Mit dem 3. Oktober 1990 wurde Berlin deutsche Hauptstadt. So stand es im Einigungsvertrag zwischen beiden deutschen Staaten vom 31. August des gleichen Jahres, was notgedrungen die Frage aufwarf: Wie wird mit Bonn verfahren? Seit 1949 war dort der Sitz des Bundespräsidenten, des Bundestages, des Bundesrates, sämtlicher Ministerien und der ausländischen Botschaften. Hier hatten sich auch die Lobbyisten eingefunden. Für sie alle war eine umfangreiche Infrastruktur geschaffen worden. Ein Umzug nach Berlin musste Kosten in Milliardenhöhe verursachen. Die Beamten und ihre Familien waren nicht begeistert von einem Ortswechsel. Hinzu kamen die kommunalen Interessen der Stadt Bonn und die regionalen des Landes Nordrhein-Westfalen. Damit entfalteten sich materielle Beharrungskräfte, außerdem wurden national- und außenpolitische Erwägungen angestellt.
Bis ins Jahr 1990 hinein gab es Bedenken gegen die Wiedervereinigung auch unter den Verbündeten der Bundesrepublik, am stärksten zuletzt in Großbritannien. Konnte ein neues Gesamtdeutschland nicht übermächtig werden und seine Dominanzpolitik in Europa wieder aufnehmen? Diese war nicht erst von Hitler, sondern schon im wilhelminischen Reich von Berlin aus betrieben worden.
Bonn dagegen stand für das Eingeständnis, dass dieser Kurs gescheitert und – als Konsequenz daraus – Westintegration sowie bescheidenes internationales Auftreten geboten waren. Der Hamburger Historiker Fritz Fischer warnte davor, dass es bei einer Entscheidung für Berlin damit vorbei sein könnte: Im Ausland werde sie „als ein Bekenntnis zu einer Tradition des Militarismus, des Machtanspruchs und der Expansion“ verstanden werden. Schließlich gab es auch Bedenken in den Bundesländern: Berlin war in der bisherigen Geschichte immer Hauptstadt eines Zentralstaats gewesen. Kehrten Regierung und Parlament dorthin zurück, bedeutete dies zwar keine Änderung des Föderalismus, wie er im Grundgesetz festgelegt war; aber da innerhalb dieses Rahmens das Verhältnis von Bund und Ländern immer neu austariert werden musste, wurde in eher diffuser Weise befürchtet, dass die Hauptstadtfrage darauf Einfluss nehmen könne. So sammelten sich allmählich Argumente und Stimmungen, wonach Berlin nur Titularhauptstadt sein sollte, während das politische Kerngeschäft weiterhin in Bonn betrieben würde.
In Ostdeutschland hielt man derlei Überlegungen für arrogant. Offenbar werde die Wiedervereinigung im Westen doch nur als Anschluss gesehen. In der Tat: Wer der Auffassung war, der Sozialismus sei primär aufgrund seiner ökonomischen Unterlegenheit und der Überrüstung der Sowjetunion gescheitert, musste die Politik Michail Gorbatschows und die als friedliche Revolution in der DDR gedeutete Wende als nur nachgeordnete Ereignisse sehen, anders als im Selbstverständnis der DDR-Bürgerrechtler.
Die Aussicht, dass die zentralen Organe in Bonn verbleiben könnten, war zudem geeignet, in Berlin Panik auszulösen. Der westliche Teil der Stadt war im Kalten Krieg und auch in der Entspannungsperiode nur durch Finanztransfers aus Westdeutschland lebensfähig gewesen. In den Jahren vor der Wiedervereinigung hatte dort eine Deindustrialisierung eingesetzt. Ost-Berlin war Hauptstadt der DDR gewesen, Sitz großer Staats- und Parteiapparate, dazu ein Wirtschaftsstandort und stärker gefördert als die übrige Republik. Fiel dies nun alles weg, war nicht klar, was aus der wieder vereinten Stadt werden sollte.
