In diesen Tagen ist Julia Timoschenko die europaweit wahrscheinlich am meisten beachtete Kämpferin. Selbst im Gefängnis und trotz ihres Bandscheibenleidens gibt die frühere ukrainische Ministerpräsidentin nicht auf. Obwohl Besucher die Gefangene als schwer krank und verzweifelt beschreiben, geht die Politikerin mit ihrem Hungerstreik ein hohes Risiko ein. Sie könnte ihre Gesundheit langfristig gefährden. Überall kann man nun teilweise erschütternde Fotos dieser einst so selbstbewusst auftretenden Frau betrachten, auf denen sie blass und zerbrechlich aussieht.
Die inhaftierte Politikerin aber hat nach Behandlungsfehlern ihr Vertrauen in die einheimische Ärzteschaft verloren. Die 51-Jährige fühlt sich bedroht, sodass Ärzte der Berliner Charité, die sie wiederholt im Gefängnis der ostukrainischen Stadt Charkow untersuchen durften, und auch die Bundesregierung auf eine Ausreise zur Behandlung nach Deutschland drängen.
Wenige Wochen vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft rückt das Land also wieder einmal in den Fokus. Timoschenko wird das wissen, und sie weiß auch, dass ihre Entscheidung, nun in den Hungerstreik zu treten, Präsident Viktor Janukowitsch einem immensen internationalen Druck aussetzt. Ihr Widersacher riskiert für diese schon lange währende persönliche Feindschaft viel: Eigentlich hatte das Land doch gehofft, von diesem sportlichen Großereignis zu profitieren. Man wollte sich ein junges, weltoffenes, demokratisches Image geben. Zumal im Oktober ein neues Parlament gewählt wird und die Partei des Amtsinhabers schon wegen der schweren Wirtschaftskrise mit großen Verlusten rechnen muss.
Eine auffallende Schönheit
Trotzdem scheint der Staatschef bisher entschlossen, seinen Feldzug weiter zu führen. Sein Ziel ist es offenbar, die politische Karriere Julia Timoschenkos für immer zu beenden. „Janukowitsch hat bis heute nicht verkraftet, dass sie ihn mit der Orangenen Revolution abserviert hat“, sagt Cornelius Ochmann, Osteuropa-Referent der Bertelsmann-Stiftung. Damals war sie es, die ihn des Wahlbetrugs überführte. Nun fürchte er zudem, dass die prominente Oppositionspolitikerin sich nach einer Ausreise schnell erholen und dann aus dem Ausland erfolgreich gegen ihn agitieren könnte, sagt Ochmann. Der Ukraine-Kenner hat das Land oft bereist und auch Timoschenkos politische Anfänge miterlebt.
Im Winter 2004 war Julia Timoschenko der Motor der Orangenen Revolution gewesen, die die Ukraine von einem Tag auf den anderen in den Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit rückte. Der größte Flächenstaat Europas bekam plötzlich ein Gesicht. Das von Julia Timoschenko: „Wir sind ein Volk, von dem andere nur träumen. Uns beneidet die ganze Welt“, rief die zierliche Frau damals und verband mit diesen volksnahen Auftritten sehr geschickt ukrainischen Patriotismus mit einer eleganten Weltläufigkeit. Ihre Auftritte waren perfekt inszeniert.
Mit der streng geflochtenen Zopffrisur knüpfte sie an bäuerliche Traditionen in den ländlichen Regionen an. Gleichzeitig strahlte sie ein großes Selbstbewusstsein und die Modernität der Großstädterin aus. Selbst im folkloristischen Kostüm wirkte sie keineswegs provinziell. In Talkshows konnte sie durch ungewöhnliche Sachkenntnis und erstaunliche Schlagfertigkeit überzeugen. Julia Timoschenko ist auffallend schön und weiß das einzusetzen. Die hohen Wangenknochen, die dunklen Augen und geschwungenen Lippen, das blonden Haar. Schon optisch also war der Gegensatz zu den einstigen Sowjetfunktionären gewaltig. Im Ausland wurde sie schon bald als „Evita von Kiew“ oder als „Jeanne d´Arc der Ukraine“ tituliert. In der einheimischen Bevölkerung dagegen hat sie immer polarisiert, bis heute. Die einen sind stolz auf die Politikerin und verehren sie, die anderen verachten sie, als sei sie eine Hexe.
