Längst überfällig

1982 SPD-Kanzler Helmut Schmidt wird durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt. Die FDP will ihre sozialliberale Episode beenden und endlich wieder die Seiten wechseln

Artikel 67 des Grundgesetzes handelt vom sogenannten konstruktiven Misstrauensvotum und entwirft die Dramaturgie einer Haupt- und Staatsaktion: Ein Kanzler wird gestürzt, ein neuer gewählt. Der erste (missglückte) Versuch 1972 hinterließ einen strahlenden Kanzler Willy Brandt und einen fassungslosen CDU-Herausforderer Rainer Barzel sowie einige Schurken, deren Spuren ein Untersuchungsausschuss verfolgte.

Am 1. Oktober 1982 klappte es dann: Helmut Schmidt wurde nach einem konstruktiven Misstrauensvotum von Union und FDP durch Helmut Kohl abgelöst. Der hatte mit dem Versprechen für sich geworben, jetzt müsse eine „geistig-moralische Wende“ herbeigeführt werden. Die SPD bezeichnete den Regierungswechsel als zwar legal, aber politisch illegitim. Solche Überlegungen waren für den damaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler ein „Anschlag auf unsere Verfassung“. In den folgenden Wochen führte die SPD den Sturz ihres Kanzlers auf einen „Verrat des Hallensers“ (Hans-Dietrich Genscher) zurück.

In beiden Fällen wurde das Ergebnis der – 1972 gescheiterten, 1982 erfolgreichen – Abstimmung durch vorgezogene Bundestagswahlen bestätigt und gleichsam zusätzlich legitimiert. Der Kanzler-Wechsel Schmidt/Kohl war die fast schon logische Konsequenz eines längeren Prozesses. Die Erosion der sozial- und wirtschaftspolitischen Geschäftsgrundlage für die 1969 geschlossene sozialliberale Koalition hatte (zunächst unbemerkt) bereits am 11. März 1973 begonnen, als die festen Wechselkurse des internationalen Währungssystems aufgehoben worden waren. Kapital entzog sich zunehmend der Arbeit und sollte stattdessen an den Börsen vermehrt werden. Die Geldmengenpolitik der Bundesbank drückte auf Beschäftigung und Staatshaushalte. Es begann die Phase eines vom Finanzmarkt getriebenen Kapitalismus. 1976 bahnte sich eine Tendenz zur Stagnation der Reallöhne an. Schmidt, der 1974 Brandt als Kanzler nachgefolgt war, versuchte sich den marktradikalen Tendenzen entgegenzustemmen, unter anderem mit einem Zukunftsinvestitionsprogramm, durch das bis 1980 300.000 Arbeitsplätze geschaffen wurden. Aber das internationale Umfeld veränderte sich weiter. 1979 begann der Thatcherismus, 1981 setzten die Reaganomics ein. Unter dem Druck der FDP ging Schmidt schließlich zu einem Sparkurs über und strapazierte die Loyalität der Gewerkschaften. Für den Herbst 1982 kündigten sie Protestaktionen an. In diesem Jahr erreichte die Arbeitslosigkeit mit 7,5 Prozent den höchsten Stand seit 1954.

Scheinpazifischtischer Konsens

Der moralische Kredit der SPD war durch den sogenannten Radikalenerlass, mit dem 1972 Kanzler Brandt und die Ministerpräsidenten angeblichen Verfassungsfeinden den Zugang zum Öffentlichen Dienst blockiert („Berufsverbote“) und eine sich ausdehnende Schnüffelpraxis des Verfassungsschutzes ausgelöst hatten, schon früher in Frage gestellt. Hier begann die Entfremdung der kritischen Intelligenz, die sich den Sozialdemokraten seit der Spiegel-Krise von 1962 angenähert hatte. Allerdings wurde die erste Distanzierung durch den gemeinsamen Kampf für die neue Ostpolitik zunächst noch verdeckt.

1973 beschloss die SPD auf ihrem Parteitag in Hannover, dass innere Reformen – so weit sie nicht (was man bevorzugte) kostenneutral waren – statt durch Umverteilung durch Wachstum finanziert werden sollten. Nach der ersten Ölkrise vom Herbst 1973 und mit dem Ausbau der Atomindustrie geriet diese Orientierung in Widerspruch zu den Postulaten einer entstehenden Umweltbewegung. Mit dem Einzug einer Grünen Liste in die Bremer Bürgerschaft 1979 und dem Aufstieg der neuen Partei erlosch allmählich das parlamentarische Monopol der Sozialdemokratie links von der Union.

