Lehrstück mit viel Publikum

Schillernd 1968 ist ein umkämpfter Erinnerungsort. Deshalb wirken seine Erzählstoffe noch immer

Soviel Medienhype war selten. Kein Tag ohne irgendeinen Beitrag zu 68. Der Blätterwald rauscht. Die Verlage bieten Analysen, Erinnerungen, Dokumentationen. Die Protestbewegung eignet sich wie kaum ein anderes Phänomen für eine multimediale Verwertung, weil sie die nötigen audiovisuellen Rohstoffe bereitstellt - vom Rockkonzert bis zu Straßenkämpfen, von pazifistischen Flower-Power-Nackten bis zu vermummten Gewaltbereiten, von Theoriedebatten voller Feinsinn bis zu Massendemonstrationen mit eingängigen Losungen. Che Guevara und Rudi Dutschke, Uschi Obermeier und Ulrike Meinhoff, die Morde der RAF und der "Aufstieg" vom Streetfigther zum Außenminister - der Protest präsentiert sich als Themenpark: Er lässt sich personalisieren und skandalisieren; man kann ihn als Bedrohungs- Rettungs- und Bekehrungsgeschichte erzählen.

Der Medienhype kann diskursive Turbulenzen produzieren, weil 68 ein umkämpfter Erinnerungsort ist. Revolution, Umbruch, Revolte oder lediglich Krawall - wenn darüber gestritten wird, was der Studentenbewegung zuzurechnen ist und wie sie zu bewerten ist, dann handelt es sich um erinnerungspolitische Deutungskämpfe. Wer den Protestierenden gelockerte Realkontakte oder gar einen totalitären Größenwahn vorhält, will ihre Motive letztlich pathologisieren. Das Schlechtmachen des Protests ist eine entscheidende Voraussetzung für das Schönreden der Adenauer-Republik. In der Großerzählung von der erfolgreichen Modernisierung bildet das restaurative Gemisch von Altnazis und Neudemokraten, Kapital und Katholizismus, Vertriebenenorganisationen und Vorwärtsverteidigung bestenfalls eine Fußnote. Umso mehr Abscheu sollen die gewaltbereiten Studenten erregen. Sie werden (gerne beruft man sich dabei auf Habermas) in die Nähe eines "linken" Faschismus gerückt. Jüngst hat Götz Aly, ehedem ein achtbarer Historiker, dieses "Argument" aufgegriffen. Sein Vergleich von 1933 mit 1968 ist nichts mehr als eine schrille These mit großem Aufregungsfaktor. Er belebt das Deutungsgeschäft.

Den Blick in die Vergangenheit leitet das Interesse, den Verlauf der Geschichte und den Zustand der Gegenwart zu bestimmen, um die eigenen politischen Konzepte zu legitimieren. Gern spricht man aus einer liberal-konservativen Perspektive den 68ern einen enormen destruktiven Erfolg zu. Demnach sind sie mit ihren missionarisch-totalitären Ideologien für nahezu alle Sozialpathologien und Fehlentwicklungen verantwortlich, die Deutschland gefährden: für den fehlenden Mut zur Erziehung, die Auflösung der Familie, für die gewaltbereite Jugend, Staatsgläubigkeit, Selbsthass und Identitätsverlust. Eine freundliche linksliberale Lesart sieht die protestierenden Studenten als "Vollzugsbeamte der Modernisierung" (Thomas Steinfeld), durch die Demokratiedefizite behoben, autoritäre Rückständigkeiten beseitigt, Emanzipationsforderungen gestellt und Bürgerinitiativen möglich wurden. Hingegen ist der Protest aus Sicht derjenigen, die nicht gewillt sind, ihre Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft aufzugeben, gescheitert: Die Herrschaft des Kapitals wurde nicht gebrochen, die Konturen einer Klassengesellschaft sind deutlicher geworden, der Imperialismus überzieht wiederum rohstoffreiche Regionen mit Krieg, als zündende Losung mobilisiert der Sozialismus die Massen weniger denn je.

