Planungen für eine rechtliche Ordnung des Ausnahmezustandes hatten bereits 1955 begonnen: Die Bundesrepublik war Mitglied der NATO geworden, und die westlichen Besatzungsmächte entließen sie in die Souveränität. Diese war insofern noch unvollständig, als die USA, Großbritannien und Frankreich sich weiterhin Vorbehaltsrechte für den Ausnahmezustand sicherten. Befürworter einer eigenen deutschen Notstandsgesetzgebung begründeten diese als ein Erfordernis, um sich vollständig von Fremdbestimmung zu emanzipieren.
Aber das war eher eine Formalie – wenn nicht sogar nur ein Vorwand – im Vergleich zum außenpolitischen und militärischen Kontext. Die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik erfolgte im Rahmen der Rollback-Strategie: Zurückdrängen der sowjetischen Einflusssphäre durch Aufbau eines überlegenen Gewaltpotenzials. Eine kriegerische Eskalation konnte nicht ausgeschlossen werden. Vorsorge für den dann eintretenden Ausnahmezustand gehörte also zur Aufrüstung in der riskantesten Phase der Block-Konfrontation. Am 30. Oktober 1958 unternahm Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) in einer Rede auf dem Delegiertenkongress der Polizeigewerkschaft erstmals einen Vorstoß zu Regelungen für „Krieg und inneren Notstand“. Im Januar 1960 legte er einen Entwurf vor. Ein neuer Artikel 115a des Grundgesetzes sollte bestimmen, dass zur „Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder für die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“ der Bundestag den Ausnahmezustand ausrufen könne. War er nicht in der Lage, einen solchen Beschluss rechtzeitig zu fassen, ging diese Befugnis auf den Bundespräsidenten „mit Gegenzeichnung des Bundeskanzlers“ über.
Wie im Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung waren Notverordnungen („gesetzesvertretende Verordnungen“) und Einschränkungen von Grundrechten sowie freiheitsentziehende Maßnahmen vorgesehen. Der 6. Gewerkschaftstag der IG Metall forderte im Oktober 1960 die Bundestagsparteien auf, den Entwurf zurückzuweisen, und wies besonders auf die vorgesehene Aufhebung des Koalitionsrechts und die beabsichtigte Einführung einer „Notdienstpflicht“ hin. Erheblich später und vorsichtiger äußerten sich 1962 die oppositionellen Sozialdemokraten. Sie lehnten Ausnahmegesetze nicht grundsätzlich ab, verlangten aber Unterscheidung zwischen „innerem Notstandsfall, drohendem Verteidigungsfall (Spannungszeit) und äußerem Notstand“. Die Rechte von Gewerkschaften, Ländern und Bundesverfassungsgericht sowie die „Verantwortlichkeit des Parlaments“ sollten gewahrt sein. Ein im Oktober 1962 vom neuen Innenminister Hermann Höcherl (CSU) vorgelegter Entwurf enthielt einige Zugeständnisse, darunter die Einschaltung eines aus Vertretern des Bundestages und Bundesrates gebildeten Notstandsausschusses.
Pech für die Planer einer Ausnahmegesetzgebung war die gleichzeitig ausbrechende „Spiegel-Krise“: Das polizeiliche Vorgehen gegen das Hamburger Nachrichtenmagazin auf Betreiben des Verteidigungsministers Franz Josef Strauß bestätigte Vorbehalte gegen weitere Machtbefugnisse der Exekutive. In einem „Manifest der Gruppe 47“ protestierten 49 Schriftsteller und andere Künstler – der Auftakt für eine zeitweilige Linksentwicklung der Intelligenz. Anders als sie stellte Anfang 1963 eine „Erklärung zum Entwurf einer Notstandsverfassung“, unterzeichnet unter anderem von Wolfgang Abendroth, Helmut Gollwitzer, Martin Niemöller und dem Gießener Verfassungssrechtler Helmut Ridder, explizit den Zusammenhang zwischen „Spiegel-Krise“ und der geplanten Ausnahmegesetzgebung her.
