe der USA auf die IS-Stützpunkte bei Sabratha und für die durch ausländische Geheimdienste geplanten Befreiungsaktionen italienischer Geiseln gerächt haben, bei der 50 IS-Kämpfer, zum überwiegenden Teil tunesische Staatsangehörige, getötet wurden; zum anderen hat er vorgeführt, wie handlungsfähig er in diesem instabilen Tunesien trotz angelegter Grenzwälle und aller geplanter Schutzmaßnahmen ist. Und nicht zu vergessen ist der Wunsch des IS, den Westen immer weiter in den „Krieg gegen den Terror“ zu verstricken. Jeder Raketenangriff mit Zivilisten als Todesopfer treibt dem IS neue Sympathisanten und Kämpfer zu. Der IS träumt von einem Bodenkrieg in einem Gebiet, wo er sich den westlichen Armeen überlegen fühlt.

Es hilft auch der gerade in Betrieb genommene Grenzwall entlang der tunesisch-libyschen Grenze nichts, wenn der Anlass für die Unzufriedenheit im eigenen Land liegt: Die Arbeitslosigkeit ist hoch, vor allem im Süden, hervorgerufen auch durch Entlassungen in den Phosphatminen, den Einbruch des Tourismus und der Unfähigkeit der Regierung, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Man darf mit Sicherheit davon ausgehen, dass die neoliberalen Wirtschaftskonzepte von IWF und Weltbank die Situationen in Tunesien weiter verschlechtern werden. Um eine Familie in Tunesien durchbringen zu können, muss wenigstens ein Familienmitglied einen Job haben. Doch bei der sich durchgehend verschlimmernden sozialen und wirtschaftlichen Lage stehen viele Familien nun völlig ohne Einkommen da.

Auch die bisherige Haupteinnahmequelle des Landes, Überweisungen von Arbeitsemigranten aus dem Ausland, ist zusehends versiegt. Nicht nur in Frankreich macht die um sich greifende Arbeitslosigkeit tunesische Emigranten brotlos, auch in Libyen werden aufgrund des Bürgerkriegs kaum noch Gastarbeiter beschäftigt.

Den zweiten finanziellen Eckpfeiler Tunesiens bildet der Tourismus. Doch die Touristen haben Angst vor Terroranschlägen. Die Nähe zu Libyen und die politisch instabile Lage beunruhigen. So verzeichneten die Buchungen nach einem Rückgang im Jahr 2015 um 35 Prozent, bisher im Jahr 2016 einen nochmaligen Rückgang von 74 Prozent. Bereits im Jahr 2015 mussten 48 Prozent der tunesischen Hotels schließen, welch katastrophalen Entwicklungen für das Jahr 2016 zu erwarten sind, lässt sich unschwer voraussagen. Nun ist auch noch für Reisende im ganzen Land eine hohe Sicherheitswarnung ausgesprochen worden, über Facebook und Twitter sollen sich die Touristen über die aktuellen Entwicklungen informieren.[4] Diese gefährliche Entwicklung bekommen nicht nur die großen Hotelanlagen zu spüren, sondern auch die vielen Kleinhändler, die ihre Souvenirs nicht mehr an den Mann bringen. Der IS und die ihn unterstützenden Kräfte sind äußerst erfolgreich, wenn es darum geht, das Land wirtschaftlich zu ruinieren und politisch in die Katastrophe zu treiben.

Man sollte nicht vergessen, dass das alte Tunesien neben dem Mangel an Demokratie, Pressefreiheit und Achtung der Menschenrechte durchaus auch positive Errungenschaften vorweisen konnte wie zum Beispiel einen hohen Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung, den stetigen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in den letzten Jahrzehnten, eine einigermaßen funktionierende Krankenversorgung, das Senken des Bevölkerungswachstum dank Familienplanungsprogrammen auf um die zwei Prozent und die Steigerung der Lebenserwartung auf fast 74 Jahre. Wie sich schon Anfang des Jahres 2012 abzeichnete, konnten all diese Errungenschaften seit der 2011-Revolution nicht gehalten werden und ziehen eine breite Frustration der Bevölkerung nach sich. [5] Im Bericht des IWF über das weltweite Wirtschaftsranking der Jahre 2015 und 2016 ist Tunesien auf Rang 92 (von 144 Ländern) abgerutscht.