Bis Mitte der siebziger Jahre hatte auf dieser Seite des politischen Spektrums ein scheinpazifistischer Konsens bestanden. Er wurde von Schmidt 1977 aufgekündigt: Vor dem Institut für Strategische Studien in London legte er die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen in Westeuropa nahe. Als dies 1979 von der NATO tatsächlich beschlossen wurde, geriet die SPD in eine Zerreißprobe. Um die Partei zusammenzuhalten, distanzierte sich Brandt teilweise vom Kanzler.

Auflösung der bisherigen Hegemonie

Die Grundtendenz einer Auflösung der bisherigen sozialliberalen Hegemonie wurde kurzfristig immer wieder einmal tagespolitisch überlagert. Als die Union Franz Josef Strauß zu ihrem Kanzlerkandidaten bei der Bundestagswahl 1980 machte, versammelten sich Zweifler an Schmidts Kurs, die das aus ihrer Sicht größere Übel vermeiden wollten, trotz allem hinter der Regierung. Wie so oft war der FDP das parlamentarische Aus prophezeit worden. Um sie zu retten und Strauß zu verhindern, bekam sie Leihstimmen zu Lasten der Grünen und der SPD. Letztere wurde dadurch geschwächt und von den Freien Demokraten noch abhängiger als zuvor. (Bereits bei der Wahl 1976 hatte die leichte Verschiebung zwischen beiden Parteien eingesetzt.) Die Gemeinsamkeit zwischen SPD und FDP hatte in der Ostpolitik und ein paar rechtspolitischen Reformen bestanden. Seit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975, dem neuen Ehe- und Familienrecht und dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 war diese Agenda abgearbeitet. Bei den Liberalen gewannen Kräfte an Einfluss, die sich aus der Bindung an die SPD lösen wollten.

Unter dem Druck der größten Friedensbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik und angesichts des wachsenden Unbehagens in den Gewerkschaften hatte Schmidt immer größere Schwierigkeiten, die eigene Partei auf seinem Kurs zu halten. Als er Anfang Februar 1982 im Bundestag seinerseits die Vertrauensfrage stellte, setzte er sich zwar noch einmal durch, doch das hielt jetzt nur noch knapp acht Monate.

Schließlich wurde gestoßen, was längst wankte. Am 7. September 1982 forderte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), staatliche Beschäftigungsprogramme zu beenden, auf verkürzte Arbeitszeiten zu verzichten, die direkten Steuern zu senken und die Verbrauchssteuern zu erhöhen. Die FDP hatte ihre sozialliberale Episode mittlerweile endgültig beendet. Am 9. September legte ihr Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff ein von dem späteren Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer entworfenes Papier vor, das – wie der BDI-Text – Kürzung des Arbeitslosengeldes, Umverteilung in den Etats zu Lasten der sozial Schwachen, Verzicht auf staatliche Ausgabenprogramme zur Beschäftigungsförderung und in der Konsequenz ebenfalls eine Senkung der Reallöhne verlangte. Schmidt trat die Flucht nach vorn an: In einer Bundestagsrede konstatierte er den inzwischen eingetretenen Bruch und forderte die Opposition zum konstruktiven Misstrauensvotum auf. Die FDP-Minister traten zurück. Schmidt bildete ein sozialdemokratisches Minderheitskabinett. Das Misstrauensvotum vom 1. Oktober ratifizierte nur noch Entscheidungen, die längst gefallen waren.

Während seiner 16 Kanzlerjahre schwieg sich Kohl beharrlich darüber aus, worin denn nun die von ihm ausgerufene „geistig-moralische Wende“ bestehen sollte. Auch die von Lambsdorff propagierte ökonomische Kehre vollzog sich nur langsam. Zwar wurde 1986 die Streikfähigkeit der Gewerkschaften durch eine Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes beschnitten. In der Folgezeit aber zog sich Kohl durch Zögerlichkeit den Ärger der Marktradikalen zu. 1989 sollte er offenbar gestürzt werden – und fand sich durch den Umschwung in Mittel- und Osteuropa gerettet. Erst mit der von Schröder 2003 verkündeten Agenda 2010 kam das marktliberale Programm seinen Zielen näher. Ohne den 9. November 1989 und den Fall der Mauer hätte der 1. Oktober 1982 nicht dasselbe historische Gewicht gehabt.

Georg Fülberth schrieb zuletzt über das Elbe-Hochwasser im Sommer 2002

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