Es war keine übermäßige Überraschung, als Tony Blair im Mai 1997 nur eine Woche nach seiner Wahl zum Premier die Kontrolle über wichtige wirtschaftspolitische Instrumente - vor allem die Festlegung der Leitzinsen - an die Zentralbank abgab. New Labour hatte stets bekundet, den sozialen Kahlschlag der konservativen Vorgängerregierungen keineswegs fortführen, aber zugleich ein System aufzubauen zu wollen, das England als Mutterland des Wirtschaftsliberalismus gerecht wird - da empfahl sich eine party of business and enterprise, die Unternehmensgründungen wie die Schaffung von Arbeitsplätzen gleichermaßen förderte (und so viele neue Freunde unter den Fat Cats, den Wirtschaftsbossen, gewann). Das klang zuweilen sehr nach dem "Vulgärliberalismus" der Thatcher-Jahre, hätte es nicht den Anspruch gegeben, die Früchte einer besser funktionierenden Wirtschaft zumindest bis zu einem gewissen Grade gerechter zu verteilen und damit einer seit der Tory-Ära hohen Einkommensspreizung entgegenzuwirken.
Von Anfang an ist dieses Experiment eines Dritten Weges zwischen Sozialismus und Konservatismus mit eben so viel Sarkasmus bedacht worden (von "rechter Politik mit linker Rhetorik" sprach etwa der Politikwissenschaftler Alan Angell) wie es Bewunderer und Nachahmer fand - Brasiliens Präsident Henrique Cardoso ebenso wie Gerhard Schröder. Da die Meinungen über den Dritten Weg bis heute selbst auf der Insel in frappierender Weise auseinander laufen, bietet das Ende der ersten Regierungsperiode unter Tony Blair eine willkommene Gelegenheit zur Bilanz, fixiert vorzugsweise auf zwei Fragen: Erstens - brachte die liberale Wirtschaftspolitik die versprochenen Wachstums- und Produktivitätseffekte? Zweitens - wurde der in Aussicht gestellte "größere Kuchen" wirklich verteilt?
Die Dynamik der britischen Ökonomie ließ unter Labour in der Tat nicht viel zu wünschen übrig, zumindest hinsichtlich der wichtigsten makroökonomischen Daten (s. Übersicht). Allerdings wurden Blair Co. bis zum letzten Quartal des Jahres 2000 von einem freundlichen weltwirtschaftlichen Klima verwöhnt, aus dem sie zweifellos mehr zu machen verstanden als viele der westeuropäischen Partner. Heute sagen immerhin 39 Prozent der Briten, in wirtschaftlicher Hinsicht sähen sie optimistisch in die Zukunft.
Auch in Sachen Einkommensdifferenzierung blieb New Labour nicht untätig. Sämtliche Budgets seit 1998 enthielten beachtliche redistributive Komponenten mit Geldspritzen vor allem für Familien, Alte und andere Gruppen in den unteren Etagen der Einkommensskala. Schatzkanzler Gordon Brown war der Protagonist, wenn es galt, das skandalöse Ausmaß der Kinderarmut im Königreich einzudämmen. Trotzdem reichten die Regierungsprogramme nicht, um einer reichlich gespreizten Einkommensschere entgegen zu wirken.
Tony Blair beendet den "Klassenkampf" - ein Almanach Mai 1997
Nach dem Wahlsieg vom 1. Mai (Labour: 43,1 Prozent / Konservative: 30,6) stellt Tony Blair schon vier Tage später sein neues Kabinett vor. Schatzkanzler wird wie erwartet Gordon Brown, das Außenministerium geht an den "linken Atlantiker" Robin Cook, das Innenressort an den "Law and Order"-Mann Jack Straw. Verteidigungsminister wird George Robertson, Nordirlandministerin Mo Mowlam.
Juli 1997 Mit dem ersten Budget wird die Windfall tax eingeführt - eine Steuer, mit der Gewinne aus privatisierten Unternehmen abgeschöpft und für Beschäftigungsmaßnahmen eingesetzt werden, 1998: 5,2 Milliarden Pfund. Blairs "Welfare-to-work"-Programme zielt auf 250.000 subventionierte Arbeitsplätze und ein Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramm für Jugendliche.
Oktober 1997 Ein Parteitag der Konservativen wählt den erst 36-jährigen William Hague zum neuen Vorsitzenden, der eine Erneuerung der Partei und einen "Patriotismus ohne Bigotterie" ankündigt.
Januar 1998 Mit einer Quote von 6,6 Prozent (1,45 Millionen) sinkt die Beschäftigungslosigkeit auf den niedrigsten Stand seit 1984 - Blair wertet das als Resultat anhaltenden Wachstums, moderater Lohnentwicklung und diverser Beschäftigungsprogramme, bei denen "Bezieher von Sozialunterstützung mit Hilfe finanzieller Anreize wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert werden" (Gordon Brown). Arbeitslose bis 25 müssen sich entscheiden, einen zeitlich begrenzten Job anzunehmen, ihre Berufausbildung voranzutreiben oder freiwillige Sozialarbeit zu leisten.
April 1998 Mit dem Karfreitagsabkommen gelingen der Durchbruch bei den Verhandlungen über den künftigen Status Nordirlands und eine Eindämmung der bürgerkriegsähnlichen Konfrontation zwischen katholischer und protestantischer Community.
September 1998 Auf dem Labour-Parteitag in Bournemouth verspricht Blair ein "neues Jahrtausend würdevoller Gleichberechtigung" und erklärt: "Der Klassenkampf ist vorbei, der Kampf für Gleichheit hat erst begonnen."
