Hyperinflation hält Deutschland 1923 in Schach und lässt Millionen verarmen
Zeitgeschichte Belgien und Frankreich haben wegen verzögerter deutscher Reparationen das Ruhrgebiet besetzt. Die Weimarer Republik ist existenziell erschüttert, Hitler versucht in München den Putsch
Zum Jahresanfang 1923 hatte kaum jemand in Deutschland Anlass zu Optimismus. Eine multiple Krise hielt die Menschen im Griff. Fast alle litten unter einer Hyperinflation. 1914 hatte sich das Reich vom Goldstandard gelöst und die Militärausgaben mit der Druckerpresse finanziert. Jetzt bestand ein Überhang an Papiergeld. Ersparnisse verloren ihren Wert. Die Löhne fielen schon kurz nach ihrer Auszahlung ins Bodenlose. 1919 waren im Frieden von Versailles hohe Reparationen über Deutschland verhängt worden. Sie konnten nicht in Papiermark, sondern mussten in Gold, Sachleistungen oder stabiler Auslandswährung gezahlt werden. Belgien und Frankreich nutzten eine geringfügige Verzögerung, um am 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet zu besetzen. Die Reichsregier
ierung rief zum passiven Widerstand auf. Beamte verweigerten den Besatzungsbehörden den Gehorsam. Etwa zwei Millionen Arbeiter streikten. Die Regierung zahlte den Lohn- und Gehaltsausfall aus dem Staatshaushalt – dies erhöhte die Inflation.Es gab auch militantere Kampfformen, darunter Sabotage. Züge wurden absichtlich fehlgeleitet, vereinzelt Besatzungssoldaten tätlich angegriffen. An solchen Aktionen waren auch Mitglieder von Freikorps beteiligt. Die Besatzungsbehörden antworteten mit Gefängnis und Ausweisungen. Bei Zusammenstößen wurden 137 Personen getötet. Albert Leo Schlageter, ein Mitglied der NSDAP, wurde wegen Sabotage und angeblicher Spionage zum Tode verurteilt und hingerichtet. Seine Partei machte ihn zum ersten „Blutzeugen“ ihrer Bewegung. Erst Ende September brach die Regierung unter dem Kanzler Gustav Stresemann von der Deutschen Volkspartei (DVP) den passiven Widerstand ab.Im Vertrag von Versailles war 1919 festgelegt worden, dass die linksrheinischen Gebiete des Reichs entmilitarisiert und bis 1935 von Truppen der Siegermächte besetzt bleiben sollten. Separatistische Bewegungen strebten die Trennung von Deutschland an. Am 21. Oktober 1923 wurde – nach früheren Versuchen schon 1919 – eine „Rheinische Republik“ ausgerufen. Bewaffnete Zusammenstöße forderten Todesopfer. Der Versuch scheiterte erst Ende 1923 endgültig, nachdem ihm die Besatzungsbehörden ihre anfängliche Unterstützung entzogen hatten.In Bayern verurteilte die konservativ-klerikale Regierung die Einstellung des passiven Widerstands als Verrat und übernahm das Kommando über die dort stationierten Einheiten der Armee. Reichspräsident Friedrich Ebert verhängte den Ausnahmezustand, aber die Reichswehr ließ sich nicht gegen Bayern einsetzen und hielt sich an eine Losung, die Hans von Seeckt, jetzt Chef der Heeresleitung, schon 1920 während des Kapp-Putschs ausgegeben hatte: „Truppe schießt nicht auf Truppe.“ Adolf Hitler, der Führer der NSDAP, versuchte das Machtvakuum am Abend des 8. November im Münchner Bürgerbräukeller für einen Putsch zu nutzen. Als er am nächsten Tag zusammen mit Erich Ludendorff, dem ehemaligen Ersten Generalquartiermeister der kaiserlichen Armee, und Anhängern auf die Feldherrnhalle zumarschierte, schoss die Polizei, die bei diesem Einsatz vier Mann verlor, und tötete 15 Personen. Die NSDAP wurde verboten, Hitler zu Festungshaft verurteilt.Was Ebert gegen Bayern nicht gelang – die Reichsexekution gegen ein abtrünniges Land –, führte er gegen Sachsen und Thüringen aus. Dort gab es aber weder Separatismus noch Hochverrat. SPD-geführte Minderheitsregierungen wurden von der KPD erst toleriert, später traten Kommunisten in die Kabinette ein. „Proletarische Hundertschaften“, die im Reich schon vorher unter kommunistischer Führung gegründet worden waren, wurden in beiden Ländern mobilisiert. Ihnen gehörten auch Sozialdemokraten und parteilose Gewerkschafter an.Diese Entwicklungen hatten zwei Ursachen: In Sachsen, zuweilen als „Wiege der deutschen Arbeiterbewegung“ bezeichnet, und in