Das Märchen von der erfolgreichen Sparpolitik

Wahlen Ausgaben senken, Löhne kürzen, den Export stärken: Mit diesem Rezept hat die Erholung der spanischen Volkswirtschaft nichts zu tun
Ausgabe 48/2015
Protestplakate gegen Zwangräumungen in Barcelona
Protestplakate gegen Zwangräumungen in Barcelona

Foto: Lluis Gene/AFP/Getty Images

Spaniens Wirtschaftswachstum liegt seit 2014 wieder über dem Durchschnitt der Eurozone. Weithin wird das den propagierten exportorientierten Strukturreformen zugeschrieben – der Politik also, die die Bundesregierung den Euro-Mitgliedsstaaten vorgibt. Doch in Spanien passen Diskurs und Praxis seit Ende 2013 nicht mehr zusammen.

Vor den am 20. Dezember anstehenden Parlamentswahlen lässt sich die konservative Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy in Berlin und Brüssel zwar gern für „wettbewerbsorientierte Strukturreformen“ und so als Musterschüler gelungener Austeritätspolitik feiern. Doch tatsächlich ist die Erholung nicht Folge von Spardiktat und Lohndruck, sondern genau im Gegenteil das Ergebnis eines Abrückens von diesen Dogmen in der Praxis. Klar und deutlich ist dies an den volkswirtschaftlichen Daten abzulesen: Die Inlandsnachfrage treibt das neue Wachstum. Erst als die Löhne, wenn auch nur aufgrund der Deflation, real wieder stiegen und die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) unterstützend wirkte, konnte die Wirtschaft Spaniens wieder wachsen. Zunächst hatte sie im Juli 2012 erklärt, alles für die Stabilisierung der Eurozone und damit auch Spaniens zu tun. Für das rasche Sinken der Zinskosten des öffentlichen Sektors wie privater Unternehmen und Haushalte war die Politik der EZB somit maßgeblich. Indem sie 2015 begann, Staatsanleihen aufzukaufen und damit viel Geld in die Märkte zu pumpen, half sie abermals.

Steigende Nachfrage

Während öffentlich weiter von nötigen Einsparungen die Rede ist, steigen real seit 2014 die öffentliche Beschäftigung und andere Konsumausgaben, seit 2015 sogar wieder die Investitionen. Der Beitrag der Nettoexporte zum Wachstum ist indessen seit dem dritten Quartal 2013 negativ – ausgerechnet dem ersten mit positiver Wachstumsrate nach zweieinhalb Jahren Rezession. In Kombination mit dem schwachen Euro, niedrigen Energiekosten und einem neuerlichen Wachstum der Kredite sorgte die Binnennachfrage dafür, dass sich die spanische Wirtschaft nun wieder erholt.

Die Nachfrageseite zu vernachlässigen ist das Grundproblem neoliberaler Wirtschaftspolitik. Ihre Vertreter richten den Fokus auf den Export. Im Falle Spaniens macht der aber nur gut ein Viertel der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage aus. Der bei weitem überwiegende Anteil entfällt auf die Binnennachfrage, sprich: auf den privaten und öffentlichen Konsum sowie Investitionen. Die Neoliberalen überschätzen zudem das Potenzial der Exporte: Denn mehr als die Hälfte der Nachfrage nach spanischen Ausfuhren entfällt auf Frankreich, Deutschland, Italien, Portugal und Großbritannien – allesamt Länder, die zuletzt dieselbe nachfrageschädigende Exportorientierung verfolgt haben. Dieses Kalkül konnte nicht aufgehen. Erst als in der Praxis von ihm abgerückt wurde, kam es zur Überwindung der Rezession.

Vor der partiellen Abkehr der Regierung von Kürzungen bei öffentlichen Ausgaben und der Beschneidung von Arbeitnehmerrechten hatten diese in Kombination mit der Wirtschaftskrise zu einem Rückgang der Binnennachfrage um 15 Prozent zwischen 2008 und 2013 gesorgt. Indessen stieg sie in Deutschland um elf Prozent. 3,8 Millionen Arbeitsplätze, knapp ein Fünftel aller in Spanien, waren vernichtet worden. Die Arbeitslosenrate sinkt nun zwar rascher als noch vor zwei Jahren prognostiziert, doch die Arbeitsmarktreformen haben hier nur im zynischen Sinn Wirkung gezeigt: Sie signalisierten insbesondere den Zuwanderern der Boomjahre und der Jugend, dass existenzsichernde Jobs in Spanien langfristig für viele nicht mehr realistisch sind. Die Botschaft kam an, die Auswanderung nahm zu. Seit Sommer 2012 ist die Erwerbsbevölkerung um zirka 600.000 Personen geschrumpft.

Zwangsräumung und Teilzeit

Obwohl durch die jüngste Erholung erstmalig wieder die Beschäftigung wuchs, ist die angespannte Arbeitsmarktlage nur bedingt entschärft. Nach wie vor sind weit über 40 Prozent der Jugendlichen arbeitslos. In einem von zehn Haushalten sind alle Erwerbspersonen ohne Arbeit. Jene, die Beschäftigung finden, müssen sich oft mit befristeten Verträgen, Teilzeitjobs und niedrigen Löhnen zufriedengeben. Nur mehr gut ein Drittel der Bevölkerung gilt als gesellschaftlich voll integriert. Sichtbar wird dies insbesondere anhand der hohen Zahl von Zwangsräumungen aufgrund von Kreditrückständen.

Die angespannte soziale Lage und viele Korruptionsfälle waren der Hintergrund für die politische Machtverschiebung bei den Regional- und Kommunalwahlen im Mai. Zentrales Wahlkampfthema war die Sparpolitik. Linksbündnisse um Podemos feierten Erfolge und stellen seither Stadtregierungen etwa in Madrid und Barcelona. Damit dürfte zu tun haben, dass die EU-Kommission bisher nur leise Kritik am nach wie vor hohen Defizit Spaniens übt.

Wie bereits 2011 könnte sich eine neue Regierung nach den Parlamentswahlen mit massivem europäischen Austeritätsdruck konfrontiert sehen. Griechenland zeigt, wie das neoliberale Reformbündnis auf europäischer Ebene reagiert, kommt es zur Wahlniederlage einer nationalen „Filiale“ oder zur Regierungsbeteiligung von Parteien links der Sozialdemokratie.

Mit dem omnipräsenten Konflikt um Kataloniens Unabhängigkeitsstreben und dem Höhenflug der neuen katalanischen, prospanischen und wirtschaftsliberal-populistischen Partei „Ciudadanos“ haben sich die Chancen auf einen Richtungswechsel verringert. Entscheidend wird sein, ob die linken Regional- und Stadtregierungen sich als Nukleus einer alternativen Entwicklung in Szene setzen können – gerade in der Wirtschaftspolitik.

Georg Feigl ist Referent für öffentliche Haushalte und europäische Wirtschaftspolitik der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien

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