„Notstand der Demokratie“
1965 scheiterte der von CDU/CSU und FDP vorgelegte Entwurf einer Notstandsverfassung am Nein der SPD: Die für eine Grundgesetzänderung notwendige Zweidritteilmehrheit war ohne deren Regierungsbeteiligung nicht zu haben. Dass die sozialdemokratische Führung bereit war, hierfür der Union entgegenzukommen, zeigte sich in der Abstimmung über sieben sogenannte „Einfache Notstandsgesetze“. Sie betrafen vornehmlich Zivilschutzmaßnahmen. Ihre Bezeichnung trugen sie deshalb, weil sie nach einhelliger Meinung von Regierung und parlamentarischer Opposition nicht verfassungsändernd waren, also keiner Zweidrittelmehrheit bedurften. Obwohl die SPD für die Verabschiedung gar nicht gebraucht wurde, stimmte sie zu. Nur sieben beziehungsweise zwölf ihrer Abgeordneten votierten gegen zwei dieser Gesetze. Angesichts solcher Anpassungstendenz wuchs die außerparlamentarische Bewegung gegen die Versuche, das Grundgesetz zu ändern. 267 Professoren forderten im Herbst 1965 die Gewerkschaften auf, Einfluss auf diejenigen ihrer Mitglieder zu nehmen, die Bundestagsabgeordnete waren. An einem Kongress und einer Demonstration in Frankfurt/Main im Oktober 1966 gegen die Pläne der Regierung nahmen 20.000 Menschen teil. Ein Kuratorium „Notstand der Demokratie“ wurde von der IG Metall mitgetragen.
Mit dem Eintritt der SPD in eine Große Koalition mit CDU und CSU im Dezember 1966 verbesserten sich die Chancen für eine Ausnahmegesetzgebung. Diese war – neben einer vorsichtigen Modifikation der Ostpolitik und dem Bewältigen der im Herbst dieses Jahres ausgebrochenen Rezession – eines der drei Projekte der neuen Regierung. Im Bundestag wandte sich jetzt zwar die in die Opposition gedrängte FDP gegen die Notstandsgesetze, aber eine Zweidrittelmehrheit dafür war durch die Koalitionsbildung angebahnt.
Zugleich schwoll die außerparlamentarische Agitation an. Seit der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 war der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) zu einem Massenverband an den Universitäten geworden, mit hegemonialem Einfluss auf andere Gruppen und Unorganisierte. Der SDS war Teil der Opposition gegen die Verfassungsänderung. Unter einem „Manifest der Hochschulen gegen die Notstandsgesetze“ vom Oktober 1967 standen 50.000 Unterschriften. Am Sternmarsch vom 11. Mai 1968 beteiligten sich rund 30.000 Mitglieder der Außerparlamentarischen Opposition. (Der Polizeibericht meldete 20.000 bis 22.000 Demonstranten, die Veranstaltungsleitung 70.000.) Getrennt davon versammelte der DGB am selben Tag in Dortmund 15.000 Personen zum Protest.
Die Notstandsverfassung wurde am 30. Juni 1968 im Bundestag mit 384 Ja-, 100 Nein-Stimmen und einer Enthaltung beschlossen. Dagegen votierten die FDP (mit zwei Ausnahmen), ein Abgeordneter von CDU/CSU und 53 der SPD. Als Entgegenkommen an die Gewerkschaften und Opposition galt in den Artikeln 9 und 20 der geänderten Verfassung die Garantie des Streikrechts auch unter Ausnahmerecht und generell eines Rechts auf Widerstand gegen die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung.
Dass es ein Jahrzehnt gedauert hatte, bis die Notstandsverfassung verabschiedet wurde, war ein Erfolg der Opposition. Inzwischen hatte die Ost-West-Entspannung begonnen. Die Grundgesetzänderung stand nicht mehr in unmittelbarem Zusammenhang mit der Vorbereitung auf einen etwaigen akuten kriegerischen Konflikt. Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze endete die Phase der studentischen Massenmobilisierung. Zwei Wochen darauf begannen die Semesterferien, der Winter war bestimmt von Depression und sektiererischer Zersplitterung.
Das Kalkül der SPD ging auf. Mit ihrer Zustimmung zu den Notstandsgesetzen hatte sie die Eintrittskarte für ihre Regierungsbeteiligung bezahlt. Ab sofort machte sie Oppositions-Wahlkampf innerhalb der Großen Koalition: für eine Frontbegradigung im Verhältnis zum Osten und innere Reformen. Als die Partei nach der Bundestagswahl 1969 mit der FDP eine Koalition unter Willy Brandt bildete, konnte sie einen Teil der ehemaligen Außerparlamentarischen Opposition zu sich herüberziehen. Mit deren Unterstützung kam es für ein knappes Jahrzehnt zu einer Art Linkstrend in Bund und Ländern.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.