Christian Klar und Peter-Jürgen Boock hatten vor dem Prozess in Stuttgart, der mit der Urteilsverkündung am 3. November 1991 zu Ende ging, schon in den 1980er Jahren die Höchststrafe lebenslänglich erhalten und waren in Haft: Boock seit 1981, Klar seit 1982. Es war nicht der erste und auch nicht der letzte Prozess gegen Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF). Seit den 1970er Jahren bis fast in die Gegenwart durchziehen solche Verfahren die Geschichte der Bundesrepublik. Dem Urteil von 1992 kommt allenfalls als Justiz-Groteske eine besondere Bedeutung zu. Es wurde in einem Augenblick gefällt, in dem sich ein neues Verhältnis zwischen der Staatsgewalt und ihren terroristischen Feinden anzubahnen schien. Um dies zu verstehen, ist ein Rückgriff weit in die
die Vergangenheit nötig.Am 2. April 1968 hatten vier Mitglieder der damaligen Außerparlamentarischen Opposition – Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Thorwald Proll und Hans Söhnlein – aus Protest gegen den Krieg in Vietnam Brände in zwei Kaufhäusern in Frankfurt/Main gelegt. Sie sind am 31. Oktober zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Während einer Ausführung in ein Institut der Freien Universität Berlin wurde Baader am 14. Mai 1970 gewaltsam befreit, ein Bibliotheksangestellter dabei durch einen Schuss schwer verletzt. Die frühere konkret-Journalistin Ulrike Meinhof ging mit Baader und anderen Beteiligten an der Aktion in die Illegalität. Sie bezeichneten sich als „Rote Armee Fraktion“ und veröffentlichten 1971 ein Konzept Stadtguerilla. Dieses ging davon aus, dass akut die Alternative zwischen Faschismus und Sozialismus bestehe, und dass eine latente revolutionäre Situation durch sie genutzt werden könne. 1972 waren alle führenden Mitglieder der Roten Armee Fraktion in Haft. Ulrike Meinhof nahm sich 1976 das Leben.Eine sogenannte zweite Generation der RAF versuchte in der Folgezeit, durch Geiselnahme die Gefangenen freizupressen. Derlei gelang allerdings nicht der RAF, sondern ein einziges Mal einer anderen Organisation – der „Bewegung 2. Juni“. Sie entführte 1975 den CDU-Politiker Peter Lorenz, der anschließend ausgetauscht wurde. Jürgen Ponto, der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, wurde 1977 bei einem gleichen Versuch der RAF erschossen. Im selben Jahr tötete sie den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, seinen Fahrer und einen weiteren Begleiter. Am 5. September 1977 entführte die Rote Armee Fraktion den Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, Hanns Martin Schleyer. Sie verlangte seinen Austausch gegen die inzwischen verurteilten und in Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder Baader, Ensslin, Irmgard Möller und Jan-Carl Raspe. Ein palästinensisches Kommando entführte das Flugzeug „Landshut“ der Lufthansa und stellte die gleiche Forderung. Die Regierung Schmidt blieb hart. Eine Eliteeinheit des Bundesgrenzschutzes stürmte die Maschine. Am 18. Oktober 1977 wurden Baader, Ensslin und Raspe tot und Irmgard Möller schwer verletzt in ihren Zellen in Stammheim gefunden. Daraufhin tötete die RAF Hanns Martin Schleyer.Peter-Jürgen Boock wurde 1984 und 1986 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie der Beteiligung an der Entführung und Ermordung von Ponto und Schleyer zu mehrfach lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, Christian Klar 1985 zu fünfmal lebenslänglich.1986 ist das 23. Strafrechtsänderungsgesetz beschlossen worden. Aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts sieht es vor, dass auch bei lebenslänglichen Freiheitsstrafen eine Freilassung – auch ohne Begnadigung – möglich sein müsse. Aufgrund dessen traf noch im gleichen Jahr der Bundesgerichtshof eine Revisionsentscheidung. Christian Klar erhielt eine einfache lebenslange Freiheitsstrafe für sämtliche Delikte, derentwegen er verurteilt worden war. Das gab ihm die