Warum sich die Libyer Gaddafi zurückwünschen

Libyen. Die entsetzlichen Lebensverhältnisse in Tripolis lassen die Menschen verzweifeln.

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War der Winter in Tripolis[1] schon schlimm, so sind die Sommermonate noch viel schrecklicher. Der LibyaHerald zitiert in einem Artikel von Moutaz Ali einen Stadtbewohner mit den Worten: „Die Revolution war für uns ein Desaster und hat nichts außer Zerstörung gebracht. Ich möchte die Zeiten, so wie sie unter Gaddafi waren, zurück, und wenn es nur für einen einzigen Tag wäre.“[2]

Der Autor hält es nicht für verwunderlich, wenn in der Hauptstadt die Verachtung für den Präsidialrat ständig steigt. Diese schlage sich aber nicht in Sympathie für Khalifa Heftar, den General im Osten des Landes nieder, sondern komme einzig und allein Gaddafi zugute.

Die Nerven bei den Stadtbewohner liegen bei Temperaturen täglich um die 40° C blank. Da es an der Grundversorgung fehlt, ist ein normales Leben fast unmöglich. An manchen Tagen gibt es nicht einmal Wasser, der längste Wasserausfall dauerte volle sechs Tage.

Stromausfälle zwischen 14 und 20 Stunden sind an der Tagesordnung. Das bedeutet, man sitzt abends ohne Licht da und der Fernseher funktioniert nicht, ebenso wenig wie Telefon oder Internet, von der Klimaanlage erst gar nicht zu reden. In den Kühlschränken verrotten die Nahrungsmittel. Das ganze Leben in der Stadt steht still.

An den Zapfsäulen ist das Benzin rar, so dass sich lange Schlangen bilden. Die Menschen hamstern, denn Milizen in Zawia drohten mit Sperrung der städtischen Treibstoffversorgung.

Die Banken haben kein Bargeld, während die Preise in die Höhe schießen.

Moutaz Ali zitiert einen Lehrer aus Tripolis: „Jetzt leben wir in der Mitte von nirgendwo. Das ist kein zivilisiertes Land mehr. Und niemand schert sich um uns.“

Die Herrschaft der Milizen wird als unerträglich empfunden. So sagte ein anderer Einwohner: „Diese (…) Politiker, die gemeinsame Sache mit den Milizen und anderen bösartigen Beamten machen, sind Vampire. Sie saugen uns unser Blut aus und töten uns langsam Tag für Tag.“

Wirklich schlimm ist das Sicherheitsproblem der Hauptstadt. Im LibyaHerald wurde ein Aufschrei der Autorin Farida Waleed[3] veröffentlicht, die sich über einen Ausspruch Fajez Sarradschs, dem Vorsitzenden des Präsidialrats, empörte. Sarradsch hatte in einem Interview mit France 24 gesagt: „Tripolis ist sicher… und Sie können es besuchen. Ich lade Sie ein, es sich selbst anzusehen.“

Dann zählt Farida Waleed eine Vielzahl von Verbrechen auf, mit denen die Stadt täglich konfrontiert ist: Morde, Raubüberfälle, Entführungen, Bedrohungen, Schikanen, Schießereien. Nach Sonnenuntergang seien die Straßen nur noch für die Milizen sicher – und wohl für Herrn Sarradsch, wie Farida Waleed süffisant anmerkt. Sarradsch, der Mann, der seit er mitsamt dem Präsidialrat im März 2016 im Marinestützung von Tripolis eintraf, die Kontrolle in der Stadt zu erlangen versucht – und damit scheiterte.

Keine Polizei schreite ein, wenn Fahrzeuge ohne Nummernschild und mit verdunkelten Scheiben durch die Stadt rasen. Nach Einbruch der Dunkelheit traue sich niemand mehr aus dem Haus.

Jemand sagt, „Tripolis ist eine Stadt der Banden geworden und keine Hauptstadt mehr. Es ist so schrecklich!“

In einem Artikel in LibyaHerald vom 30. August wird die Situation bei einem gerade stattgefundenen Amoklauf in Tripolis geschildert[4]: Viele Menschen sind unterwegs, Polizisten stoppen einzelne Fahrzeuge und prüfen die Papiere. Plötzlich schießt ein Mann wild um sich, einige Zivilisten ziehen ihre Waffen und schießen auf ihn, die Menschen ergreifen panisch die Flucht, Autos inklusive der Polizeiwagen versuchen, dem Inferno zu entkommen. Obwohl der Schütze schon getroffen am Boden liegt, schießt er weiter auf die Flüchtenden.

