Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit

Gleichheitsideal Friedrich Schillers ambivalente Kulturkritik

Schon vor seinem 200. Todestag (9. 5. 1805) erschien Schiller mächtig abgefeiert. Die Buchindustrie lieferte Ausgaben und Anthologien, Biographien und Bildbände. Gewürdigt wurde der Dichter, weniger der Theoretiker. Das Private kam keineswegs zu kurz. So lernten wir ihn denn als chronisch Kranken, erregten Liebhaber und aufstiegswilligen Karrieristen kennen. Sein Pathos wirkt offenbar immer noch. "Friedrich Schiller. Atem der Freiheit" titelte der Spiegel (4. 10. 2004). Und in der erfolgreichsten Biographie der Saison heißt es: "Bei Schiller war der Wille das Organ der Freiheit" (Rüdiger Safranski). Jenseits textexegetischer Spitzfindigkeiten stellt sich bei so viel Freiheit und Wille die Frage, was denn damit gemeint ist. Im hochtourigen Erinnerungsbetrieb wird gerne übersehen, dass seine weltkundige Kulturkritik illusionslos die Moderne als Zeit der Unfreiheit und der Handlungshemmungen bestimmt. Entfremdung und Entzweiung, Arbeitsteilung und Zweckrationalität, der Kult des Nutzens, der Konformitätsdruck, die affirmative Kultur und das Zurückbleiben der Individuen hinter der Gattung: Schillers ambivalente Kulturkritik präludiert ohne analytischen Anspruch große Themen des Marxismus, der frühen deutschen Soziologie und der Frankfurter Schule.


Im August 1797 erhält Schiller vier Briefe von Goethe aus Frankfurt. Darin berichtet der Freund, wie sehr sich die alte Reichsstadt in einen modernen "Waren- und Marktplatz" verwandelt hat. An Stelle der ehemals ruhigen und patriarchalischen Zustände herrsche nun ein "Taumel von Erwerb und Verzehren", eine Vorliebe für "Vergnügungen" und "Zerstreuung". Goethe lamentiert nicht über den Zustand von Stadt und Geistesleben. Er bejaht den Handelskapitalismus. Und er bewundert sogar die lauernde Konkurrenz der Bankiers und Unternehmer, "die doch selbst was vor sich bringen, wenn sie auch andern ein Bein stellen". Dennoch herrscht in den Briefen eine gewisse Beunruhigung über das veränderte Publikum und die veränderten Zustände.

Die Welt der Ökonomie ist Goethe durchaus vertraut. Er kennt sie aus Büchern und aus seiner Tätigkeit als Minister. Übrigens sollte man sich die ärmliche Miniresidenz Weimar nicht als mäzenatisches Refugium im Abseits vorstellen. Mit seinen Geistesgrößen wie Wieland, Herder oder Goethe (auch mit Schiller, der im benachbarten Jena wohnt und oft in Weimar weilt) avanciert es zu einem Zentrum deutscher Kultur. Die großen Warenströme gehen an der Stadt vorbei. Aber die großen Ideen der Zeit, die der europäischen Aufklärung und die Philosophie Kants, werden hier aufgenommen und überboten. Man ist in Weimar auch gut über die Zustände in London und erst recht über die im nachrevolutionären Paris informiert. Aber dergleichen bleibt, berichtet oder angelesen, ein Wissen zweiter Hand. Im Vergleich zu den westeuropäischen Großstädten wirkt auch Frankfurt bescheiden. Aber in seiner Heimatstadt macht Goethe hellsichtig neue Tendenzen aus, die als verstörendes Element in die Ästhetik der Moderne eingehen werden. Seine Briefe schildern schon Anzeichen einer Prosa der Verhältnisse, die der Kunst feindlich ist: Das Publikum will nur Zerstreuung; die Handelskapitale bietet zudem kaum poetische Stimmungen und poesiefähige Gegenstände. Die Diskrepanz zwischen ernüchternden Wirklichkeiten und der Poesie versucht Goethe mit einem Symbolkonzept zu versöhnen, das "moderne Gegenstände" für die Poesie eignungsfähig macht, indem es sie als "bedeutsam" für die Menschheit ausweist. Hinter dieser Vorstellung von der Bedeutsamkeit der Gegenstände steht die Vorstellung einer letztlich vernünftigen Ordnung. Also keine Sinngebung des Sinnlosen. So schreibt er am 12. August 1797 nach Jena: "Denn obgleich in der Empirie fast alles einzeln unangenehm auf mich wirkt, so tut doch das Ganze sehr wohl".