Die Enttäuschung macht anfällig für Radikalisierung und dschihadistische Gruppierungen werden als Alternative zum säkularen Staat gesehen. Über die Ohnmacht der Regierungen gegenüber den Dschihadisten schrieb >Le Monde diplomatique<: „Dass sich junge Leute den dschihadistischen Bewegungen anschließen, entspringt dem Wunsch, einer korrupten Welt zu entfliehen. Sie streben nach einer >Läuterung< und wollen damit zeigen, dass sie die gesellschaftlichen und politischen Demütigungen satthaben.“[6] Eben diese Demütigungen aufzuheben ist der wichtigste Angelpunkt, um der dschihadistischen Bedrohung entgegenzuwirken. Eine solidarische und gerechte Gesellschaft, eine solidarische und gerechte Weltordnung, das ist die Antwort, die einem extremen Islamismus den Boden entziehen könnte.

Und was fordert der französische Botschafter in Tunesien: Jetzt endlich die libyschen Probleme zu lösen. Aha. Und wie? Am besten mit Bomben, wie im Irak, in Syrien und auch schon in Libyen praktiziert? Darauf wird es hinauslaufen. Denn die New York Times berichtete dieser Tage, dass das Pentagon auf breiter Ebene Luftschläge in Libyen durchführen wolle. Die Rede ist von 30 bis 40 Zielen in vier verschiedenen Regionen des Landes. Wie Jürgen Todenhöfer in einem äußerst interessanten Interview[7] erklärt, käme das der Strategie des IS sehr entgegen. Die Rekrutierung neuer Kämpfer wäre gesichert. Denn der IS verfolgt die Strategie, sich in Städten auf verschiedene Wohnungen zu verteilen, zwei bis vier Kämpfer in einer Wohnung, ein bis zwei Wohnungen in einem Haus. Ein paar tausend Kämpfer in einer Stadt, verteilt auf ein paar tausend Wohnungen in ein paar tausend Häusern. Eine Bombardierung wird die Zivilbevölkerung danken. 90 Prozent der Opfer bei US-amerikanischen Drohnenangriffen sollen Zivilisten sein. Ist das vielleicht auch der Grund, warum sich IS-Kämpfer in Libyen gerade in der Gaddafi-Hochburg Sirte festgesetzt haben? Wird Sirte bombardiert, trifft es ja nur Menschen vom Gaddafi-Stamm, die ihrem Revolutionsführer bis zuletzt die Treue gehalten haben. Todenhöfer bringt übrigens noch ein weiteres sehr anschauliches Bild über die Vorgehensweise des Westens gegen den IS. Er vergleicht sie mit jemanden, der mit Knüppel auf ein Wespennest einschlägt, nachdem er von einer Wespe gestochen wurde. Wie die Wespen darauf reagieren, dürfte bekannt sein.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärte der damalige Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten und spätere Außenminister Colin Powell: „Mir gehen die Schurken aus. Ich habe nur noch Fidel Castro in Kuba und den Machthaber in Nordkorea.“ Doch siehe da, mit 9/11 und dem darauf folgenden Kampf gegen den Terror war ein unerschöpflicher Vorrat an Feinden kreiert und ein niemals endender Krieg möglich geworden. Der so gewinnträchtige militärisch-industrielle Komplex konnte am Laufen gehalten werden. Und ein paar alt-neue Widersacher wie Saddam Hussein und Gaddafi (an Assad biss man sich bisher die Zähne aus) konnten auch gleich beseitigt und deren Länder gespalten und verwüstet werden.

Was für eine Inszenierung!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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