Die Weltgemeinschaft braucht eine grundsätzliche Revolution gegen die vorherrschende Wachstumsdogmatik in all ihren Facetten, wenn sie das nächste Jahrhundert auf unserem Planeten gut überstehen will. Einfach-weiter-so ist keine Option mehr.
Zumindest die Definition des Problems gegenüber der vornehmend westlichen Wohlstands- und Wachstumsgesellschaft scheint mittlerweile mehrheitlich geteilt zu sein. Über den besten Weg zu diesem Ziel gibt es aber wie so oft weit auseinanderliegende Meinungen.
Als Konsequenz aus dieser Analyse die eigene Konsummentalität in möglicherweise unbequemer Art verändern zu müssen, ist dabei auch in Deutschland längst nicht populär. Selbst wenn der inflationäre Umgang mit dem Begriff „nachhaltige Entwicklung“ Anderes vermuten lassen würde. Als langjähriger Nutznießer der dominierenden Wachstumsdogmatik, wie auch der weltweiten Produktions- und Konsumverteilung, muss sich Deutschland aber mit Sicherheit zuerst an die eigene Nase fassen. Erst dann können wir mit einer gewissen Rechtfertigung den Wunsch nach Veränderung auch gegenüber anderen Ländern erheben.
Gesellschaftliche Verantwortung
Denn alle Menschen haben ein gleichermaßen legitimes Interesse an Rohstoffen, Energie und sozialer Inklusion. Ein bereits bestehender, überproportionaler Verbrauch begründet daher auch keinen überproportionalen Anspruch, sondern verpflichtet im Gegenteil, mehr zur Schonung endlicher Ressourcen beizutragen.
Daher haben gerade wir eine besondere Verantwortung. Und diese Verantwortung muss sich in einer grundsätzlichen und nachhaltigen Veränderung unseres eigenen, deutschen, Wirtschaftssystems niederschlagen. Damit einher geht die Notwendigkeit, sich von der These „Wohlstand-durch-Wachstum“ endgültig zu verabschieden. Immer mehr „traditionelles“ Wachstum wird uns ironischerweise nur schneller dem Abgrund entgegen treiben.
Ein grüner Anstrich reicht nicht aus
Neue Formen des Wirtschaftens lediglich als mehr „grünes“ Wachstum zu interpretieren und dabei das Leitbild nachhaltiger Entwicklung umweltökonomisch zu verkürzen, wird deswegen unserer Verantwortung auch nicht gerecht: Althergebrachte Produktions- und Konsumweisen nachhaltig anzustreichen reicht bei weitem nicht aus, um der Wachstumsfalle zu entfliehen. Entscheidend ist vielmehr, die natürlichen Grenzen des Planeten anzuerkennen und ein von dieser Erkenntnis durchdrungenes Produktions- und Konsummuster zu entwickeln.
Ein tatsächlich nachhaltiges Wirtschaften wird damit nicht umhinkommen, auch den bisherigen Wachstumsimperativ und die eigentliche Definition von Wachstum neu zu denken und konsequenterweise Suffizienz-Ansätze in eine wirtschaftliche Ordnung aufzunehmen, die Wohlstand auf hohem Niveau stabilisiert.
Es geht also darum, unter Berücksichtigung sozialer Kriterien schon heute den Einstieg in eine umfassende Kreislaufwirtschaft für die kommenden Generationen zu organisieren, die nicht weiter in das angeschlagene ökologische Fundament unseres Planeten eindringt. Deutschland kann in dieser notwendigen Entwicklung nicht darauf warten, dass sich ein weltweites Umdenken in verbindlichen internationalen Nachhaltigkeitskriterien niederschlägt.
Politische Kurzsichtigkeit
Die „Grenzen des Wachstums“ sind erreicht. Während diese Erkenntnis bereits breite Teile unser Bevölkerung und mit Sicherheit auch die Köpfe vieler progressiv denkender Entscheidungsträger erreicht hat, erweist sich die Wachstumsgesellschaft traditioneller Ordnung weiterhin als äußerst widerstandsfähig gegenüber Veränderungen.
