Gähn, die Wahlen kommen." Wie üblich brachte es das Wirtschaftsblatt The Economist auf den Punkt, als es vor Wochen den wahrscheinlichen Ausgang der Unterhauswahlen kommentierte. Denn die seien - so der Tenor damals - bereits entschieden. Blair werde daher seinen Sieg auch schnell einkassieren wollen - und die Wahlen auf den 3. Mai legen. Die gesamte britische Öffentlichkeit teilte damals diese Lesart. Warum sollten Labour und Blair auch verlieren? Noch Anfang April stellte Schatzkanzler Gordon Brown ein Budget vor, das vorrangig den Nachweis zu führen hatte, wie die britische Ökonomie nur so vor Gesundheit strotzt. Die Vorlage dieses Haushaltsentwurfes am 7. April war eigentlich als Auftakt des Wahlkampfes gedacht.
Labour hatte nach vier Jahren so hohe Überschüsse erwirtschaftet, dass die Staatsschulden in einem einzigen Jahr im Wert von umgerechnet 105 Milliarden Mark abgetragen werden konnten. Außerdem ist die Inflation stabil, mit 2,1 Prozent ausgesprochen niedrig und die Arbeitslosigkeit so gering, wie seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Fazit: Großbritannien darf sich heute zu den EU-Wachstumsregionen rechnen. Eine komfortable Situation für Blair, ein stabiles Budget präsentieren und Wahlgeschenke austeilen zu können - besonders an Familien - wie für die gebeutelten Erziehungs- und Gesundheitssysteme.
Tony Blair - im Kokon von Whitehall verfangen
Bei alldem geriet fast in Vergessenheit, dass nach vier Jahren Labour einiges erheblich im Argen liegt - man denke nur an die tiefer gewordene Kluft zwischen Arm und Reich sowie an Regionen, an denen der Boom vorbei ging. Wenn Kritiker auf solche Schwachpunkte verwiesen, blieb dem Premier bislang stets ein spielentscheidender Trumpf: der desolate Zustand der konservativen Opposition. Denn, wo immer die Briten Labour vorwerfen, sich zu sehr im Kokon von Whitehall verfangen zu haben, glauben sie - Umfragen zufolge - gleichzeitig, dass die Konservativen noch inkompetenter seien. Schließlich präsentierte Parteichef William Hague bis zuletzt herzlich wenig an Visionen, fiel stattdessen entweder durch populistische Tiraden gegen Asylsuchende und andere "Schmarotzer" oder durch eher peinliche Anbiederungsversuche auf: Vor einigen Monaten ließ der als Elitesöhnchen verschrieene einstige Oxfordstudent über die Regenbogenpresse verkünden, in seiner Jugend sei er einer der Trinkfestesten seines Jahrgangs gewesen. Nicht erstaunlich also, dass Blair zeitweise respektable 25 Prozent zwischen sich und seinen konservativen Herausforderer gebracht hatte.
Mochten Kritiker noch so sehr monieren, Blairs Dritter Weg sei "weder Fisch noch Fleisch" - die Idee an sich führte die Labour Party über ihre traditionelle, moderat linke Klientel hinaus in die politische Mitte. Andrew Rawnsley, Politikguru des liberalen Observer, meint daher, Blairs paradoxester Triumph sei es, dass sich die Konservativen inzwischen gezwungen sähen, Labour ausgerechnet in der Sozialpolitik übertrumpfen zu wollen, um nicht noch mehr an Boden zu verlieren. In der Tat müssen die Tories heute Investitionen in Gesundheit und Bildung unterstützen, obwohl sie die früher als "unverantwortliche Ausgabenpolitik" angeprangert hatten. Antony King, Professor für Regierungslehre an der Universität von Essex, meint daher, die Konservativen befänden sich in der "größten Glaubwürdigkeitskrise ihrer Geschichte".
Doch mit dieser glänzenden strategischen Schlachtordnung für das Regierungslager ist es vorbei, die Optimisten hatten ohne die Maul- und Klauenseuche (MKS) kalkuliert - und ohne die National Farmers Union, die Blair derzeit so massiv wie noch nie unter Druck setzt.
Wochenlang galt die Sprachregelung, die Wahl werde trotz MKS nicht abgesagt. Man wollte keine "nationale Krise" aus der Seuche machen und wusste dabei im Kabinett ohnehin sehr genau, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung außerhalb der Städte seit jeher zur Tory-Klientel zählt. Außerdem hätte bis zum Juni möglicherweise eine Rezession aus den USA herüber schwappen und Labour den Amtsbonus kosten können.
Wenn Blair mit dem Termin des Votums jongliert, ist das zweifellos auch damit begründet, dass er sich gerade jetzt nicht vorwerfen lassen will, die Landbevölkerung wegen ihrer konservativen Gesinnung abgeschrieben zu haben. William Hague giftet seit Wochen, mit seinen Wahlambitionen setze Blair "Party before country" - die Partei vor das Wohl des Landes. Es sei doch nicht zu übersehen, dass unter den momentanen Umständen, die Teilen Großbritanniens eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit verordneten, ein fairer Urnengang in Frage stehe.
William Hague - mit Nachfolgern bestens versorgt
Doch Labour dürfte auch eine verschobene Wahl gewinnen, der Vorsprung gegenüber den Konservativen ist zu groß, auch wenn die Kritiker durchaus recht haben, dass eine Verschiebung höchstens eine symbolische Geste sein kann, denn MKS wird auch in diesem Zeitraum nicht überwunden sein. Es stimmt zwar, dass die gegenwärtige Situation den Tories eine unverhoffte Chance lässt, aber historische Vergleiche belegen, dass schwankende Wähler in schöner Regelmäßigkeit zur Regierung zurückströmen, sobald der Wahltag anbricht.
Daher glauben inzwischen sogar 86 Prozent der Tory-Anhänger, dass die Wahl auf jeden Fall verloren sei. Sie interessiert vor allem der Abstand zu Labour und damit die Frage, ob der es William Hague erlauben wird, Vorsitzender zu bleiben. Sollte die Niederlage vernichtend sein, stehen mögliche Nachfolger bereit. Etwa der ehemalige Außenminister Malcolm Rifkind oder Kenneth Clarke, gegen den sich Hague nach dem Wahldesaster 1997 überraschend als Torychef durchgesetzt hatte. Schließlich gibt es noch Ann Widdecombe, die aber zu weit rechts steht - und sich daher auf dem gleichen verlorenen Posten wiederfinden könnte, den Hague zur Zeit besetzt. Als heißester Anwärter auf einen möglicherweise frei werdenden Chefsessel bei den Tories wird daher Schattenkanzler Michael Portillo gehandelt - auch wenn der zur Zeit (noch) als Hagues rechte Hand agiert.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.