Aussicht auf eine spätere Überprüfung, ob die Haft nach 15 Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden könne.1990 wurden sogenannte Aussteiger der Roten Armee Fraktion, die in der DDR Zuflucht gefunden hatten, verhaftet. Einige von ihnen machten Aussagen, die ihre ehemaligen Genossinnen und Genossen belasteten. Boock und Klar wurden nunmehr beschuldigt, 1979 in Zürich einen Banküberfall verübt zu haben und an einem Schusswechsel mit Polizisten beteiligt gewesen zu sein, bei dem eine unbeteiligte Passantin den Tod fand.Die Bundesanwaltschaft erhob erneut Anklage. Es konnte nicht nachgewiesen werden, ob Boock und Klar die Frau getötet hatten oder ob diese Opfer einer Polizeikugel geworden war. Die Verurteilung erfolgte deshalb ausschließlich wegen Raubes mit Todesfolge und versuchten Mordes an vier Polizisten. Boock erhielt mildernde Umstände. Er hatte sich 1980 von der RAF losgesagt und war inzwischen mit Reuebekundungen sowie mit Aussagen zu Tatvorgängen hervorgetreten.Keine Chance auf VerschonungDas Gericht setzte in seinem Urteil nachträglich eine „Gesamtstrafe“ für das Zürcher Delikt und auch für die bereits 1984 bis 1986 abgeurteilten Taten fest und befand eine „besondere Schwere der Schuld“. Dadurch wurde eine etwaige künftige vorzeitige Haftentlassung sehr erschwert, wenn nicht sogar unmöglich. In den 1980er Jahren waren für Entscheidungen über die letztliche Haftdauer noch besondere Strafvollstreckungskammern zuständig gewesen. Im Juni 1992 hatte das Bundesverfassungsgericht diese Befugnis den erkennenden Gerichten übertragen. Dies gab im November des gleichen Jahres dem Oberlandesgericht in Stuttgart die von ihm genutzte Handhabe, die Verbesserung der Perspektiven für die Verurteilten, die 1986 eingetreten war, rückgängig zu machen. Vor 2008 – also nach mindestens 26 Jahren – hatte Klar keine Chance auf Verschonung. Boock kam immerhin 1998 frei.Das Urteil von 1992 ist von einem Teil der veröffentlichten Meinung als eine Art juristischer Overkill kritisiert worden. Auch der Vorsitzende Richter ließ in seiner Verhandlungsführung wenig Zweifel an seiner Meinung, dass er das Vorgehen der Bundesanwaltschaft für überflüssig hielt. In seinem Urteil schlug sich das allerdings nicht nieder.Diese harte Linie kreuzte sich mit einer Gegentendenz. Im Januar hatte Bundesjustizminister Klaus Kinkel (FDP) Überlegungen angestellt, wonach Gefangenen der RAF Chancen auf eine vorzeitige Entlassung eröffnet werden sollten.Zwischen 1985 und 1991 waren die Industriemanager Karl Heinz Beckurts und Ernst Zimmermann, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, und der Leiter der Treuhandanstalt zur Abwicklung der DDR-Industrie, Detlev Karsten Rohwedder, von Kommandos einer sogenannten dritten Generation der RAF ermordet worden. Angesichts offenbar fortwährender Gefahr mag die „Kinkel-Initiative“ auch insofern im Interesse der politischen und ökonomischen Eliten gewesen sein. Tatsächlich erklärte sich die RAF bald darauf damit einverstanden, „Eskalation zurücknehmen“ zu wollen. Ihr letzter großer Anschlag – die Sprengung der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt am 27. März 1993 – verursachte keine Todesopfer mehr. Inzwischen war es dem Verfassungsschutz von Rheinland-Pfalz gelungen, einen V-Mann zu platzieren. Bei einem von diesem vermittelten Zugriff starben am 27. Juni 1993 der RAF-Mann Wolfgang Grams und der GSG9-Beamte Michael Newrzella. 1998 löste die Rote Armee Fraktion sich auf. Ihre überlebenden Mitglieder kamen nach meist sehr langer Gefangenschaft frei: wegen Haftunfähigkeit, zur Bewährung, auch durch Begnadigung.Christian Klar hatte die Folgen des Urteils von 1992 ohne jeden Nachlass zu tragen. Ein durch den Publizisten Günter Gaus angeregtes und unterstütztes Gnadengesuch wurde von Bundespräsident Horst Köhler abgelehnt. Erst Ende 2008 konnte Klar die Justizvollzugsanstalt Bruchsal verlassen.