Thüringen war im linken Flügel der SPD, auch in der KPD, der Gedanke der Einheit des Proletariats noch stark verankert. Der Rechtsruck in Bayern wurde als Gefahr gesehen, deren Abwehr vorbereitet werden musste. Zugleich aber gab es in Moskau, im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI), den weiter gehenden Plan für einen „Deutschen Oktober“: Was 1917 in Petrograd gelungen, 1918/19 zunächst mit der deutschen Novemberrevolution gescheitert war, sollte in der Krise des Jahres 1923 nachgeholt werden. Der KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler war zunächst zögerlich, stimmte dann aber zu. Auf einer Arbeiterkonferenz in Chemnitz am 21. Oktober schlug er die Ausrufung des Generalstreiks vor, fand jedoch besonders bei den meisten Sozialdemokraten und Gewerkschaftern keine Mehrheit. Die Revolution fiel aus.Ein Nachspiel fand in Hamburg statt. Es mag sein, dass die Nachricht aus Chemnitz nicht mehr rechtzeitig dort ankam. Denkbar ist auch, dass Teile der Hamburger KPD auf eigene Faust losschlugen. Am 23. Oktober begann ein Sturm auf Polizeireviere, um Waffen zu erbeuten. Bei den Kämpfen, die zwei Tage dauerten, gab es 24 Todesopfer unter den kommunistischen Kämpfern, 17 bei der Polizei und 61 andere.Durch Notverordnungen nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung wurde die sächsische Regierung abgesetzt. Schon vorher war im Auftrag Eberts Reichswehr einmarschiert. In Thüringen trat die Regierung zurück. Die KPD war einige Monate verboten. Am 15. November 1923 schließlich folgte ein Währungsschnitt. Eine Mark des neuen Geldes entsprach einer Billion des inflationierten alten. Dies war eine Art Rückkehr zum 1914 aufgehobenen Goldstandard, jetzt hinterlegt mit einer Grundschuld auf vier Prozent des Vermögens von Industrie, anderen Gewerbezweigen und der Landwirtschaft („Rentenmark“).In der Frage der Reparationen ermöglichten die USA eine zeitweilige Entspannung. Bei einem vollständigen wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands befürchteten sie ein Vordringen des Bolschewismus sowie eine Zahlungsunfähigkeit Frankreichs und Großbritanniens. Beide Staaten waren bei den USA seit deren umfangreichen Waffenlieferungen während des Ersten Weltkriegs verschuldet. Nun wurden die Raten für die Reparationszahlungen nach Maßgabe der ökonomischen Lage Deutschlands gestreckt. Aufgrund des Dawes-Plans (benannt nach einem US-Bankier, der ihn entwarf) erhielt Deutschland Anleihen und wurde wieder kreditfähig. Es begannen die „Goldenen Zwanziger“ nicht nur in der Kulturszene. Kommunen konnten nun Kredite, auch in den USA, aufnehmen und in ihre Infrastruktur investieren.Heute wird zuweilen behauptet, das Ende der Krise habe die Selbstbehauptungsfähigkeit der Weimarer Republik bewiesen, auch dank des Handelns von Gustav Stresemann und Friedrich Ebert, Letzterer ein Verteidiger der Demokratie gegen Extremismus von rechts und links. Hieran sind Zweifel angebracht. Während die Arbeiterregierungen in Thüringen und Sachsen Opfer des Ausnahmezustands wurden, konnte sich die NSDAP nach Aufhebung ihres Verbots in Bayern – der „Ordnungszelle des Reichs“ – bis zu ihrem rasanten Aufstieg ab 1930 gesichert festsetzen.Mit dem Ende des Ruhrkampfs leitete Stresemann zwar eine Verständigungspolitik gegenüber dem Westen ein, nicht aber im Osten. Hier war eine Flanke für die Hauptrichtung von Hitlers späterer Strategie offen. Die neue Währung allerdings blieb hart. Darüber wachten Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und der US-Amerikaner Seymour Parker Gilbert, der in Berlin residierende „Generalagent für Reparationszahlungen“. Dieses Amt war mit dem Dawes-Plan geschaffen worden.Als in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 die Vereinigten Staaten ihre Kredite zurückzogen, waren die „Goldenen Zwanziger“ vorbei. Der Sparkurs des Kanzlers Heinrich Brüning setzte ab 1930 fort, was unter dem Primat der Geldwert-Stabilität nach der Inflation begonnen worden war. So wurde die multiple Krise von 1923 letztlich nicht behoben, sondern lediglich für ein paar Jahre suspendiert.