Darin sind sich die beiden Freunde einig: Die Zeit der dienstbaren Hofpoeten ist längst vorbei; Merkur darf nicht die Musen besteigen und die Kunst soll ihren eigenen Gang gehen, damit sie als autonome ihre Humanisierungsfunktion erfüllen kann. Goethes Versöhnungskonzept aber will Schiller nicht akzeptieren. Er plädiert für eine stärkere Trennung zwischen der Welt der Poesie und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, weil er sich diese Wirklichkeit nicht mehr als sinnhaftes Ganzes vorstellen kann. Die Anerkennung moderner Gegenstände als bedeutsame? Nein! Sich dem vergnügungssüchtigen Publikum anpassen? Nein! Man solle diesem, so schreibt er zurück, die "Behaglichkeit verderben", es "in Unruhe und Erstaunen" versetzen; es gelte, den Leuten Respekt vor dem Poeten und der autonomen Poesie beizubringen. Jegliche Anpassung an äußere Gegebenheiten lehnt er ab. Darin sieht er die Grundhaltung des Idealismus. Und nur dieser könne verhindern, "daß das wirkliche Leben mit seiner gemeinen Empirie nicht alle Empfänglichkeit für das Poetische zerstört".

Schiller beruft sich gern auf den Idealismus. Das meint bei dem Dichterphilosophen kein Denken im Panzerhemd eines Systems. Die "logische Pünktlichkeit der Begriffe" kümmert ihn weniger als der rhetorische Effekt. Gelegentlich aber erläutert er einprägsam, was unter Idealismus zu verstehen sei: Nicht uns sollen die Dinge, sondern wir sollen die Dinge formen; "und wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern". Solch flotte Formeln zeigen ein kontrafaktisches Tatpathos an, das in einem seltsamen Missverhältnis zum scheinbar resignativen Rückzug aus der "modernen gemeinen Welt" steht. Man könnte mit Friedrich Engels von "der Vertauschung der platten mit der überschwänglichen Misere" sprechen oder Schiller als Erfinder der Phrasendreschmaschine denunzieren. "Anmut und Würde", "seid umschlungen Millionen", "mein Geist dürstet nach Taten, mein Atem nach Freiheit" undsoweiterundsofort - all die eingängigen Formeln, zerredeten Allgemeinbegriffe und eine rasselnde Rhetorik scheinen ein solches Unterfangen zu rechtfertigen.


Aber Schiller ist kein Schwärmer mit gelockerten Realkontakten. Gerade seine kulturkritische Hauptschrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) bezeugt die Fähigkeit zur genauen Beobachtung der Menschen, ihrer Psyche und ihrer Zustände. Ihn interessieren die Kosten des Zivilisationsprozesses. Schiller kritisiert den Zustand der Zivilisation, ohne deren Verlauf zu verwerfen. Es gibt eine glückliche Vergangenheit, es gibt eine schlechte Gegenwart und eine bessere Zukunft ist möglich. Dieses Geschichtsbewusstsein schönt die Griechen zu Mustern eines nicht entfremdeten Lebens ein. Die "Athenienser" zeichnet aus, was den Zeitgenossen fehlt: Bei ihnen bilden Körper und Geist, Arbeit und Genuss eine harmonische Einheit; jeder lebt ein unabhängiges Leben und die Individuen können sich frei entfalten. Schiller blickt in die Antike zurück - ohne die Illusion, dass man zu ihr zurückkehren könne. Seine Kulturkritik ist der Geschichtsphilosophie und Anthropologie der Aufklärung verpflichtet. Zugleich stellt sie aber den Fortschritt der Vernunft, gerade erst "entdeckt", schon wieder in Frage, ohne das Ideal einer freien selbstbestimmten Existenz zu verwerfen. So rechnet er mit dem zivilisatorischen Prozess ab, und er traut doch der Bildungsmöglichkeit des Menschen viel zu.