Vielleicht könnte man sogar radikale Konstruktivisten davon überzeugen, dass 68 nicht nur ein Deutungskonstrukt, sondern ein zeitgeschichtliches Phänomen ist, das unterschiedlich gedeutet werden kann, gerade weil es verschiedene Facetten aufweist. Um die Extreme zu benennen: auf der einen Seite der hedonistische Habitus der Konsum-Pioniere; kiffen, Flower-Power, Schlemmereien in Wohngemeinschaften, sexuelle Befreiung und mit der Ente mal rasch in die Provence. Auf der anderen Seite der Anspruch einer politischen Avantgarde; eine gewisse kulturprotestantische Strenge, Kadergehorsam, Arbeiterlieder, die kein Arbeiter mehr singt, bürgerliches Denken entlarven und ein besserwisserisches Sprücheklopfen. Gewiss, das ist eine holzschnittartige Gegenüberstellung. Der studentische Protest zeigt viele Gesichter. Er hat spezifisch deutsche Züge und er ist doch ein internationales Phänomen. Er verläuft in Berkely anders als in Berlin, in Paris anders als in Rom. Aber es gibt Gemeinsamkeiten: der Kampf gegen Autoritäten in Familie, Schule und Universität; ein jugendlicher Nonkonformismus, der die Verheißungen der Demokratie ernst nimmt, der die Ausbeutung der "Dritten Welt" attackiert und den der Protest gegen den Vietnamkrieg verbindet. Nun beginnt die Entidealisierung der USA. Deren Politik wird verworfen, aber nicht die kulturelle Westbindung. Als Antiamerikanismus lässt sich das nicht abbuchen. Gerade in Deutschland befestigt die Studentenbewegung die Akzeptanz einer amerikanisch geprägten consumer society: Plattenspieler statt Hausmusik, Protestsongs statt Schlager, Trampfahrt nach Griechenland statt Trampelpfad auf den Hohen Meissner, AFN und Jimmy Hendrix statt Deutschlandfunk und Heintje. Es ist kein Zufall, dass gerade an der von Amerikanern gegründeten "Freien Universität" mit den Go-ins, Sit-ins und Teach-ins Protestformen erprobt werden, die aus Berkely stammen.

So schillernd das Phänomen ist, die Akteure der Geschichte lassen sich benennen. Es sind nicht die Studenten. Also keine komplette Generationskohorte. Es handelt sich um eine bestimmte studentische "Generationseinheit" (Karl Mannheim), eine zunächst "kleine radikale Minderheit" mit bildungsbürgerlich geprägten Lebensweisen und Denkstilen. Von daher nicht nur ein jugendlicher Lebenshunger, sondern auch ein Lesehunger, das Vertrauen in die Macht der Schrift und die Orientierung an intellektuellen Übervätern. Aber die heißen jetzt nicht mehr Jaspers oder Heidegger, auch nicht Camus oder Sartre, sondern vorrangig Marx, Engels und Freud. Schon vor der Raubdruckzeit interessieren sich viele für die Theorieangebote der Frankfurter Schule. Wenn es um die "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" geht, werden die Werke der Leipziger Umschüler Freyer, Gehlen und Schelsky rechts liegen gelassen. Umso wichtiger sind Adorno, Benjamin, Herbert Marcuse oder Georg Lukács für die Verbindung von Gesellschafts- und Kulturkritik.

