Eure Anwesenheit allein reicht aus!

Islam Zur Sichtbarkeit von Religionen in der Öffentlichkeit.

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Gegen Ende der hitzigen Diskussionsrunde in Anlehnung an meinen Blog-Artikel „Wir reden mit den falschen!“ wurde ich darum gebeten einen neuen Artikel zu schreiben. Diesmal solle es explizit um Religion gehen. Gesagt, getan.

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Religionen sind dazu da, um uns selbst in Frage zu stellen. Wenn ich diesen Satz so stehen lassen würde, ohne ihn zu erklären, würde ich vermutlich auch in Frage gestellt werden. Auch wenn mich das nicht weiter stören sollte, wage ich hier einen Erklärungsversuch...

Vor Kurzem war ich zusammen mit einer muslimischen Frauengruppe im Europäischen Parlament und bei der Europäischen Kommission in Brüssel zu Gast. Als die Frage nach der Sichtbarkeit von Religionen im öffentlichen Raum (unter anderem durch das Kopftuch) gestellt wurde, erläuterte eine sozialdemokratische EU-Abgeordnete, dass sie dies skeptisch beäuge. Es solle eine Trennung von Staat und Religion geben. Diese Trennung bedeute, dass Religionen in der Öffentlichkeit per se nicht sichtbar sein sollten. Als Angehörige der Ahmadiyya Muslim Jamaat sprechen auch wir uns für eine Trennung von Religion und Staat aus. Das vierte geistliche Oberhaupt unserer Gemeinde, Hazrat Mirza Tahir Ahmad, schrieb diesbezüglich einmal treffend: „Der eigentliche Kern des Säkularismus ist, dass absolute Gerechtigkeit ausgeübt werden muss, ohne Unterscheidung von Glauben, Religion, Rasse oder ethnischer Zugehörigkeit. Dies ist im Wesentlichen die wahre Definition des Säkularismus. Der Qur-an lehrt uns, dass in staatlichen Angelegenheiten, also wie die Geschäfte ausgeführt und der Staat gelenkt werden sollte, dieses Prinzip befolgt werden muss. Der Heilige Qur-ân sagt: „Allah gebietet euch, Gerechtigkeit auszuüben“ (Koran 16: 91)." (Vgl. Mirza Tahir Ahmad, Zum Verhältnis von Scharia und Staat im Islam, Frankfurt 2011) Zudem heißt es im Koran 10:100: "Und hätte dein Herr Seinen Willen erzwungen, wahrlich, alle, die auf der Erde sind, würden geglaubt haben insgesamt. Willst du also die Menschen dazu zwingen, dass sie Gläubige werden?"

Es ist somit im höchsten Sinne anmaßend, dass der religiöse Mensch dem Nichtreligiösen Gesetze vorschreibt, an die dieser nicht glaubt. Aber wie weit darf und sollte das Verständnis der Trennung von Staat und Religion reichen?

Da wir allesamt Kopftücher trugen, waren wir als Besuchergruppe auffällig und wurden oft erstaunt und überrascht von den Mitarbeitern und anderen Besuchergruppen des EU-Parlaments angeschaut.

Es ist uns unverständlich, warum wir unsere innere Einstellung als Privatpersonen nicht nach außen tragen dürfen sollten. Heißt das, der Mensch ist in der Öffentlichkeit keine Persönlichkeit, sondern ein Neutrum? Heißt das, der Mensch sollte seine Persönlichkeit verstecken, um gesellschaftsfähig zu werden? Die innere Einstellung eines Menschen kann so oder so nicht ganz verborgen bleiben. Warum sollte sie auch?

Kurze Zeit später wurden wir dann interessanterweise von einer Mitarbeiterin in den eigens entworfenen Gebetssaal des Europäischen Parlamentes gebracht. Dort waren Gebetsteppiche für Muslime und Stühle und Gebetsblätter zum meditieren für Andersgläubige vorhanden. Das ist nichts anderes als Religionen im öffentlichen Raum. Wir waren überrascht und erfreut zugleich. Hatte doch das zuvor Gesagte eine andere Erwartung in uns geweckt.

