1939: Ausnahmedeutscher

Zeitgeschichte Im Münchner Bürgerbräukeller entgeht Hitler nur knapp einem Attentat. Der Täter Georg Elser handelt aus Überzeugung allein, was für die Gestapo undenkbar erscheint
Ausgabe 43/2019

Bis zu seinem Attentat auf Adolf Hitler am 8. November 1939 war Georg Elser ein völlig Unbekannter. Aber auch nach 1945 blieb er mehr als zwei Jahrzehnte im toten Winkel der deutschen Gedenkkultur. Das meiste, das wir über ihn wissen, enthält das Protokoll seiner fünftägigen Verhöre durch die Gestapo.

Johann Georg Elser wurde am 4. Januar 1903 in Hermaringen bei Heidenheim (Württemberg) geboren. Ein Jahr später ist er vom Ehemann seiner Mutter, einem Landwirt und kleinen Holzhändler mit Pferdefuhrwerk, adoptiert worden und erhielt dessen Nachnamen. Seine Kindheit verbrachte er in der Ortschaft Königsbronn. Eine Dreherlehre musste er aus Gesundheitsgründen abbrechen, seine Gesellenprüfung als Schreiner legte er als Jahrgangsbester ab. Danach arbeitete er in seinem Beruf in Betrieben, die er häufig wechselte, weil sie zahlungsunfähig waren, anderweitig in Schwierigkeiten gerieten oder er mehr Lohn wollte. 1925 bis 1932 war Elser in Konstanz und Meersburg in einer Uhrenfabrik mit der Herstellung von Gehäusen beschäftigt. Zwischenzeitlich arbeitete er 1930 kurz in einer Schreinerei in der Schweiz. Nachdem der Uhrenbetrieb aufgeben musste, fand Georg Elser zunächst nur noch Beschäftigungen für Kost und Logis oder wurde arbeitslos.

1932 kehrte er schließlich nach Königsbronn zurück. Dort arbeitete er in der elterlichen Landwirtschaft und verkaufte in eigener Werkstatt hergestellte Möbel. Die Firma des Adoptivvaters ging nieder, teilweise wohl wegen dessen Trunksucht. Die Mutter kümmerte sich um die Landwirtschaft. Zwischen 1936 und 1939 arbeitete Georg Elser in einer Armaturenfabrik in Heidenheim. Bis dahin war es im Großen und Ganzen die Normalbiografie eines Handwerksgesellen aus ländlicher Umgebung in Zeiten der Krise und der beginnenden Hitler-Zeit. An eine Familiengründung war nicht zu denken. Für ein uneheliches Kind zahlte er Unterhalt, geriet aber wegen seiner Mittellosigkeit in Rückstände. 1928 oder 1929 war Georg Elser dem Rotfrontkämpferbund (RFB) beigetreten, einer Vorfeldorganisation der KPD, der er bei Wahlen auch seine Stimme gab. Im späteren Verhör begründete er das damit, dass diese für ihn die Interessenvertreterin der Arbeiter gewesen sei. Er habe sich aber nicht darüber hinaus politisch betätigt, auch keine Uniform und Waffen getragen.

Im September 1938, wohl während der Krise um die Tschechoslowakei, endgültig nach dem Münchner Abkommen vom Ende dieses Monats, kam er zu der Überzeugung, dass Adolf Hitler einen neuen Krieg wolle. Er beschloss, ihn zu töten. Als weiteren Grund führte er später im Verhör die Verschlechterung der Lage der Arbeiterschaft seit 1933 an. Diese belegte er anhand seiner eigenen Stundenlöhne und der Tatsache, dass die freie Wahl des Arbeitsplatzes eingeschränkt worden sei. Weiter führte er an, die Religionsfreiheit sei durch Begünstigung der „Deutschen Christen“ bedroht, nannte dies aber nicht als Anlass für sein Attentat.

Elser wollte den Umstand nutzen, dass Hitler jedes Jahr am 8. November im Münchner Bürgerbräukeller, wo er 1923 seinen Putsch ausgerufen hatte, eine Rede hielt. Er wurde dabei von der engsten Führung der NSDAP begleitet. Georg Elser hatte vor, diese zusammen mit ihm umbringen, um so den drohenden Krieg zu verhindern. Tatmittel sollte eine Zeitbombe sein. Auf dieses Ziel richtete Elser nun sein gesamtes Leben in den folgenden 13 Monaten aus. Aus der Armaturenfabrik, in der er beschäftigt war, stahl er Pulver. Danach suchte und fand er Arbeit in einem Steinbruch und beschaffte sich dort Dynamit sowie Sprengkapseln. Anfang August 1939 zog er nach München und lebte von den kleinen Ersparnissen, die er sich mittlerweile zurückgelegt hatte. Jeden Abend ging er in den Bürgerbräukeller, aß etwas und versteckte sich in einer Besenkammer, die er erst wieder verließ, nachdem das Lokal abgeschlossen war. Hitler pflegte seine Reden am 8. November an einem Pult zu halten, hinter dem sich eine Säule befand. Elser höhlte diese in den Nächten aus, verdeckte die Öffnung mit einer Holzverkleidung und beseitigte den entstehenden Schutt am nächsten Morgen. Damit der Lärm, der bei seiner Tätigkeit entstand, nicht bemerkt wurde, konnte er nur arbeiten, wenn periodisch die automatische Toilettenspülung ansprang. Für die Präparierung der Säule benötigte er mehr als 30 Nächte. Anfang November platzierte er dort eine von ihm gebaute Zeitbombe. Um ganz sicher zu gehen, kam er in der Nacht vom 7. auf den 8. November noch einmal zurück und legte das Ohr an die Verschalung, um das Ticken zu hören.