Warum gerade diese "Generationseinheit" eine theoriegeleitete Kritikbereitschaft und unbekümmerte Widerständigkeit entwickelt, mag auf den ersten Blick überraschen. Von Gerd Koenen - ehemals als KBW-Funktionär einer der "größten Elche", gegenwärtig ein "passabler liberaler Prachtkerl" (Richard Herzinger) - stammt der Einwand, im Jahre 1968 habe es überall sonst "wirkliche Probleme" gegeben, aber wohl kaum in Deutschland. Sicher, die Protestgeneration wächst im "Goldenen Zeitalter der Kapitalismus" (Eric Hobsbawm) auf. Sie braucht keine Angst vor Arbeitslosigkeit zu haben. Die Aufgaben, Verbindlichkeiten und Sollwerte der akademischen Karriere sind überschaubar. Soviel Sekurität und Aufstiegsgewissheit gab es für den gebildeten Mittelstand seit dem Kaiserreich nicht mehr. Aber gerade diese Problemlosigkeit schafft Freiräume für individuelle Sinngebungen, Ansprüche und Handlungsvarianten. Sie ist eine Bedingung für jene selbstbewussten Frechheiten, die den heutigen, auf den Erwerb von credit-points abdressierten, Studierenden fehlen.

Schon seit den fünfziger Jahren bildet sich eine Protest- und Theoriekultur aus, die das Ferment für 68 bildet. Der SDS, seit 1961 durch einen Unvereinbarkeitsbeschluss von der SPD getrennt, entwickelt ein neues theoretisches Selbstverständnis, das den programmatischen Kern für die studentische Neue Linke bildet. "Unsere Theorie sollte", so Elisabeth Lenk in ihrem Referat auf der Delegiertenkonferenz des SDS 1962, "einem Scheinwerfergerät gleichen, dessen Licht stark genug ist, ein Stück des Weges in die Zukunft zu erhellen, das aber zugleich, auf die gegenwärtige Gesellschaft gerichtet, grell ihre Risse, Sprünge, jahrhundertealten Staub, ... beleuchtet". Auch die 68er wollen, wie schon zuvor die Anti-Atomtodbewegung und die Ostermarschierer, das Zeitalter der Weltkriege überwinden. Auch sie wollen, wie zuvor schon die Studierenden während der Spiegeläffäre (1962), demokratische Rechte verteidigen. Und auch sie wollen das, was mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem (1961/ 62) und mit dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt (1964/65) begann, fortführen. Sie wenden sich gegen ihre Väter, die nun als Biedermänner erscheinen und ehedem Brandstifter gewesen sein sollen. Indem ihre Kritikbereitschaft all dies aufgreift, bündelt und zuspitzt, was schon zuvor kritisiert wurde, entsteht etwas Neues.

"Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit". Ohne diese Diskrepanz ist 68 nicht denkbar. Trotz der vergleichsweise kommoden Lebenslage entstehen Befindlichkeiten, normative Ansprüche und Erkenntnisse, die den Blick auf die Wirklichkeit schärfen und zugleich verzerren. Hochgestimmt sind die Ziele: Selbstverwirklichung und Sozialismus oder Kommunismus. Daran werden die gesellschaftlichen Verhältnisse bemessen. Die Protestgeneration versteht sich als Teil einer historischen Tendenz, die zwar faschistisch unterdrückt wurde, die im Osten "bürokratisch deformiert" ist, die aber auf dem Vormarsch sein soll, in der Dritten Welt und demnächst auch in den Metropolen. Von daher erhält ihre Weltdeutung geschichtsphilosophischen Rückenwind.

Wann beginnt und endet 68? Sicher, in diesem Jahr kulminieren langfristige Entwicklungen und dramatische Ereignisse: die Tet-Offensive des Vietcong, die Attentate auf Martin Luther King und Rudi Dutschke, die anschließenden Osterunruhen, der Pariser Mai und die Massenstreiks in Frankreich, der Einmarsch sowjetischer Truppen in die CŠSSR, Straßenschlachten in Chicago und Westberlin. Aber vieles, was wir mit der magischen Jahreszahl verbinden, findet vorher und nachher statt. Offenbar dient die Jahreszahl lediglich als Chiffre für eine kulturelle und politische Protestbewegung, die für ein Jahrzehnt fast kulturelle Hegemonie erringt. Das Miteinander von kollektiver und individueller Emanzipationsverheißung, von neomarxistischen, antibürokratischen, kulturrevolutionären oder sexualemanzipatorischen Strömungen bildet gerade für die Aufgeweckteren ein sinnliches wie intellektuelles Mitmachangebot. Die Frontstellung gegen das "Establishment", den "Staat" oder das "System" begründet eine gemeinsame Identität: Man wird als Linker von den Genossen anerkannt, und man wird als Linker von den Herrschenden bekämpft. Die staatliche Repression und Medienhetze befestigen zunächst diese Selbstwahrnehmung.