Aufstief der Oligarchen
In den männerdominierten Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist die ukrainische Spitzenpolitikerin bis heute eine Ausnahmeerscheinung geblieben. In der Ukraine gibt es nur noch eine einzige weitere Frau in der Regierung, die Gesundheitsministerin Raisa Bogatyrewa. Gerade mal acht Prozent Frauen sitzen heute im ukrainischen Parlament. Umso erstaunlicher ist es, dass sich Timoschenko in dieser Männergesellschaft durchsetzen konnte.
Ihr Lebensweg ließ eine so ungewöhnliche Karriere zunächst nicht ahnen. Sie wurde 1960 in der sowjetischen Rüstungsstadt Dnjepropetrowsk geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Nach einem Wirtschaftsstudium arbeitete sie als Wirtschaftsingenieurin und heiratete 1979 den Geschäftsmann Alexander Timoschenko. Ein Jahr später wurde ihre Tochter Jewgenija geboren. Die junge Mutter gründete einen Videoverleih und machte sich selbstständig, geriet dann aber nach dem Zerfall der Sowjetunion in die Energiewirtschaft und die undurchsichtige Welt ukrainischer Clans. Nomenklatura-Seilschaften halfen ihr dabei, waren sicherlich die Voraussetzungen für ihren schnellen Aufstieg.
Dort wurde sie zur Chefin des Energiekonzerns Vereinte Energiesysteme der Ukraine (EESU) und damit zur wichtigsten Händlerin für russisches Erdgas und Erdöl in der Ukraine. Ihr Konzern erzielte mit dem Verkauf von importiertem Gas Milliardengewinne. Julia Timoschenko stammt also keineswegs aus der Unabhängigkeitsbewegung des Landes, sondern ging erst als erfolgreiche Unternehmerin in die Politik, nachdem sie zuvor, in den wilden Jahren des Umbruchs, zu einem großen Vermögen gekommen war.
Dieser Aufstieg folgt ganz dem Muster eines typischen Werdegangs postsowjetischer Oligarchen. Wer dabei nach russischen Parallelen sucht, denkt schnell an Michail Chodorkowski. Auch der Chef der Ölfirma Yukos wollte als zu großem Reichtum gekommener Milliardär eines Tages in die Politik. Julia Timoschenko aber stieg anders als der russische Oligarch immerhin bis zur Ministerpräsidentin auf. Erst nach ihrer Wahlniederlage wurde sie zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt, während die russische Justiz einen politischen Aufstieg Chodorkowskis von Anfang an verhindern konnte. Korruptions- und sogar Mordvorwürfe gibt es gegen beide. Sie lassen sich aber weder eindeutig belegen, noch aus der Welt schaffen. Auch die persönliche Feindschaft von Wladimir Putin gegenüber Chodorkowski lässt an den erbitterten Widerstreit zwischen Timoschenko und Janukowitsch in der Ukraine denken.
Wirklich eine Demokratin?
Ihre Persönlichkeit bleibt weiterhin schillernd und mehrdeutig. Auch ihre politische Bilanz fällt zwiespältig aus. Die von ihr gegründete Partei Batkiwschtschyna (Vaterland), die sie 1999 ins Leben rief, war ganz auf sie als Vorsitzende ausgerichtet und wird autoritär geführt. Vielen Beobachtern ist das ein Indiz dafür, dass Timoschenko keine Demokratin ist.
Andere wiederum erkennen an, dass sie Voraussetzungen für mehr Transparenz und Rechtsstaatlichkeit zu schaffen versuchte. Es gilt zu vermuten, dass das maßgeblich zu ihrer späteren Verfolgung beitrug. Janukowitschs Macht stützt sich vor allem auf die Clans im Osten des Landes. Als stellvertretende Ministerpräsidentin versuchte Timoschenko nämlich, den Energiemarkt neu zu ordnen. Die Beschneidung der Einkünfte von Milliardären sollte Wirtschaftsreformen sozial abfedern.
