Wer stoppt Erdogan?

Libyen/Türkei. Erdogan zieht Parlamentsabstimmung über militärischen Libyeneinsatz vor/Libyer flüchten nach Tunesien/EU schweigt.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Bereits am Montag, den 30. Dezember, legte Erdogan dem Parlament den Gesetzesentwurf für einen türkischen Militäreinsatz in Libyen vor. Die Entscheidung darüber sollte das Parlament eigentlich erst am 8. oder 9. Januar treffen, jetzt wurde die Abstimmung auf Donnerstag, den 2. Januar, vorverlegt.

Die türkischen Oppositionsparteien, die dem Militäreinsatz sehr kritisch gegenüberstehen, wurden vom Außenminister Mevlüt Cavusoglu informiert. Sowohl die kemalistische als auch die nationalkonservative Partei haben gegen eine militärische Intervention in Libyen Stellung bezogen. Auch in der Bevölkerung stößt Erdogans Marsch gegen Libyen auf Unverständnis und Kritik. Trotzdem ist die Zustimmung des Parlaments Erdogan wohl sicher.

Zwischen Istanbul und der libyschen Stadt Misrata wurde eine Luftbrücke eingerichtet, mit deren Hilfe massiv Militärausrüstung nach Libyen gebracht wird. Wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mitteilte, werden gerade etwa tausend in Syrien rekrutierte Kämpfer in der Türkei für ihren Einsatz in Libyen trainiert.

Dschihadisten, die von Erdogan von Syrien – insbesondere al-Kaida- und IS-Kämpfer aus Idlib – nach Libyen gebracht wurden, nehmen bereits aktiv an den Kämpfen in Tripolis teil. Videos von ihrem Einsatz kursieren im Netz, ebenso ein Video über die Enthauptung eines Zivilisten durch IS-Kämpfer. Die Dschihadisten sollen die Libysche Nationalarmee (LNA) so lange von der Einnahme Tripolis abhalten, bis das türkische Militär einsatzbereit ist.

Wie soll eine ‚Einheitsregierung‘ in Tripolis, die über keinerlei Autorität über ihre eigenen Milizen verfügt, jemals diese inzwischen wohl in die tausende gehenden dschihadistischen Kämpfer kontrollieren können? Was tut man den Libyern mit diesem Transfer von Kämpfern aus Syrien nur an? Alle libyschen Stämme sehen jetzt, wie ihr Land immer mehr zerstört und an ausländische Kräfte ausgeliefert wird, insbesondere an die seit der osmanischen Besatzungszeitz verhasste Türkei. Auch jene Stämme, die sich bisher neutral verhielten, werden so in die Arme der LNA gedrängt.

Laut der New Arab hat die Türkei nach Abstimmung mit der ‚Einheitsregierung‘ einen Plan für eine Blitzintervention beschlossen. Es sollen türkische Luftangriffe auf 27 ausgewählte Ziele unter anderen mit F-16-Kampfjets geflogen werden. Auch Ziele im Osten und Süden Libyens seien im Visier. Daneben sollen Drohnen, die bereits in Nordzypern stationiert wurden, Luftangriffe für die ‚Einheitsregierung‘ um Tripolis und andere westlibysche Städte fliegen, um den Belagerungsring der LNA zu durchbrechen. Im Anschluss daran scheint eine massive Bodenoffensive gegen die LNA geplant, die auch den libyschen Ölhalbmond miteinschließen könnte.

An der Grenze zu Libyen wurde in Erwartung der Kämpfe die tunesische Armee verstärkt und in Alarmbereitschaft gesetzt. An den Grenzübergängen Ras Dschedir und Dhiba steigt der Zustrom ganzer Familien, die aus der Gegend um Tripolis nach Tunesien flüchten, immer stärker an. Im Flüchtlingslager Bir Fatnassya bei Remada wude die Aufnahmekapazität für bis zu 30.000 aus Libyen erwartete Flüchtlinge aufgestockt.

Warum erhebt sich im Westen kein Protest gegen das Vorgehen der Türkei? Warum drohen die USA nicht mit der Verhängung von Sanktionen wie in Syrien? Dies ist nur dadurch zu erklären, dass sowohl die Nato als auch die EU diese völkerrechtswidrige Intervention in Libyen billigen, dass sie wahrscheinlich auf gemeinsamen Absprachen beruht, um die ‚Einheitsregierung‘ in Tripolis mit allen Mitteln an der Macht zu halten. Und dies, obwohl diese Pseudoregierung über keinerlei Legitimität verfügt. Die ‚Einheitsregierung‘ wurde nie vom demokratisch gewählten Parlament im Amt bestätigt, Sarradschs Amtszeit ist im Dezember abgelaufen und wurde soweit bekannt von der UN nicht verlängert. Außerdem soll Sarradsch das Land bereits verlassen haben und sich bei seiner Familie in Großbritannien aufhalten. Doch der Westen agiert schon längst weltweit gemäß des Sponti-Spruchs „legal – illegal – scheißegal“ – und die Medien schweigen dazu.