Auch die Tendenzwende hat kein Datum. Nahezu unmerklich geht in den frühen siebziger Jahren die Phase der mobilisierenden Integration vielfältiger Strömungen in die Phase der demobilisierenden Diffusion über. Aus dem attraktiven Miteinander wird ein abstoßendes Gegeneinander von Revisionisten, Maoisten, Trotzkisten, Anarchisten oder wieder mit der SPD liebäugelnden Sozialisten. Zunehmend spaltet die Organisations- und die Gewaltfrage die Neue Linke. Die Morde der RAF, das blutige Spiel "sechs gegen sechzig Millionen": Indem der Staat diese Feinderklärung annimmt und die akademischen und kulturellen Milieus mit dem Sympathisantenverdacht überzieht, verlangt er eine rituelle Distanzierung von jeglicher Gewalt. Viele können nun in die Nähe des Terrorismus gerückt werden. Abschreckend sollen zudem die Berufsverbote wirken. Damit steigen die Risiken zivilen Ungehorsams. Zugleich werden "Reintegrationsangebote" genutzt: parteipolitisches Engagement im linken der Flügel der SPD oder bei den Grünen; Aktivitäten in Friedens-, Antiatom-, Öko- und Stadtteilinitiativen; "Selbstverwirklichung" in einer bunt-kleinteiligen Alternativwirtschaft der Ökobauern, Bioläden und Umzugsklitschen. Also dann statt Universalkritik zunehmend Partialkritik, Häutungen der Kader zu kritischen Ökos, interventionsbereiten Menschenrechtlern, Neutralisierung in gepolsterten Milieus.

Eine Generation dankt nicht dann ab, wenn ihre Antworten widerlegt, sondern diese als unwichtig erachtet werden" (Günther Anders). Wie wichtig 68 ist, belegen die Deutungskämpfe. Aber eine neue Studentenbewegung ist nicht in Sicht. Gewiss, die Zumutungen und Konflikte haben zugenommen. Aber sie werden heute durch Mitmach- und Einigkeitsdiskurse geschickter gemanagt. Für die Selbstverwirklichung soll der Markt zuständig sein. Die Autoritäten sind durch Sachzwänge ersetzt, die Übel der Welt werden moralisierend verarbeitet.

Über die Fehler der 68er, über ihren Ableitungsmarxismus, ihre Wirklichkeitsverluste, ihre Gewalt- und Machtphantasien, will uns der Medienapparat belehren. Damit kann man deren Langzeitwirkung freilich nicht erklären. Wer heute die Welt politisch verändern will, tut dies in einer durch die "Vollzugsbeamten der Modernisierung" veränderten Welt. Und wer in diesen Folgen keinen Erfolg sieht und gar eine andere Welt will, der braucht das, was die Protestbewegung auszeichnete: den Reichtum der Vorstellungsmacht, den langen Atem einer theoriegeleiteten Gesellschaftskritik und eine phantasievolle Widerständigkeit. So gesehen kann 68 für eine sich re-formierende Linke als Lehrstück wirken, von dem man weiß, das - was es darstellt - Vergangenheit ist.

Prof. Georg Bollenbeck lehrt Germanistik und Kulturwissenschaften an der Universität Siegen.

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