Konrad Adenauer führte 1961 seinen letzten Wahlkampf. Nach gängiger Lesart kostete ihn der Mauerbau am 13. August desselben Jahres die absolute Mehrheit, die er 1957 gewonnen hatte. Denkbar ist aber, dass dies Ereignis nur eine Entwicklung beschleunigte, die lange vorher eingesetzt hatte. Der Kanzler war 1957, im Jahr seines größten Wahltriumphs, 81 Jahre alt. In der Union begannen Spekulationen über die Nachfolge. Seine Versuche, den informellen Kronprinzen Ludwig Erhard zu demontieren, nahmen 1959 groteske Züge an: Er hatte Kanzlerkandidaten aus der zweiten Reihe ins Spiel gebracht, war bereit, auf den Posten des Bundespräsidenten abgeschoben zu werden, und wollte die Befugnisse des Staatsoberhaupts so dehnen, dass er einem neuen Regierungschef ins Handwerk hätte pfuschen können. Das machte ihn fast schon lächerlich. Adenauer blieb Kanzler, aber die Griffe saßen nicht mehr.
Das war Oberfläche. Schlimmer war, dass die Grundlagen für Adenauers bisherige Außen- und Deutschlandpolitik zu bröckeln begannen. Der sowjetische Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow hatte 1958 angekündigt, die UdSSR werde ihre aus dem Potsdamer Abkommen resultierenden Rechte in Berlin an die DDR übertragen. Für die Westsektoren bliebe dann allenfalls der Status einer entmilitarisierten „Freien Stadt“, aus der sich die drei anderen Besatzungsmächte zurückzuziehen hätten. Damit testete Chruschtschow die Entschlossenheit des Westens, die von Adenauer vertretene Position – keinerlei Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik – zu unterstützen. Die britische Regierung zeigte sich daraufhin verhandlungsbereit. Zum Entsetzen Adenauers rückte die Möglichkeit näher, dass sich die Verbündeten auf eine faktische Duldung der DDR einließen und seine „Politik der Stärke“ – die Wiedervereinigung müsse durch militärische Überlegenheit erzwungen werden – nicht länger mittrugen. Voraussetzung dieser Haltung war das circa 1957 eingetretene atomare Patt. Es konnte einen Krieg um Berlin in wechselseitiger Vernichtung enden lassen. Unverkennbar öffnete sich eine Kluft zwischen Adenauers Doktrin und einer veränderten Wirklichkeit.
In der veröffentlichten Meinung der Bundesrepublik – darunter Rudolf Augstein mit seinem einflussreichen Spiegel – war dieses Problem sofort zur Sprache gebracht worden. Auch von den öffentlich-rechtlichen Medien sah sich Adenauer angegriffen. Daraus resultierte sein zweiter Fehlgriff: der Versuch, ein regierungstreues Bundes-Fernsehen zu etablieren. Er endete mit einer Niederlage: Das Bundesverfassungsgericht untersagte am 28. Februar 1961 derartige Pläne. Die Ministerpräsidenten, auch aus der CDU, setzten stattdessen das von den Ländern getragene Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) durch. Nichts ging mehr so recht.
Die SPD schnupperte Morgenluft. Man begann von einem „Genossen Trend“ zu sprechen, der ihr zuarbeite. In ihrem Godesberger Programm von 1959 bekannte sich die Partei nicht nur zur Marktwirtschaft, sondern auch zur „Landesverteidigung“. Wohin das führen könne, erläuterte Herbert Wehner am 30. Juni 1960 im Bundestag: Seine Partei stehe zur NATO. CDU-Außenminister Gerhard Schröder war alarmiert. Bisher galt: Nur diejenige Partei konnte den Kanzler stellen, die auf der außenpolitischen Linie der USA lag. Solange der SPD Neutralismus nachgesagt werden konnte, hatte sie keine Chance. Jetzt begab sie sich auf dieselbe strategische Plattform wie die Union und konkurrierte dort mit ihr.