März - Juni 1999 Blair gehört in der NATO zu den energischen Befürwortern des Luftkrieges gegen Jugoslawien. Britische Truppen beteiligen sich später an der KFOR und erhalten einen eigenen Sektor im Kosovo.
November/Dezember 1999 Gemäß Karfreitagsabkommen Bildung der ersten eigenständigen All-Parteien-Regierung für Nordirland, der auch die katholische Sinn Féin-Partei angehört.
Februar 2000 In einer Unterhausrede kündigt Premier Blair massive Mehrinvestitionen im National Health Service (NHS) an und erhebt die Gesundheitspolitik zur Priorität für den Rest der Legislaturperiode.
Mai 2000 Gegen den Widerstand Blairs setzt sich der Labour-Linke Ken Livingstone bei der Direktwahl des Londoner Bürgermeisters durch.
September 2000 Nach Angaben des Nationalen Statistikbüros hat der Abstand zwischen den untersten und höchsten Einkünften in Großbritannien den größten Wert seit der Thatcher-Regierung erreicht. Die am besten verdienenden Briten hatten 1999 durchschnittlich ein unversteuertes Jahreseinkommen von umgerechnet 185.000 DM - die unterste Einkommensgruppe lag bei 14.500 DM.
Oktober 2000 Angesichts miserabler Umfrageergebnisse kündigt auch Parteiführer Hague auf dem Parteitag der Konservativen den Kampf um die Neue Mitte an und erklärt die Sozialpolitik Labours für gescheitert.
November / Dezember 2000 Extreme Häufung von BSE-Fällen in der britischen Landwirtschaft. Die Regierung reagiert mit Massentötungen und Vernichtung der Tierkadaver.
Februar 2001 Im Unterhaus antwortet Tony Blair auf die Frage von Oppositionsführer Hague, wann über den Beitritt zur Währungsunion entschieden werde: "Innerhalb von zwei Jahren."
April 2001 Aufgrund der grassierenden Maul- und Klauenseuche wird der Termin für die Unterhauswahl vom 3. Mai auf den 7. Juni verschoben.
Hinzu kam und kommt ein desolater Zustand öffentlicher Dienstleistungen, die schließlich bei Transport, Bildung oder Gesundheit besonders all jene Schichten in Anspruch nehmen müssen, denen teure, private Alternativen verschlossen bleiben. Allein der öffentliche Gesundheitsdienst erlangte traurige Berühmtheit, wenn Patienten starben, weil sie zu lange auf ihre Operationen in einem öffentlichen Krankenhaus warten mussten. Derzeit liegt Großbritannien gemessen an der Höhe staatlicher Subventionen für das Gesundheitswesen pro Kopf der Bevölkerung auf dem letzten Platz unter den G 7-Staaten, obwohl Labour nach den Angaben des Londoner Institute for Fiscal Studies während der jetzigen Legislaturperiode schon bedeutend mehr für Schlüsselsektoren der öffentlichen Versorgung (auch für die Bildung) getan hat als die konservativen Kabinette unter Thatcher und Mayor. Wie diese Bemühungen fortgesetzt werden, dürfte sich daran ersehen lassen, ob Blair im Falle eines Wahlsieges sein Versprechen einhält, mehrere Tausend Ärzte, 20.000 Krankenschwestern, 10.000 Lehrer und 6.000 Polizisten zusätzlich einzustellen. Der absolute Trumpf auf der "Gelöbnis-Karte", mit der New Labour seit 1997 in Wahlkämpfe zieht.
Ungeachtet dessen dürfte eine Fortsetzung der Ära Blair dem öffentlichen Bereich weitere Privatisierungswellen bescheren, haben sich doch britische Regierungen mit der bisherigen Verkaufspolitik eher blamiert. So gab es in den vergangenen Jahren auf privatisierten Eisenbahnstrecken mehrere katastrophale Unfälle - verursacht durch Mängel in den Sicherheitssystemen. Böse Zungen behaupten, da hätten privaten Betreiber möglicherweise nicht genug in eben jene Standards investiert. Dennoch sollen schon 2002 weitere, bisher öffentliche Dienstleistungen von Privatfirmen erbracht werden - im Gesundheitssektor, in der Bildung und der lokalen Verwaltung. Nach Auffassung der "Modernisierer" vom einflussreichen Labour-nahen Think Tank Institute for Public Policy Research der einzige Weg, um Dienstleistungen mit mehr Effizienz anbieten und den Tories dadurch ihren bisher wichtigsten Angriffpunkt (nämlich den bedauerlichen Zustand eben jener Sphäre) nehmen zu können.
Kritiker wie der linksliberale Guardian lästern, die einzige wirkliche politische Überzeugung, die es bei New Labour noch gäbe, sei die vom Nutzen einer bedingungslosen Privatisierung des öffentlichen Lebens - und das - laut Umfragen - gegen den Willen der traditionellen Wählerschaft.
Sollte Labour das Votum am 7. Juni gewinnen, wird man dennoch unbeirrt auf diesem Kurs bleiben. Für eine größere Beachtung sozialer Belange wäre eine starke Opposition links von Labour vonnöten, die in dieser Hinsicht Druck ausüben würde. Genau die aber fehlt. Inzwischen versuchen zwar die Liberal Democrats vermehrt, die soziale Kerbe zu treffen und stehen nun für höhere Steuern und Staatsausgaben sowie für eine staatliche Kontrolle öffentlicher Dienstleistungen. Ob sie sich aber neben Labour und den Tories etablieren können, ist aufgrund der durch das britische Wahlsystem begünstigten Zwei-Parteien-Dominanz eher unwahrscheinlich.
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