Ein Passant meint: „Gewalt ist ein ständiger Begleiter, wenn man in Tripolis lebt. Daran sind die Milizen schuld. Der neue UN-Sonderbeauftragte für Libyen sollte erst mal nachdenken, bevor er behauptet, dass sich in Tripolis und anderen Gegenden des Landes die Sicherheitssituation verbessert habe. Haben denn die UN eine andere Definition von ‚Sicherheit‘?“

Wer weiß. Offensichtlich ist jedenfalls, dass weder die Vereinten Nationen noch die europäischen Politiker die Menschen in Libyen interessieren. Die Situation wird einfach nur schön geredet. Es wird – auch angesichts bevorstehender Wahlen in Deutschland und Italien – so getan, als würde man die Sache in den Begriff bekommen. Um diesen Schein aufrechtzuerhalten, musste ein Politiker wie Sarradsch installieren werden, der zwar weder eine demokratische noch eine andere Legitimation hat, dafür aber als Pseudo-Verhandlungspartner vorgeschoben wird, der beispielsweise die Italiener dazu einlädt, zwei italienische Militärstützpunkte (Misrata und Tripolis) zu errichten, wohl wissend, wie verhasst eine italienische Militärpräsenz im Land ist. Doch sind die Italiener die einzige militärische Macht, auf die sich Sarradsch im Ernstfall verlassen kann – und die auch dazu dient, ihn und seinen Präsidialrat gegebenenfalls außer Landes in Sicherheit zu bringen.

Die Leiche des letzten Mordopfers in Tripolis wurde unter einer Fußgängerüberführung gefunden. Der junge Mann war erdrosselt worden. Sein Leichnam wies starke Misshandlungen auf.[5] Doch laut dem Präsidialrat ist Tripolis eine sichere Stadt!

Die Gewalt beschränkt sich nicht nur auf die Hauptstadt. Entlang der gesamten Küstenstraße westlich von Tripolis, drohen Mord und Totschlag. Wenn man jemanden loswerden will, empfiehlt man ihm – als Scherz gedacht – doch die Küstenstraße zu nehmen. Doch Tripolis ist eine sichere Stadt – sagt der Präsidialrat! Ob er häufig auf dieser Straße unterwegs ist? Man möchte es ihm empfehlen!

Eine kleine Verbrechensstatistik über die im Monat Juni 2017 in Tripolis (interior ministry’s Criminal Investigation Department /CID):

216 bewaffnete Raubüberfälle, dabei acht Getötete

83 Entführungen, davon 14 Ausländer

73 bewaffnete Raubüberfälle auf Geschäfte

128 Leichen, die in den Straßen gefunden wurden, davon 34 Ausländer und 94 Entführte, für die keinLösegeld gezahlt werden konnte

Dagegen steht die Verhaftung von Sage und Schreibe 26 Personen!

Aber wie sagte Sarradsch so schön: Tripolis ist eine sichere Stadt, in die er jeden gerne einlädt, um sich selbst davon zu überzeugen. Und Sarradsch, eingebunkert im Marinestützpunkt Abu Sita und von der italienischen Marine beschützt, der muss es ja wissen!

Die europäischen Politiker versuchen derweil, eine künstliche Parallelwelt für das dumme Wahlvolk in der Heimat zu erschaffen. So behaupten sie, in Libyen werde alles besser, die Flüchtlinge werden gestoppt. Deshalb werden wir wieder gewählt. So muss es auch stimmen, denn der Herr Sarradsch sagt das ja sogar in französische Mikrofone. Und der muss es ja ganz genau wissen!

Es gibt allerdings auch eine Theorie, die besagt, dass dieses ganze Chaos nicht nur erwünscht, sondern bewusst herbeigeführt wurde. Denn nach Thierry Meysan verfolgte die US-Strategie das Ziel, Staaten zu zerstören und die Bevölkerung in die Steinzeit zurückzuwerfen.[6] Was dazu wohl der Präsidialrat und der Herr Sarradsch sagen, die es ja wissen müssten?


[1] https://www.freitag.de/autoren/gela/ein-winter-mit-stromausfaelle-in-tripolis

[2] https://www.libyaherald.com/2017/08/16/a-miserable-summer-in-tripoli/

[3] https://www.libyaherald.com/2017/07/31/oped-and-exactly-how-safe-is-tripoli/

[4] https://www.libyaherald.com/2017/08/29/panic-in-tripolis-fashloom-district-as-gunman-runs-amok/

[5] https://www.libyaherald.com/2017/08/29/murder-victim-found-asphyxiated-in-tripolis-suq-al-juma-district/

[6] http://www.neopresse.com/politik/lateinamerika/meinungsverschiedenheiten-im-antiimperialistischen-lager/?utm_source=Beitr%C3%A4ge+des+Tages&utm_campaign=d4d819c3c8-Daily_Latest&utm_medium=email&utm_term=0_232775fc30-d4d819c3c8-121286373
http://www.neopresse.com/politik/usa/empfehlung-d-red-das-ungeheuerliche-militaerprojekt-der-usa-fuer-die-zerstoerung-der-welt/?utm_source=Beitr%C3%A4ge+des+Tages&utm_campaign=9a18bc8a1a-Daily_Latest&utm_medium=email&utm_term=0_232775fc30-9a18bc8a1a-121286373

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Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

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