Fehlte noch ein eindrucksvoller Repräsentant dieser Wende. Das Chruschtschow-Ultimatum von 1958 hatte Westberlin bundes- und weltweit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Für die Regierenden Bürgermeister der Westsektoren galt wie für den Kanzler: Sie mussten ihrer Abhängigkeit von den USA glaubwürdig Rechnung tragen. So war es bei Ernst Reuter, seinem Nachfolger Otto Suhr und nun bei Willy Brandt. In der Krise wurde er zu einer nationalen und weltpolitischen Figur. Er gehörte zum Reformflügel der SPD und wurde innerparteilich als Mann der USA betrachtet. Die Springer-Presse hatte in den 1950er Jahren seinen Aufstieg in Westberlin gefördert. Am 22. November 1960 rief ihn ein Sonderparteitag der SPD einstimmig zum Kanzlerkandidaten aus. Sein Wahlkampfmanager wurde der junge Politologe Klaus Schütz. Dieser hatte die Präsidentschaftskampagnen in den USA verfolgt und versuchte, sie zu kopieren. Gegen den finsteren Republikaner Richard Nixon wurden 1960 John F. Kennedy als Kandidat der Demokraten und seine Frau Jacqueline (Jacky) als Dream-Team aufgebaut. Schütz antwortete mit Rut und Willy Brandt als Kontrast zum greisen Witwer Adenauer. Im November 1960 gewann Kennedy die Präsidentschaft und kündigte bei seinem Amtsantritt im Januar 1961 eine außenpolitische Inventur an. Die Konfrontation in Mitteleuropa war zu gefährlich geworden. Es war auf absehbare Zeit unmöglich, die Sowjetunion dort mit der Androhung militärischer Gewalt zurückzudrängen. Im Klartext: Adenauers Politik war gescheitert. Am 13. März 1961 wurde Brandt von Kennedy im Weißen Haus empfangen. Erst für den 12. April bekam Adenauer seinen Termin.
Auf einem außerordentlichen Parteitag stellte Brandt am 28. April 1961 in Bonn das Wahlprogramm der SPD vor. Es enthielt unter anderem eine innenpolitische Reformagenda und benannte „Gemeinschaftsaufgaben“, die in Angriff zu nehmen seien. Hierzu gehörten die Förderung von Wissenschaft und Forschung sowie des „geistigen Nachwuchses“, Raumordnung und Städtebau, Umweltschutz. Brandt forderte: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ Über diesen Satz wurde gespottet, er galt als utopisch. Überhaupt sei viel zu viel von übermorgen die Rede.
Diese Schwäche konnte aber, was man damals noch nicht wusste, in der Zukunft zur Stärke werden. Wenige Jahre später wurde der Hinweis auf die Notwendigkeit von Gemeinschaftsaufgaben und einer Erneuerung der Infrastruktur sowie die Forderung von Bildungsreformen zum Erkennungszeichen einer Strömung links von der Mitte. Hier bahnte sich ein Wandel der politischen Kultur an.
Im Frühjahr setzte sich eine massenhafte Übersiedlungsbewegung aus der DDR fort, woran man im Westen seit Langem gewöhnt war. Es war anzunehmen, dass die DDR irgendwann daran zugrunde gehen musste, klar war aber auch, dass die Sowjetunion sie nicht aufgeben würde. Ein daraus resultierender militärischer Konflikt konnte zur atomaren Katastrophe werden. Seit Mitte der 1950er Jahre schon wuchs in Deutschland die Angst vor einer solchen Eskalation. Albert Schweitzers „Appell an die Menschheit“ gegen Kernwaffenversuche, der am 23. April 1957 weltweit per Rundfunk verbreitet worden war, hatte große Wirkung auf die Öffentlichkeit gehabt. Im selben Jahr war das Buch Die Atombombe und die Zukunft des Menschen von Karl Jaspers erschienen. Es spiegelte den damaligen Zeitgeist: Einer angeblichen Bedrohung der Freiheit sei mit atomarer Aufrüstung zu begegnen, auch um den Preis potenzieller Selbstvernichtung. Die CDU hatte damals im Wahlkampf plakatiert: „Keine Experimente!“ – wenn alles so bleibe, wie es war, könne nichts passieren. Damals hatte sie hiermit noch Erfolg gehabt. 1961 aber, als der drohende Kollaps der DDR Kriegsgefahr nach sich ziehen konnte, breitete sich die Ahnung aus, dass ein starres Festhalten am Hergebrachten das größte und gefährlichste Experiment sein könne. Adenauer schien zum Risiko geworden zu sein. Viele Erstwähler von 1961 hatten als Kinder in Luftschutzkellern bombardierter Städte gesessen, und nicht wenigen von ihnen steckte die Erinnerung daran in den Nerven. Konrad Adenauer gewann im September noch einmal die Wahl (die Union kam auf 45,3; die SPD auf 36,2 Prozent), verlor aber die absolute Mehrheit und war erkennbar angezählt. Im Frühjahr 1961 hatte sich der Wind schon zu drehen begonnen.
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