Diese Persistenz ist nicht nur in unserer allzu menschlichen Bequemlichkeit verankert, sondern auch und gerade in unserem politischen System: Eine sich alle vier Jahre der erneuten Legitimation stellende Regierung ist aus politischer Notwendigkeit heraus zu einer gewissen Kurzfristigkeit ihres Entscheidungshorizontes verdammt. Diskussionen um Renten, Energieversorgung, Naturschutz oder Bildung leiden auf nationaler Ebene darunter, dass die langfristig zu erwartenden Gewinne kluger Politik möglicherweise nicht mehr den eigentlichen Entscheidungsträgern zu Gute kommen, die kurzfristigen Kosten ihnen aber sehr wohl angerechnet werden.
Wer diese einfache Logik der politischen Entscheidungsfindung außer Acht lässt, arbeitet mit gutgemeinten Ratschlägen an der Realität vorbei. Das kümmerliche Abschlussdokument der Nachhaltigkeits-Konferenz in Rio vom Sommer 2012 unterstreicht diese Tatsache auf internationaler Ebene erneut. Es enthält nicht einen ernstzunehmenden Hinweis zu den planetaren Grenzen des Ressourcenverbrauchs.
Wer vertritt Generationen der Zukunft?
Vor diesem Hintergrund gilt es also entweder, die oben stark verkürzt skizzierten Handlungsempfehlungen im Bereich nachhaltiger Entwicklung auf die kurzfristige Realität des politischen Systems zuzuschneiden oder aber das politische System in sich sensibler für die Notwendigkeit langfristiger Veränderungen zu machen. Gute Ansätze finden sich sicherlich für beide Möglichkeiten.
Derzeit krankt die Umsetzung nachhaltiger Entwicklung in Deutschland aber hauptsächlich am zweiten Punkt: an der Tatsache, dass weder auf parlamentarischer noch auf exekutiver Ebene zuverlässig nachgehalten wird, noch politische Entscheidungen grundsätzlich mit Rücksicht auf die Lebensgrundlage kommender Generationen getroffen werden. Das tagespolitische Diktat behält in Berlin zu oft die Oberhand.
Die Bundesrepublik braucht eine Ombudsperson für kommende Generationen.
Die Performance der deutschen Gesetzgebung in Bezug auf nachhaltige Entwicklung ist deutlich ausbaufähig. Noch deutlicher ist allerdings, dass sowohl dem Parlament als auch der Exekutive eine unabhängige und sachlich bewertende Instanz fehlt, die alle nachhaltigkeitsrelevanten Gesetzesvorhaben inhaltlich hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Lebensgrundlage für kommende Generationen evaluiert.
Diverse Gremien wie der Normenkontrollrat, der Rat für Nachhaltige Entwicklung und der parlamentarische Beirat für Nachhaltige Entwicklung befassen sich zwar mit der Gesetzesfolgenabschätzung, die für alle ministeriellen Vorlagen mittlerweile auch eine Stellungnahme bezüglich der Auswirkungen auf die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie vorsieht. Im politischen Alltag darf die inhaltliche Durchschlagskraft sowohl der Folgenabschätzung, als auch der an der Nachhaltigkeits-Politik beteiligten Institutionen aber bezweifelt werden. Die Beteiligten sind faktisch entweder zahnlos oder politisch abhängig.
Eine wehrhafte, unabhängige Stelle, die weder auf die Kurzfristigkeit von Wahlperioden, noch auf tagespolitische Opportunitäten Rücksicht nehmen muss, die Anliegen künftiger Generationen jedoch trotzdem kraftvoll in das Herz des politischen Systems tragen kann, wäre daher ein großer Schritt voran.
Nachhaltigkeit im System verankern
Als zentraler Ansprechpartner für Entscheidungsträger, zivilgesellschaftliche Gruppen, international agierende Institutionen und wissenschaftlich Interessierte sollte die Ombudsperson den deutschen und internationalen Nachhaltigkeitsprozess begleiten. Die Fortschreibung, Umsetzung und Kontrolle der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie und die öffentliche Auseinandersetzung über die Ergebnisse der politischen Bemühungen im Bereich Nachhaltigkeit wären nur einige ihrer Aufgaben.