Auch ihr außenpolitischer Kurs fand Anerkennung. Geschickt richtete sie ihr Land pro-europäisch aus und suchte gleichzeitig den Ausgleich mit Moskau. Kritiker werfen ihr vor allem vor, nachhaltige Reformen, beispielsweise im Justizwesen, versäumt zu haben. Unter dessen mangelnder Rechtsstaatlichkeit hat sie nun selbst zu leiden. Umstritten ist dabei aber, wie viel Timoschenko selbst anzulasten ist, denn der damalige Präsident Viktor Juschtschenko blockierte während der gemeinsamen Regierungszeit viele Entscheidungen. Bis heute ist die ukrainische Opposition von dieser Spaltung geprägt und zerstritten.
„Nach der Orangenen Revolution war die Ukraine ein freies Land“, betont Cornelius Ochmann dennoch die Erfolge. Genau das hat sich nach dem Machtantritt von Janukowitsch 2010 in atemberaubender Geschwindigkeit wieder umgekehrt. Die unabhängigen Medien wurden wie ehedem gegängelt, die Staatsanwaltschaften politisch instrumentalisiert; es herrscht die Willkür eines postsowjetischen Obrigkeitsstaates.
Im Zuge dieser rasanten Rückschritte wurden gegen Timoschenko und mehrere Mitglieder ihres früheren Kabinetts im Jahr 2011 Strafverfahren eingeleitet. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die frühere Regierungschefin mit Moskau Verträge über die Lieferung von Erdgas zum Nachteil ihres Landes abgeschlossen habe. Der Ukraine sei dadurch ein Schaden von rund 137 Millionen Euro entstanden, behaupteten die Richter und verhängten die Haftstrafe. Die EU kritisierte das Urteil und legte als Reaktion ein geplantes Assoziierungs-Abkommen mit Kiew zunächst auf Eis.
Ihre Tochter kämpft für sie
Wichtigste Fürsprecherin ihrer Mutter ist die Tochter Jewgenija Timoschenko-Carr. Eindringlich wirbt die 32-Jährige im Ausland um Unterstützung. Sie hat die angesehene London School of Economics absolviert und lebt mit dem britischen Hardrocker Sean Carr zusammen. Die Tochter erinnert bei ihren Auftritten sehr an ihre Mutter, sie ist ebenso schön, klug und zielstrebig in der Sache. Der Ehemann Alexander Timoschenko tritt dagegen kaum in Erscheinung. Er beantragte nach der Inhaftierung seiner Frau in Tschechien politisches Asyl. Von Prag aus ist er für ihre Freilassung jedoch nur wenig aktiv. Ob das bewusst geschieht oder das in Trennung lebende Paar nur noch wenig verbindet, wird unterschiedlich gedeutet.
Der Fall Julia Timoschenko polarisiert die Ukrainer. Einerseits gibt es Sympathie-Kundgebungen von Anhängern. Andere Teile der Bevölkerung verfolgen die Forderungen nach Freilassung aus dem Ausland mit einem gewissen Unverständnis. Schließlich hatte die EU von Kiew jahrelang mehr Korruptionsbekämpfung gefordert. Wenn Politiker aufgrund solcher Vorwürfe verurteilt werden, verstehen viele Menschen nicht, warum dies nun kritisiert wird. Zu dieser Sicht tragen auch die einheimischen Medien einiges bei.
In der internationalen Medienwelt sieht man das ganz anders: Hier wird der Machtkampf längst zu einem ungleichen Wettstreit von David gegen Goliath verkürzt. Die PR-Leute aus dem Timoschenko-Lager leisten dabei exzellente Arbeit. Vor allem die Berichte über eine gewaltsame Verlegung der Oppositionspolitikerin in die Klinik, bei der sie einen Faustschlag in den Magen erhalten haben soll, lösen selbst bei Kritikern von Timoschenko blankes Entsetzen aus. Nun wandte sich auch noch die Tochter per Zeitungsinterview in einem dramatischen Appell direkt an die Bundeskanzlerin: „Retten Sie das Leben meiner Mutter, bevor es zu spät ist“, forderte Jewgenija Timoschenko. „Das Schicksal meiner Mutter und meines Landes sind jetzt eins. Wenn sie stirbt, stirbt auch die Demokratie.“
Soviel steht bis heute fest: Viktor Janukowitsch hat mit seinem harten Vorgehen vor allem erreicht, das Image von der Märtyrerin Julia Timoschenko weltweit zu befördern.
Gemma Pörzgen, geboren 1962, wuchs in Moskau auf und berichtete viele Jahre als Auslandskorrespondentin aus Belgrad und Israel. Heute lebt sie als freie Journalistin in Berlin
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