Europa hat – mit Ausnahme von Frankreich, das auf das libysche Parlament und die LNA setzt – Angst vor dem Verlust von Pfründen, die sie sich mit ihrer Marionettenregierung unter Sarradsch gesichert hat. Die Nachbarstaaten Tunesien und Algerien befürchten, dass bei der Einnahme von Tripolis durch die LNA ein Massenexodus von Dschihadisten in ihre Länder stattfindet. Auch Europa dürfte Angst haben, was geschieht, wenn all diese Extremisten, zuletzt auch die aus Syrien von der Türkei ins Land gebrachten, bei einem Sieg der LNA die Flucht über das Mittelmeer antreten. Und selbst Erdogan, der die Moslembrüder immer unterstützte, wäre über die vielen Dschihadisten, dann im eigenen Land, bestimmt nicht glücklich.

Unterdessen wird in Tripolis weiter gekämpft. Die LNA gab bekannt, der Luftwaffe den Befehl zu erteilen, die Flughäfen, auf denen die Ankunft türkischen Militärs und türkischer Söldner erwartet werde, zu zerstören. Es soll auch das Hauptquartier angegriffen werden, von dem aus der Türkei grünes Licht für die Intervention in Libyen gegeben wurde.

Wie die LNA und auch ihr Befehlshaber Haftar immer wieder betonen, sei es das Ziel, nach der Sicherung der Hauptstadt und der Unschädlichmachung der Milizen baldmöglichst demokratische Wahlen in Libyen abzuhalten, um der Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, über die Zukunft ihres Landes selbst zu bestimmen.

Die Arabische Liga tagte auf Wunsch Ägyptens am 31. Dezember in Kairo und verabschiedete eine Resolution in der zu Bemühungen aufgerufen wird, in Libyen „ausländische Einmischungen“ zu verhindern, die es Extremisten erleichtern, nach Libyen zu gelangen. Sie äußerte auch „ernsthafte Besorgnis über die militärische Eskalation, die die Lage in Libyen weiter verschärft und die Sicherheit und Stabilität der Nachbarländer und der gesamten Region gefährdet“.

Bereits am Montag hatte der UN-Sondergesandte für Libyen, Ghassan Salamé, erklärt, dass die zwischen der Türkei und der ‚Einheitsregierung‘ in Tripolis geschlossenen Abkommen den Konflikt in Libyen eskalierten.

Wie bekannt wurde, telefonierte auch am Montag Angela Merkel in Sachen Libyen und Syrien mit Erdogan und mit Putin. Welche Deals werden da ausgehandelt? Die tunesische Zeitung Achourouk kündigte mit Bezug auf Informationen der libyschen ‚Einheitsregierung‘ an, dass sich die Außenminister von Italien, Deutschland, Großbritannien und Frankreich, begleitet vom Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, für ein Treffen am 7. Januar in Tripolis verabredet haben. Wie dies bei der gegenwärtigen Sicherheitslage möglich sein soll, ist unklar. Wird gehofft, dass die Türkei bis dahin militärisch neue Fakten geschaffen hat? Die geplante Berlin-Konferenz, auf der über das Schicksal Libyens in guter alter Kolonialmanier unter Ausschluss der Libyer von ausländischen Mächten entschieden werden soll, wurde bereits von Dezember auf Januar verschoben, eine weitere Verschiebung ist denkbar. Katar dürfte sich mit der militärischen Hilfe der Türkei dort einen guten Platz sichern wollen.

Die Moslembruderschaft und die Türkei unter Erdogan wollen in Libyen ihren Machtanspruch um jeden Preis sichern, um Zugang zu den libyschen Ressourcen zu bekommen. Unterstützt werden sie dabei von den Europäern, die sich von der Moslembruderschaft mittels günstiger Verträge für ihre Erdölkonsortien Zugriff auf die libyschen Öl- und Gasfelder erhoffen.

Die libysche Bevölkerung? Demokratie? Menschenrechte? Völkerrecht? Leeres Geschwafel. Es geht um Macht und Geld, viel Geld.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden