Linke Malaise

Linkspartei Worin versagt die Linkspartei in Deutschland?

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Ihre Freitag-Redaktion

Lieber Herr Kirchner,

vielen Dank für Ihre detaillierte und scharfsinnige Analyse der linksparteiischen Malaise. Sie haben viele Punkte treffsicher erfasst, das kann ich als langjähriger Wähler, der zuletzt immer größere Zweifel hatte, durchaus beurteilen.
Was mich daran aber etwas stört, ist die Herangehensweise, die - verzeihen Sie - für mich etwas zu sehr in Richtung "Marketing" geht ... also: Wie hat man sich dargestellt? Wie ist man angekommen? Die Linke ist aber kein Produkt, das man auf einem Markt feilbietet ... oder jedenfalls sollte sie es nicht sein.
Ich möchte aus marxistischer Perspektive auf zwei Punkte besonders eingehen und würde mich über Ihre Rückmeldung freuen.

1. Die "Arbeiterklasse"
Sie schreiben zurecht, "ein Selbstverständnis als [...] Arbeiter" sei selten geworden und das sei ein großes Problem. Ja, das ist aus meiner Sicht sogar das allergrößte Problem der Linken.
Als "Arbeiter" betrachtet man heute ein bestimmtes soziokulturelles "Milieu" (das von der akademischen Mittelschicht als "prollig" bezeichnet wird). Da geht es u.a. um einen bestimmten Habitus, auch um bestimmte Geschlechteridentitäten, bestimmte Statussymbole, bestimmte Fähigkeiten. Letztlich ist hier das Erscheinungsbild dieser Klasse zu Zeiten des Hochkapitalismus schlicht eingefroren worden (nicht zuletzt auch durch die verknöcherten Eliten der realsozialistischen Staatenwelt).
Der Marxismus ist aber kein Puppentheater mit Kasperl und Seppl und Drache, sondern eine epochenunabhängige Methode, die soziale Wirklichkeit zu analysieren.
Historisch-materialistisch betrachtet ist das heute vorherrschende Bild der "Arbeiterklasse" darum völlig bescheuert, denn definiert ist die Arbeiterklasse (hier erst mal die "an sich") eben nicht durch solche soziokulturellen Phänomene, sondern dadurch, dass ihre Mitglieder keine Produktionsmittel besitzen.
Viele "Prolls" sind aber heute eher als kleinbürgerlich zu betrachtende Besitzer von Wertanlagen wie dem klassischen Betongold, und viele Arbeiter im marxistischen Sinn sind überhaupt nicht "prollig", sondern Prekariat (häufig akademisch) oder Migranten (häufig bäuerlich).
Eine der wichtigsten Aufgaben der Linken wäre darum heutzutage aus meiner Sicht, den Begriff der Arbeiterklasse entweder zeitgemäß zurechtzurücken oder ihn durch eine wirklich griffige Alternative im ursprünglichen Sinn des Begriffs zu ersetzen.
In dieser Richtung sehe ich leider gar nichts bei der Partei der "Linken" in Deutschland. Und das ist sehr schade, denn das System, das Marx analysiert hat, ist heute im Grunde dasselbe wie seit 200 Jahren - und genau das wäre die alles bezwingende intellektuelle Stärke des Ansatzes.

2. Die Partei als Organisation der Arbeiterklasse (im oben definierten Sinn)
Um nicht nur zu jammern, sondern auch eine Perspektive aufzuzeigen, möchte ich Ihren Blick gern nach Graz wenden, wo die scheinbar anachronistische KPÖ gerade einen fulminanten Wahlsieg eingefahren hat. Warum? Und warum kommt das in Ihrer Analyse nicht vor?
Die KPÖ von Graz ist kein "Identifikationsangebot", sondern ein für die Arbeiterklasse im marxistischen Sinn hilfreiches und greifbares Vehikel ihrer Interessen. Da ist nicht zuerst die Partei und dann irgendwie ein Marketing-Erfolg, sondern da sind soziale Kämpfe (dort v.a. die Wohnungsnot) und dann eine Organisation, die solche Kämpfe kanalisiert, ihre Kräfte bündelt und ausrichtet.
Genau das fehlt (nicht nur) bei der Linkspartei in Deutschland - sich in den Dienst konkreter Klassenkämpfe zu stellen und dadurch den Respekt und die Loyalität der Arbeiterklasse zu gewinnen.
Und die Wohnungsnot ist ja nur eine der vielen Baustellen:
- Warum haben wir kein von der Linkspartei organisiertes Portal, auf dem proletarische Whistleblower ihre Klassengenossen vor Arbeitgebern warnen können, die Löhne drücken, auf Sicherheit scheißen, Psychoterror verbreiten?
- Warum haben wir keine von der Linkspartei organisierten Kampagnen gegen Kassen-Gutachter, die kaputtgearbeitete Menschen "gesundschreiben"?
- Warum haben wir keine von der Linkspartei organisierte Notkasse für Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, sich aber im Alter mit beinharten Existenzsorgen herumzuschlagen?
Durch genau solche Leistungen ist die Linke groß geworden - nicht durch parlamentarisches Blabla.
Helfen, Hilfe organisieren, hilfsbereite Menschen feiern, ihnen rechtliche Spielräume eröffnen bzw. sie gegen Angriffe verteidigen; das Prinzip gegenseitiger Hilfe als greifbaren Wert etablieren, aus dem gemeinsamen materiellen Interesse eine scharfe Waffe schmieden - und das alles ohne Ansehen von Herkunft, Glaube, Geschlecht usw. (das zeichnet uns schließlich aus vor dem Nazisumpf, denn links sein schließt doch liberal sein immer schon mit ein, leuchtet aber den blinden Fleck des Liberalismus mit aus).
Letztlich: Dafür sorgen, dass die Klasse der Menschen, die die Arbeit machen, wächst und gedeiht und irgendwann das morsche und unnütze umgebende System mit seinen "rechtlichen", "sittlichen" und sonstigen scheinbar selbstverständlichen Zwängen sprengt und abstreift - aus eigener Kraft (eine neue Arbeiterklasse "für sich").

Für so eine Partei würde ich brennen - und nicht nur ich. Sie auch?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lt. Commander Geordi LaForge

If it works the way I think it will, once the invasive program starts spreading, it'll only be months before the Borg suffer total systems failure.

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