Zuletzt hatten wir dann ein Gespräch mit einer EU-Kommissarin aus Österreich. Wir, als die erste anwesende muslimische Frauengruppe, so ihre Bemerkung gegen Ende des Dialoges, hätten allein durch unsere Anwesenheit dazu beigetragen, dass der Islam als Religion weniger kritisch wahrgenommen wird. Unter uns waren fast ausnahmslos Studenten, Akademiker und berufstätige Frauen, doch dies war nicht unbedingt nach außen hin sichtbar. Der Islam wurde positiv wahrgenommen, obwohl wir nichts weiter getan hatten, als anwesend zu sein. Nichts getan hatten, als zuzuhören oder Fragen zu stellen. Nichts getan hatten, als uns so zu zeigen wie wir sind. Wenn die Religion im öffentlichen Raum nicht sichtbar ist, wird sie fremd gemacht und mit ihr das Glaubensverständnis von religiösen Menschen. Wenn die Gesellschaft nämlich erkennt, dass religiöse Menschen sich positiv in die Gesellschaft einbringen, aktiv sind und sich eben sichtbar als solche zu erkennen geben, wird der Nährboden für ein friedliches Miteinander geschaffen. Religionen werden somit als eine Bereicherung für die Gesellschaft verstanden. Die Muslimin ohne Kopftuch jedoch kann nicht allein durch ihre Anwesenheit dieses positive Bild vermitteln, weil sie nicht als solche erkannt wird. Das ist nicht als ein Angriff auf Musliminnen ohne Kopftuch zu verstehen, sondern vielmehr als eine Deutungsmöglichkeit der Beweggründe von Kopftuchträgerinnen aufzufassen.

Aber um erneut auf die eingangs formulierte These zurückzukommen: Inwiefern stellen Religionen nun uns selbst in Frage? Allein die Präsenz der Religion kann dazu führen, dass über Sinn und Zweck von Religion nachgedacht wird. Religionsbegründer selbst waren zunächst immer in der Minderheit und stellten langjährige, sinnlose Traditionen in Frage. Sie galten als eine Bedrohung für die Gesellschaft. Dazu heißt es im Koran 31:22:„Und wenn zu ihnen gesprochen wird: „Folget dem, was Allah herniedergesandt hat“, dann sagen sie: „Nein, wir wollen dem folgen, wobei wir unsere Väter vorfanden.“ Wie! selbst wenn der Satan sie zu der Strafe des brennenden Feuers lädt?“ Getreu dem Sprichwort „Wenn dein Freund aus dem Fenster springt, springst du dann auch?“ wird im Koran das blinde Befolgen von Traditionen kritisiert. Doch das Infragestellen des menschlichen Handelns betrifft auch die Religionsbegründer selbst: „Wahrlich, fragen werden Wir jene, zu denen (die Gesandten) geschickt wurden, und fragen werden Wir die Gesandten. Dann werden Wir ihnen wahrlich (ihre Taten) aufzählen mit Wissen, denn Wir waren niemals abwesend.“ Vgl. Koran 7:7-8.

Sollte der Mensch sich selbst nicht in Frage stellen, so tut er nur seiner eigenen Seele Unrecht: „ (…)Und Allah wollte nicht ihnen Unrecht tun, sondern sich selbst haben sie Unrecht getan.“Vgl. Koran29:41.Wenn Religionen friedlich gelebt werden und uns dabei in unserem Denken herausfordern, sollten wir diese Herausforderung annehmen. Andererseits könnte es sein, dass wir mit dem gleichen Starrsinn von religiösen Fanatikern die Religion im öffentlichen Raum tabuisieren und damit unserem Anspruch einer humanistischen Weltsicht, nach der alle Weltanschauungen gleich behandelt werden müssen, nicht gerecht werden.

Dieses Prinzip der Gerechtigkeit schließt die Sichtbarwerdung religiöser Weltanschauungen in der Öffentlichkeit ein und damit den pluralistischen Kerngedanken der Demokratie.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

GeniusIsBornNotPaid

Studium der Religionswissenschaften und Germanistik an der Goethe Universität Frankfurt; Ehrenamtlich aktiv im interreligiösen Dialog.

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