Die guten Beispiele aus Ungarn, England oder Kanada zeigen, dass eine wirksam platzierte und mit gesellschaftspolitisch gewichtigem Personal ausgestattete Institution eine neue Form des Rechtfertigungsdrucks für nicht-nachhaltige Entscheidungen und eine breitere öffentliche Wahrnehmung der Probleme erreichen kann.
Wie eine derartige Stelle im politischen System prominent genug verankert werden kann, sich aber gleichzeitig der politischen Einflussnahme zu entziehen vermag, könnte Gegenstand abendfüllender Diskussionen werden. Ob es dafür einer politischen Person im Range eines Ministers oder Staatssekretärs bedarf, eines im Parlament bestimmten hohen Beauftragten aus der Reihe der Volksvertreter oder eines frei gewählten Kommissars ist aber letztlich unerheblich.
Entscheidend ist, die bisher zahnlosen Tiger für die immer drängendere politische Auseinandersetzung massiv aufzurüsten: Es braucht dafür beispielsweise weitreichende Einsichtsrechte in exekutives Handeln, die Option des Einspruchs gegen Gesetzesvorhaben und Verordnungen und die Möglichkeit der öffentlichkeitswirksamen Auseinandersetzung mit nicht-nachhaltigen Vorgehensweisen. Der Stimme der Nachhaltigkeit im politischen System muss Gewicht verschafft werden.
Ein Plädoyer für mehr öffentlichen Druck
Eine Ombudsperson für nachhaltige Entwicklung ist natürlich kein Allheilmittel im Kampf gegen die Politik der kurzfristigen Horizonte. Kanada brachte es trotzdem fertig, das Kyoto-Protokoll zu verlassen, um ungestört nationalen wirtschaftlichen Interessen nachgehen zu können. Wer aber im Angesicht der politischen Realitäten die Zukunft nicht aus dem Auge verlieren möchte, der muss dafür sorgen, dass die Entscheidungsträger an empfindlicheren Stellen getroffen werden können, als es die bisherige exekutive- und parlamentarische Kontrollpraxis hergeben.
Ein durch eine Ombudsperson in der Öffentlichkeit wesentlich erhöhter Rechtfertigungsdruck für Entscheidungsträger ist einer dieser wunden Punkte, ein direkter Eingriff in Gesetzgebungsverfahren wäre ein zweiter.
Auch wenn Selbstbegrenzung keine politische Tugend ist, sollte sich die im kommenden Jahr gewählte Bundesregierung genau überlegen, welche Maßnahmen es wirklich braucht, um widerstandsfähige Dogmas zum Wohle unserer Kinder zu überwinden.
Matthias Miersch ist umweltpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Mitglied im parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung und Mitglied des Deutschen Bundestages
Simon Oerding ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestagsbüro von Matthias Miersch mit Schwerpunkt Umwelt und Nachhaltigkeit
Das 95-köpfige Fortschrittsforum arbeitet unter der Leitung von Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin, Angelika Gifford, Direktorin von Microsoft Deutschland und Ernst Ulrich von Weizsäcker, Leiter des International Resource Panels der UNEP. Es stellt die Frage, wie Fortschritt neu definiert werden kann und wie unser Wohlstandsmodell ökonomisch und ethisch tragfähig gestaltet werden kann. Partner sind die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Otto-Brenner-Stiftung, die Hans-Böckler-Stiftung und das Progressive Zentrum in Berlin
Hier finden Sie alle Beiträge, die bereits in der Serie "Geld und Glück" erschienen sind
Kommentare 6
Dieser Artikel ist gut geschrieben. Die Tatsachen sind aber schon lange bekannt (Club of Rome). Die gesellschaftliche Aufklärung findet aber nicht statt und wird in einer Marktwirtschaft auch nicht stattfinden.
Eine Kurzfassung dieses Artikels und die Antwort steht im Grundsatzprogramm der Partei Die Linke. Es gibt also eine politische Alternative. Der pauschale Vorwurf der politischen Kurzsichtigkeit ist also nicht hinnehmbar.
