Warum sich die Erstürmung Tripolis verzögert

Libyen/LNA. Hinter den Kulissen werden regionale und internationale politische Fäden gezogen und die Karten neu gemischt.

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Ein Artikel, der die aktuelle militärische Situation in und um Tripolis erhellt, wurde am 1. November 2019 auf Internationalist 360° veröffentlicht.[1] Hier seine Übersetzung.

"Kommentar der Redaktion:
Ein weiterer wichtiger Grund für die Verzögerung, der allerdings in dem Artikel nicht angesprochen wird, sind die miteinander konkurrierenden Interessen der ausländischen Akteure. Die NATO-Staaten versuchen immer noch, Spaltung und Konflikte für ihre kolonialen Ambitionen auszunutzen und Ressourcen auszubeuten.

Ungeachtet der Menge und der Schwere der dokumentierten Verbrechen der von der UNO und der NATO eingesetzten Regierung in Tripolis und ihrer Bündnisse mit terroristischen und kriminellen, transnationalen Organisationen bestehen die Vereinten Nationen weiterhin darauf, deren Status als „international anerkannte Regierung“ aufrechtzuerhalten und die Legitimität der gewählten Regierung zu ignorieren.

Die Milizen mit friedlichen Mitteln zu entmachten, würde bedeuten, das dahinter stehende Regime seines Anscheins von Legitimität zu entkleiden. So bleibt als einzige Lösung die militärische Option. Und, was noch wichtiger ist, es ist der Weg, den das libysche Volk gewählt hat.

Im August erklärte die Armee: „Bei dem Kampf geht es nicht um die Befreiung von Tripolis, sondern um die Beseitigung des Terrorismus. Dies bedeutet, die erfolgreiche Strategie anzuwenden, die Milizen aus der Hauptstadt zu locken, um Tripolis die Geißel des Krieges zu ersparen und die Zivilbevölkerung zu schützen.“

Genau dies geschieht jetzt.

Siehe auch:
https://libya360.wordpress.com/2019/06/12/libya-what-the-elected-house-of-representatives-asks-of-the-international-community/
https://libya360.wordpress.com/2016/05/24/understanding-libya-part-ii-interview-with-alexandra-valiente/
auf deutsch: https://www.freitag.de/autoren/gela/libyen-verstehen-teil-ii

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Am 4. April 2019 begann die Operation Flood of Dignity (Flut der Würde) der Libyschen Nationalarmee mit dem Ziel, Tripolis von terroristischen Gruppen und bewaffneten Milizen zu befreien. Lokale, regionale und internationale Gründe waren für diese Entscheidung des Generalkommandos der Streitkräfte ausschlaggebend, der schwerwiegendste Grund war das Eiltempo, mit dem ein türkischer Vorstoß unternommen wurde, um terroristische Milizen mittels Ausbildung und Waffen zu unterstützen sowie der Transfer von Kämpfern aus Syrien in die Gebiete Westlibyens.

Viele fragen: Wie ist der Stand der Kämpfe? Die Warlords werden darauf antworten, dass ihre Milizen standgehalten haben und Haftars Streitkräfte daran gehindert wurden, die Hauptstadt zu erobern; dass sie einen „Militärputsch“ gegen den „Zivilstaat“ verhindert hätten und dass die „Invasoren“ Verluste an Leben und Ausrüstung erlitten hätten.

Die Aussage der libyschen Nationalarmee dagegen lautet, dass sie nur noch wenige Kilometer vom Zentrum der Hauptstadt entfernt ist, wichtige strategische Positionen in der Umgebung eingenommen hat, nun den Luftraum, auch im Westen, kontrolliert und dass es gelungen ist, den Milizen große Verluste zuzufügen. Die wichtigsten terroristischen Kommandanten seien erledigt, die Treffer bei Bombardierungen in der Stadt Misrata und beim Angriff auf feindliche Positionen im Zentrum von Tripolis hoch gewesen. Der türkischen Intervention ist Einhalt geboten worden, indem ihre Stellungen und Einsatzzentren bombardiert wurden.

Der Armee gelang es, ihr Hauptquartier in Tarhouna, einer der wichtigsten Städte im Westen des Landes, zu errichten und ihre Standorte in Sahran, Sabrata, Aziziya sowie in den meisten Gebieten rund um Tripolis und auf dem Luftwaffenstützpunkt Al-Watiya auszubauen, um diese wichtigen Stellungen vor Einflüssen aus den westlichen Bergen zu schützen. Die Straße von al-Dschafra in den Süden wurde abgeschnitten und viele Kämpfer aus der östlichen Region, die nach den Niederlagen in den Kämpfen um Adschdabiya, Bengasi und Derna in den Westen des Landes geflohen waren, eliminiert.