Danach fuhr er nach Konstanz. Er wollte in die Schweiz. Im Unterschied zu seiner peniblen Vorbereitung des Anschlags war er dabei unvorsichtig und wurde um 20.45 Uhr vom Zollgrenzschutz festgenommen. 35 Minuten später, wie vorgesehen um 21.20 Uhr, explodierte in München die Bombe. Da hatte Hitler mit seinem Gefolge den Bürgerbräukeller schon verlassen. Wegen Nebels konnte er sein Flugzeug nach Berlin nicht nehmen, musste einen Sonderzug benutzen, kürzte seine Rede und ging. Acht Menschen wurden bei der Explosion getötet. Es gab 63 Verletzte.

In Konstanz wurden bei einer Leibesvisitation Elsers eine Ansichtskarte des Bürgerbräukellers, ein Stück Zünder und unter dem Rockaufschlag eine Anstecknadel des Rotfrontkämpferbundes gefunden. Der Zoll übergab ihn der Gestapo, von dort kam er nach München und schließlich nach Berlin. Er wurde gefoltert und gab die Tat zu. Ein Indiz waren Schwellungen an seinen Knien, die dadurch entstanden waren, dass er sich bei der Arbeit an der Säule wochenlang auf dem Boden bewegen musste.

Im Verhör vom 19. bis zum 23. November 1939 sagte Elser detailliert über sich aus, nicht aber über andere. Die Vernehmer fragten ihn nach selbst den geringsten Alltagskontakten aus, die er hatte, ohne dass sie etwas Relevantes erfuhren. Die offizielle Propaganda verbreitete, Elser habe im Auftrag des britischen Geheimdienstes gehandelt. Weder das Verhör noch die weiteren Ermittlungen ergaben hierfür irgendeinen Anhalt.

Eine Gerichtsverhandlung fand nicht statt. Elser kam 1941 in das KZ Sachsenhausen, dann nach Dachau. Dort wurde er am 9. April 1945 durch einen Genickschuss ermordet. Im November 1939 waren auch seine Mutter, sein Adoptivvater, eine Schwester und deren Ehemann verhaftet worden, sein elfjähriger Neffe kam in ein Waisenhaus. Unter Hitler-Gegnern wurde vermutet, das Attentat sei von der NS-Führung organisiert und Georg Elser dabei ihr Werkzeug gewesen. Zweifel an dieser Version und an der Behauptung einer Verbindung zum britischen Geheimdienst wurden erst Ende der 1950er Jahre mit etwas größerer öffentlicher Wirkung vorgetragen. Als 1964 das Verhörprotokoll vom November 1939 gefunden wurde, war die Einzeltäter-These bestätigt. 1969 nahm ein verfilmtes Dokudrama dieses Dokument zur Vorlage.

Das offizielle Schweigen über Georg Elser dauerte aber an. Nachdem ihn Helmut Kohl 1983 in einer Rede zum 20. Juli 1944 würdigend erwähnt hatte, setzte ein Prozess ein, in dem der lange verschwiegene oder verdächtigte und verleumdete Widerstandskämpfer in die schüttere Reihe der vorbildlichen Ausnahmedeutschen aufgenommen wurde, wie Oskar Schindler. Inzwischen sind viele Straßen, Plätze und Schulen nach Elser benannt. 2003 gab die Post eine Briefmarke mit seinem Porträt heraus.

Seine Familie war traumatisiert. Fünzig Jahre lang wagten es seine Verwandten nicht, öffentlich über ihn zu reden. Erst 1989 brach sein Neffe das Schweigen. Heute bekennt sich auch Heidenheim zu Georg Elser. Immerhin schon 1972 hatte die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) erreicht, dass ihm dort ein Denkmal gesetzt wurde. Einige Ortskundige mutmaßen allerdings, dass Generalfeldmarschall Erwin Rommel – der „Wüstenfuchs“ – in dieser Stadt, in der er geboren wurde, von vielen immer noch mehr verehrt werde als Georg Elser.

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