Guter Artikel und ein schönes Schlußplädoyer aber an Dogmen sind schon ganz Andere, z.B. Sokrates, gescheitert. Hoffen wir das die Weltgemeinschaft Alternativen findet, bevor es zu spät ist.
Das mit dem Ombudsmann/frau ist eine interessante Idee, man sollte bei Einspruch des Ombudsmann/frau einen Volksentscheid machen müssen.
Apropro: um mehr direkte Demokratie kommen wir nicht herum, auch das würde schon was bringen, die Menschen haben idR ein Interesse daran, sich Richtung Nachhaltigkeit zu entwickeln und gleichzeitig einen Blick dafür, was ohne extreme Härten machbar ist.
Vielleicht sollte man statt einer einzelnen (korrumpierbaren) Person eher ein Forum schalten oder eine Bürgerabordnung einberufen.Wenn die Parteien einen Ombudsmann bestellen, dann wird er eh nur ein zahnloser Durchwinker.
Aber nochmal: wenn wir den Kapitalismus zähmen wollen, müssen wir die Logik "Wirtschaft = Jobs" brechen. Mit "schaffen Arbeitsplätze" wird man ansonsten immer ein Totschlagargument gegen Nachhaltigkeit an der Hand haben. Ich möchte daher nochmal auf den Vorschlag des langweilerblogs verweisen, den ich durchaus für geeignet halte:
http://langweilerblog.wordpress.com/2012/06/19/utopia4-vollbeschaftigung-zweiter-anlauf/
Ein Ombudsmann? Das wäre dann der Hausmeister beim Green New Deal. Das übernimmt dann auch noch Gegenbauer...
Unsere Gesellschaft hat bisher nur Menschen gezähmt.
ich schreibe so alle zwei Wochen einen Appell:
http://oberham.wordpress.com/2012/10/09/ist-wirklich-nur-ein-toter-mensch-ein-guter-mensch/
man kann die Thematiken nicht oft genug ansprechen, natürlich ist es seit den 70ern glasklar, - nur - individuelle Verantwortung - gesellschaftliche Verantwortung - politische Entscheider ohne Verantwortung!
Ergo - Bequemlichkeit ist das schlagende Prinzip - solange es bequem im Leben zugeht.
Wir haben es bequem. Was morgen ist, das scheint uns völlig schnuppe.
"Eine wehrhafte, unabhängige Stelle, die weder auf die Kurzfristigkeit von Wahlperioden, noch auf tagespolitische Opportunitäten Rücksicht nehmen muss, die Anliegen künftiger Generationen jedoch trotzdem kraftvoll in das Herz des politischen Systems tragen kann, wäre daher ein großer Schritt voran."
"Ob es dafür einer politischen Person im Range eines Ministers oder Staatssekretärs bedarf, eines im Parlament bestimmten hohen Beauftragten aus der Reihe der Volksvertreter oder eines frei gewählten Kommissars ist aber letztlich unerheblich."
In meinen Augen ist dies alles andere als unerheblich. Denn wenn diese Person durch den Bundestag oder die Bundeskanzlerin bestimmt wird, dann muss diese Person durchaus Rücksicht auf die Kurzfristigkeit der Wahlperiode nehmen.
Ich glaube auch, dass es ganz allgemein der falsche Ansatz ist, Problemen durch die Schaffung neuer Posten zu begegnen. Demokratie richtig verstanden bedeutet, dass die Regierung das umsetzt, was das Volk will. Neue Ideen müssen aus dem Volk kommen, wenn sie stark genug sind, werden sie von der Regierung auch wahrgenommen. Ein gutes Beispiel ist gerade der Umweltschutz, ein wichtiges Thema der Nachhaltigkeit. Die Umweltbewegung kam aus dem Volk heraus und hat sogar eine neue Partei hervorgebracht.
Das heißt nicht, dass ich etwas gegen einen Minister oder Staatssekretär für das Thema Nachhaltigkeit sagen will, wobei im Fall eines Ministers die Kompetenzkonflikte mit dem Umweltminister vorprogrammiert wären. Aber ein Minister oder Staatssekretär wäre an die Wahlperiode gebunden, und das zu Recht.