Die Armee spräche auch von der erfolgreichen Wiederherstellung ihrer nationalen Legitimität, da sie Kämpfer verschiedener Seiten und unterschiedlicher libyscher Städte, Dörfer und Stämme unter ihrer Fahne versammelt hat, um eine nationale Aussöhnung zu bewirken, die den historischen Werdegang der Streitkräfte respektiert; sie beteiligte sich an den Kämpfen mit einer eindeutigen Militärdoktrin und einer professionellen Hierarchie, durch die sie die Anerkennung staatlicher Institutionen wiedererlangt.

Was die Verzögerung bei der Befreiung von Tripolis betrifft, scheint das Problem knifflig zu sein, und die zuständigen Stellen halten Details zurück. Klar ist: Was in Libyen vor sich geht, entspricht dem, was in der gesamten Region und auf der Welt vor sich geht. Einflussreiche internationale Mächte unterstützen die Operationen der libyschen Armee, haben aber Vorbehalte. Es kommt daher zu keinen verbindlichen Entscheidungen bezüglich der Einstellung der Feindseligkeiten oder der Verurteilung des Vormarschs der Armee. Es ist kein Geheimnis mehr, dass das Generalkommando der Streitkräfte in den meisten Regierungsstädten akzeptiert wird, einschließlich Washington, das heute nicht nur bei kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern auch in Bezug auf die politische Entscheidungsfindung die wichtigste Macht ist – nach dem der Präsidialrat versagt hat und sein Vertrauen in Terroristen und Söldner bei der Abwehr der Flood of Dignity setzte.

Es ist aber auch klar, dass es von der Welt gewollt ist, dass die Armee so viele Milizen und Terrorgruppen wie möglich eliminiert und deren Potential erschöpft, bevor sie die Hauptstadt einnimmt.

Keine der Großmächte kann Bewaffnete, die außerhalb des Gesetzes stehen, oder Warlords, die den Wiederaufbau des Staates behindern, verteidigen, ebenso wenig wie sie eine Regierung verteidigen kann, die sich hinter Söldnern, Terroristen, Kriegsverbrechern, Menschenhändlern und Dieben versteckt, die auf die Plünderung öffentlicher Gelder spezialisiert sind.

Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sich die Welt bewusst ist, wie die Milizen beschaffen sind, die Tripolis beherrschen. Die meisten Regierungen mit Einfluss in der Region oder international, wollen die Zerstörung der Milizstruktur und die Liquidation ihrer Kommandeure. Zur Erfüllung dieser Aufgabe haben sie der Armee freie Hand gegeben. Allerdings stellt dies gleichzeitig eine Bewährungsprobe für die Streitkräfte dar.

Die libysche Nationalarmee hat die militärische Stärke, sofort in die Hauptstadt vorzurücken. Aber diese Stärke hatte sie bereits bei Beginn der Operation. Auch ist es kein Geheimnis, dass Spezialeinheiten in der Lage wären, auf dem gesicherten Marinestützpunkt zu landen, auf dem sich der Präsidialrat aufhält. Sie könnte auch in al-Omran in Straßenkämpfe mit Milizen eintreten, die eine wichtige Rolle in Bengasi und Derna spielten.

Die Entscheidung über eine endgültige Zerschlagung der Milizen, was den Weg nach Tripolis öffnen und das Vorrücken in die Hauptstadt ermöglichen würde, kann nicht allein vom Generalkommando getroffen werden, sondern ist eine Entscheidung von regionalen und internationalen Mächten, die noch nicht endgültig gefällt wurde.

Der Grund für die Verzögerung der Entscheidung ist, dass die Welt nicht will, dass in Tripolis ein Bürgerkrieg ausbricht und die Stadt zu einem neuen Beirut, Kabul, Mogadischu oder Sarajevo wird. Deshalb ist es notwendig, dass der Einzug in die Hauptstadt erst der letzte Schritt der Armee ist, nachdem die al-Wefaq-Kämpfer entkräftet sind.

Heute, nach sechs Monaten, ist es der Armee gelungen, mehr als die Hälfte des Milizenpotenzials zu zerstören. Noch wichtiger ist jedoch, dass sie die Lufthoheit erlangt hat und das Land zu einer Falle für Terroristen wurde. Die Welt ist gezwungen, all diese Erfolge anzuerkennen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Streitkräfte Tripolis stürmen. Aber Konferenzen und Meetings zielen vorrangig auf die Ausgestaltung des politischen Tableaus nach diesem Sieg: jede Seite ohne Milizen, aber mit den Kräften, die sie in der darauf folgenden politischen Phase unterstützen möchten."

[1] https://libya360.wordpress.com/2019/11/01/libya-reasons-for-the-delay-in-storming-tripoli/?fbclid=IwAR0EMgFnRSLri7ggmAwjQMe9XMEdyUIxsqI8_3kYOhgLL50KvcSTD1tkL5Q

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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