Antrag „Zur Vollendung der deutschen Einheit“
Berlin als Parlaments- und Regierungssitz war jedoch kein ostdeutsches oder regionales, sondern letztlich ein Eliten-Projekt, forciert unter anderem von den Granden der bisherigen Deutschland-, Ost- und Wiedervereinigungspolitik: unter ihnen Brandt, Genscher, Kohl und von Weizsäcker. In ihrem Sinn war ein Antrag „Zur Vollendung der deutschen Einheit“, der am 20. Juni 1991 im Bundestag verhandelt wurde und die Verlegung der zentralen Staatsorgane nach Berlin vorsah. Nach Umfragen fand der keine Majorität in der Bevölkerung. Kurz vor der Debatte hatte sich ein Bundesparteitag der SPD mit einer Stimme Mehrheit für Bonn ausgesprochen. Es sah so aus, als habe eine Entschließung für Bonn – unterstützt etwa vom damaligen Arbeitsminister Norbert Blüm – größere Chancen. Unter der Überschrift „Bundesstaatslösung“ wurde darin vorgeschlagen, dass Bonn Regierungs- und Parlamentsort bleibe, Berlin Sitz des Bundespräsidenten und des Bundesrates wie Tagungsort der Bundesversammlung werde. Der Bundestag solle sich dort zu hervorgehobenen Sitzungen treffen, auch dürfe es an der Spree Dependancen des Kanzlers und von Regierungsmitgliedern geben. Die Mehrheit der westdeutschen Ministerpräsidenten (Ausnahmen: Hans Eichel in Hessen und Gerhard Schröder in Niedersachsen) bevorzugte diese Lösung, ihre ostdeutschen Kollegen allerdings waren für Berlin.
Zwölf Stunden, 104 Wortmeldungen
Die Debatte am 20. Juni dauerte mehr als zwölf Stunden, es gab 104 Wortmeldungen. Der Fraktionszwang war aufgehoben. Nach dem Beifall zu urteilen, wechselten die Mehrheiten ständig. Aus der CDU/CSU-Fraktion heraus gab es eine Art Rededuell zwischen Blüm und Innenminister Wolfgang Schäuble. Der Arbeitsminister führte aus, dass Europäisierung und Regionalisierung die Pole eines modernen Nationalstaats seien. Eine „alles dominierende Hauptstadt“ passe nicht dazu. Den Ausschlag soll die Rede Schäubles gegeben haben. Er äußerte Verständnis für die Ansichten der Bonn-Befürworter und wischte sie anschließend vom Tisch. Die Entscheidung für Berlin sei „auch eine Entscheidung für die Überwindung der Teilung Europas“. Es gehe „um die Zukunft Deutschlands“, das seine innere Einheit erst noch finden müsse. Das Protokoll vermerkt: „Lang anhaltender Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen – Abgeordnete der CDU/CSU und der SPD erheben sich – Abg. Willy Brandt (SPD) gratuliert Abg. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU).“
Bei einer Lektüre der Rede 25 Jahre später stellt sich die Frage, was der Innenminister denn damals inhaltlich gesagt hat. Offensichtlich wirkte er vor allem durch ein Pathos, das sein Ziel noch suchte. Der Ausgang war dennoch knapp: 338 Stimmen für Berlin, 320 für Bonn. Bis zum Schluss hatte Berlin keine Mehrheit in den Fraktionen von SPD und CDU/CSU. Den Ausschlag gaben die FDP und zwei Abgeordnetengruppen, die noch nicht einmal Fraktionsstatus hatten: Bündnis 90/Die Grünen und die PDS.
Das Karlsruher Verfassungsgericht hatte für die Bundestagswahl Ende 1990 die Fünf-Prozent-Klausel ausnahmsweise bundesweit außer Kraft gesetzt und nur für die Landesteile Ost und West beibehalten: Wer in einer der beiden Stimmregionen die Hürde überwand, erhielt Sitze. Die Grünen scheiterten im Westen, hatten aber im Osten 6,2 Prozent. Das brachte ihnen acht Mandate. Die Gesamtpartei, besonders der westliche Teil, war gewiss für Bonn. Im Bundestag war sie aber durch ostdeutsche Bürgerrechtler vertreten, die für Berlin votierten. Die PDS erzielte 11,1 Prozent und verdankte ihre 17 Mandate der Basis auf dem Gebiet der Ex-DDR: Vorteil Berlin. Am 26. April 1994 wurde dann das „Berlin/Bonn-Gesetz“ verabschiedet, Bundespräsident, Kanzleramt, Bundestag und Bundesrat kamen nach Berlin, dazu neun Ministerien. Sechs blieben in Bonn, das sich nun „Bundesstadt“ nennen durfte. 1999 zog das Parlament in den Berliner Reichstag. Mit der Föderalismusreform wurde 2006 im novellierten Artikel 22 des Grundgesetzes Berlin erstmals auch in der Verfassung als Bundeshauptstadt genannt.
Anfang der 90er Jahre hatte der konservative Publizist Johannes Gross den Begriff „Berliner Republik“ geprägt: Ausdruck einer Schwerpunktverlagerung vom Westen in eine Mitte – nicht Deutschlands, sondern eher Europas, in dem der Bundesrepublik inzwischen Dominanz zugeschrieben wird. Davon war am 20. Juni 1991 bei den Berlin-Befürwortern noch nicht die Rede gewesen.
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