Schiller will nichts weniger als ein "Gemälde" seines Zeitalters bieten. Und er verbindet diese Schlüsselattitude mit dem Anspruch, "vom Richterstuhl reiner Vernunft" aus zu urteilen. Interessant ist es, wie er nahezu protosoziologisch seine Zeitdiagnose entfaltet. Über den natürlichen Charakter des Menschen macht sich der vermeintliche Moraltrompeter keine Illusionen: Der ist "selbstsüchtig und gewalttätig", mehr auf die Zerstörung als auf die Erhaltung der Gesellschaft angelegt. Im gegenwärtigen Zustand verfehlen die einzelnen Menschen ihre Identität, indem sie der Gefühlsseligkeit oder der Prinzipienreiterei verfallen. Die rationalistischen Philosophen haben ein kaltes und die Geschäftsleute ein enges Herz. Charakterdeformationen lassen sich auch in den unterschiedlichen Klassen der Gesellschaft ausmachen: In den niederen Klassen herrschen gesetzlose Triebe, in den höheren Klassen herrscht eine müde Überfeinerung. Die Institutionen und Mentalitäten der modernen Zivilisation, die Wissenschaften und die Künste, die Arbeitsteilung, der Kult der Nützlichkeit, der Egoismus, die Herrschaft der despotischen Meinung und die falschen Werte - all dies betreibt die Zerrüttung der Individuen, und es lässt ihnen den Zivilisationsprozess als unkontrollierbaren Selbstlauf gegenüber treten. Die Individuen sind deformiert, und die Geschichte erfahren sie lediglich als Schicksal.

Reformillusionen kommen damit nicht auf. So lässt Schiller die großen Bewährungsfelder der bürgerlichen Gesellschaft, die Ökonomie und das Recht, die Politik und das Erziehungswesen, nicht mehr als sinnvolle Entwicklungsräume für die Individuen gelten. Die Auswirkungen der Ökonomie sind desaströs: Die Arbeitsteilung zerstückelt das Individuum und der "Geschäftsgeist" macht beschränkt. "Im Geschäft fleißig, aber im Geiste faul", wird es später bei Nietzsche über die Gründerzeitbourgeoisie heißen. Das Recht, mit dem Kant in der Metaphysik der Sitten (1797) große Erwartungen verbindet, widerspricht mit seiner Rigidität der erhofften Versöhnung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit. Der Terror der Französischen Revolution verleitet ihn zu der Behauptung, die Menschen seien für die Revolution noch nicht reif. Aber auch den Weg der politischen Reformen lässt er nicht als Ausweg gelten. Dabei setzt das aufgeklärte Deutschland (und auch Goethe) auf eine Koalition zwischen Reformadel und Bürgertum. Kein Wort dazu in Über die ästhetische Erziehung! Seine Kulturkritik bestimmt den Zustand der Zivilisation vollends als Zustand einer strukturellen Blockierung menschlicher Selbstverwirklichung. Wer so denkt, den kann man schwerlich als "Hofpoet des deutschen Idealismus" (Adorno) abqualifizieren.

Die Lage erscheint ausweglos. Zumal Schiller ohne metaphysische Rückendeckung oder geschichtsphilosophischen Trost denkt. Gott ist tot. Es gibt keinen Naturplan der Geschichte. Geist ist eine anthropologische, keine geschichtsphilosophische Kategorie. So ist eine Person mit Geist auf einem Pferd, aber kein Weltgeist zu Pferde denkbar. Er misstraut nicht nur der Vernunft des Bestehenden, sondern er relativiert auch schon die Vorstellung vom Bestehen der Vernunft: Selbst die Vernunft kann die Humanität bedrohen. Und doch beruft er sich noch auf sie, wenn es um einen Ausweg aus der kulturkritisch diagnostizierten Misere geht. Schiller will auf sein Ideal der geglückten Identität nicht verzichten. Deshalb stellt er am Ende des zehnten Briefes in "Über die Erziehung" seine Argumentation um. Aus der desillusionierenden Welt der Erfahrung begibt er sich in die Welt der philosophischen Spekulation, um hier die "Schönheit als notwendige Bedingung der Menschheit" aufzuzeigen. Ein solches Vertrauen in die Bildungsmacht der Schönheit ist uns heute abhanden gekommen. Schiller steigert es in der Welt der Ideen, obgleich er in der Realität die Funktion der Kunst als Sedativum (Herbert Marcuse wird vom affirmativen Charakter der Kultur sprechen) durchaus schon kritisiert: Die "ästhetische Kultur" lähmt die Energie des Charakters und das Freiheitsstreben.

"Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit" - dieser ernüchternde Befund verhindert nicht die programmatische Überstrapazierung des Ästhetischen als Ausweg aus der kulturkritisch diagnostizierten Misere. Woher kommt dieses Vertrauen in die "ästhetische Erziehung"? Aus Kants Kritik des Urteilskraft übernimmt Schiller die strukturelle Analogie von Kunst und menschlicher Selbstbestimmung: Schönheit ist als "Freiheit in der Erscheinung" zweckfrei und autonom. Im Unterschied zu Kant aber beharrt Schiller bildungsindividualistisch auf der nicht entfremdeten Existenz des Einzelnen. Sein berühmter Satz, der Mensch sei "nur da ganz Mensch", wo er mit der Schönheit spiele, ist oft missverstanden worden. Damit sind nicht Jux, Wettkampf oder Begegnung gemeint. Also weder Gladiatorenspiel noch Vorspiel. Bei ihm erhält der Spieltrieb einen Gegenstand von großer Wirkungsmacht: Durch das Kunstwerk soll im Prozess der ästhetischen Erziehung der "ganze Mensch" wieder hergestellt werden.

"In dem Reiche des ästhetischen Scheins", nicht in der Realität werde "das Ideal der Gleichheit erfüllt", heißt es im letzten der 27 Briefe. Schiller scheint am Ende das einleitend formulierte Ziel der "wahren politischen Freiheit" aus den Augen zu verlieren. Das ist oft bemerkt worden. Aus der "Erziehung durch die Kunst" sei eine "Erziehung zur Kunst" geworden, sagen die Einen. Die Anderen sehen hingegen in den "wenigen auserlesenen Zirkeln", in denen schon die emanzipatorischen Effekte einer "ästhetischen Erziehung" auszumachen seien, keine geistesaristokratische Absonderung, sondern den Nukleus einer Gesellschaftsutopie. Entscheidend ist, wie man Schillers Kritik an dem "Schwärmer", der das Ideal der Gleichheit realisieren möchte, interpretiert - ob nun als Generalverdikt "für immer" oder als Plädoyer für ein Umwegkonzept, das im Medium der Kunst autonome und handlungsfähige Subjekte bilden will, Subjekte fähig zur politischen Freiheit.


Vielleicht verstehen wir jetzt, warum Schiller gegenüber Goethe auf der Trennung von Ideal und Wirklichkeit beharrt. Seine Frontstellung gegen das "wirkliche Leben" gründet in einer desillusionierenden Kulturkritik, die den Zeitgenossen - sie mögen Herder, Kant, Goethe oder Hegel heißen - fehlt. Sein Denken, ambivalent und widersprüchlich, unsystematisch und alarmistisch, kritisiert nicht das Dasein schlechthin, sondern die eigene Epoche. Schiller bejaht die Ausdifferenzierungsprozesse der Moderne, und er verneint deren Folgen mit Blick auf die Deformationen der Individuen. Er lehnt den absolutistischen Staat ab, er verleiht ihm aber mit Blick auf den Zustand der Individuen eine vorläufige Bestandsgarantie. Schiller kritisiert nicht nur das eigene, vermeintlich aufgeklärte Zeitalter, sondern auch schon, quasi antizipatorisch, die Zumutungen der kapitalistischen Moderne. Seine Kritik richtet sich weniger gegen die sich auflösende Feudalgesellschaft als gegen die entstehende bourgeoise Gesellschaft. Bemessen mit dem Ideal des "ganzen Menschen" erscheint die eigene Epoche als "gemeine moderne Welt". Man könnte sagen, weil er die Freiheit des Individuums will, sieht er so genau. Und weil er seine Wirklichkeit als Zeit der Handlungshemmungen eindunkelt, erscheint die Kunst als mögliches Medium der Emanzipation in umso hellerem Licht.

Als Nationaldichter hat er längst ausgedient. Zum Genius einer luftigen Freiheit wird er heute wieder stilisiert. Sein scharfer Blick auf die Zumutungen der Moderne zeigt: Als Kulturkritiker sollte er neu entdeckt werden.

Georg Bollenbeck ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Gesamthochschule Siegen. Von ihm erschien: Tradition. Avantgarde. Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945. Frankfurt 1999. Derzeit schreibt er an einer Geschichte der Kulturkritik.


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