Das Grundgesetz von 1949 hat die Stellung des Bundestags im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung zugleich gestärkt und geschwächt. Einerseits entfiel die halbmonarchische Stellung eines Staatsoberhaupts: Anders als der Reichspräsident kann der Bundespräsident nicht mit Notverordnungen regieren. Zudem sind dem Souverän keine Möglichkeiten eingeräumt, sich durch Volksabstimmungen zu äußern (es sei denn, es ist über die Neugliederung der Länder zu entscheiden). Andererseits ist dem Bundestag ein starker Bundesrat an die Seite gestellt worden. Der westdeutsche Staat wurde auf Druck der Alliierten betont föderalistisch organisiert. Im Unterschied zum Bundesrat hatte der Reichsrat nicht das Recht, eigene Gesetzesentwürfe einzubringen. Eine zweite Instanz, die geeignet war, Entscheidungen des Bundestags zu relativieren, wurde das Bundesverfassungsgericht.
Zur herrschenden Lehre des Jahres 1949 gehörte die Auffassung, dass die Weimarer Republik durch Parteienzersplitterung und die Stärke links- und rechtsextremer Flügel zerstört worden sei. Das daraufhin etablierte relative Verhältniswahlrecht sollte eine Wiederholung verhindern: Nur die Hälfte der Sitze wurde durch Direktwahl besetzt, die andere Hälfte ging an Parteilisten. Sie mussten pro Land mindestens fünf Prozent der Stimmen erreichen, um berücksichtigt zu werden. Der Antikommunismus und die Diskreditierung des Nazi-Regimes – beide verklammert durch eine Totalitarismustheorie, der Rot gleich Braun war – schienen Gewähr dafür zu bieten, dass die einstigen Weimarer Flügelparteien keine Chance mehr hatten. Die Zusammensetzung des ersten Bundestages von 1949 entsprach diesen Erwartungen nicht. In ihm saßen Parlamentarier aus insgesamt neun – beziehungsweise, wenn man die CSU gesondert zählt, zehn – Parteien. Neben CDU/CSU, SPD und FDP gab es dort die KPD, die faschistoide Deutsche Konservative Partei, die Deutsche Zentrumspartei, eine „Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung“ (die man in heutiger Terminologie wohl als populistische Interessenvertretung deklassierter Mittelständler bezeichnen könnte) und zwei Regionalparteien: die Bayernpartei und aus Niedersachsen die Deutsche Partei. Auch die im Kaiserreich und in der Weimarer Republik starke Zentrumspartei gehörte in diese Kategorie. Sie war in Nordrhein-Westfalen konzentriert. Immerhin hatten Union und SPD einen solchen Vorsprung vor den anderen Fraktionen, dass sich eine Bipolarität des Parlaments abzuzeichnen begann. Mit der Bildung einer Bürgerblockregierung unter Konrad Adenauer entstand eine im Grundgesetz nicht niedergelegte Gegenposition: die des Oppositionsführers aus den Reihen der SPD. Kurt Schumacher nahm diese Funktion zwischen 1949 und 1952 sehr forciert war, sein Nachfolger wurde von 1952 bis 1963 Erich Ollenhauer. Die Rededuelle zwischen Oppositionsführer und Kanzler, besonders in den frühen 1950er Jahren über die Wiederbewaffnung, wirkten stark auf die öffentliche Wahrnehmung des Parlaments ein.
Zur Wahl 1953 wurde die Fünf-Prozent-Klausel verschärft. Wer diese Hürde in einem Land nahm, kam dennoch nicht in den Bundestag, wenn sie nicht bundesweit überwunden wurde. Dies geschah vor allem, um die KPD zu eliminieren: Sie blieb in allen Ländern unter der Marke und schied aus. 1956 wurde sie verboten. Die Bayernpartei kam nicht mehr in den Bundestag. Deutsche Partei und Zentrum erreichten zwar keine fünf Prozent, waren aber weiter über Direktmandate vertreten – teilweise mithilfe der CDU, die ihnen aussichtsreiche Wahlkreise überließ und in den beiden nächsten Legislaturperioden ihre Wähler und Mandatsträger zu sich hinüberzog.
Neu im Parlament war der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Seine Massenbasis waren die Vertriebenen. Hinter den „Entrechteten“ verbargen sich ehemalige aktive Nazis. Während die kommunistische Linke ausgeschaltet wurde, war es nicht gelungen, Faschisten, die zur Camouflage bereit waren, vom Parlament fernzuhalten. 1956 drängte Kanzler Adenauer die FDP in die Opposition, nachdem diese in Nordrhein-Westfalen eine Koalition mit SPD und Zentrum eingegangen war. Daraufhin gründete der Ministerflügel ihrer Bundestagsfraktion eine eigene Splitterpartei, die FVP, die bald darauf mit der DP fusionierte, und blieb im Kabinett.
1957 errang Adenauer die absolute Mehrheit. Die Union ermöglichte der Deutschen Partei durch Überlassung von Wahlkreisen das parlamentarische Überleben auf Bundesebene. Der Kanzler beteiligte sie auch weiter an der Regierung, ihre beiden Minister Hans-Christoph Seebohm (Verkehr) und Hans-Joachim von Merkatz (Vertriebene) traten 1960 zur CDU über. So hatte sich bis Ende der Legislaturperiode schon ein Dreiparteiensystem herausgebildet, das nach der Wahl 1961 in unverhüllter Form hervortrat.
Diese Homogenisierung des Bundestages – zu der auch die Anpassung der SPD an inzwischen eingetretene Hegemonieverhältnisse beitrug, indem sie 1959 das Godesberger Programm beschloss – war nicht Ergebnis der 1949 vorgenommenen Vorsorgemaßnahmen gegen Extreme von rechts und links, sondern der wohlfahrtsstaatlichen Sedierung in einer Zeit scheinbar ständig krisenfreier wirtschaftlicher Entwicklung. Damit ging ein latenter Bedeutungsverlust des Bundestages einher. Es gab zwar allerlei Aufregung – etwa während der „Spiegel-Krise“ 1962 –, aber die Zeit der Grundsatzdebatten in den 1950er Jahren war vorbei. Erst mit der Notstandsgesetzgebung (1965 und 1968) und der NATO-„Nachrüstung“ (nach 1979) wurde das Parlament für einen Moment wieder ein Ort polarisierter Auseinandersetzung auf hohem Niveau.
Allmählich verlor der Oppositionsführer seine hervorgehobene Stellung. Erich Ollenhauer war 1953 und 1957 gleichzeitig Kanzlerkandidat und scheiterte. 1961 überließ er dem Westberliner Regierenden Bürgermeister Willy Brandt den Vorrang, der auch 1965 und 1969 kandidierte. Er war zwar nicht im rechtlichen, aber im politischen Sinn (Westberlin gehörte völkerrechtlich nicht zur Bundesrepublik) Chef einer Landesregierung, seit 1966 Außenminister. Der Kanzler Kurt Georg Kiesinger (1966 – 1969) ist vorher Ministerpräsident gewesen. Die Fraktionsvorsitzenden standen im Vergleich zu diesen Landesvätern in der zweiten Reihe. Nur einmal noch war ein Oppositionsführer, der ausschließlich Parteichef und Parlamentarier war, zugleich Kandidat: 1972 Rainer Barzel (CDU). Danach aber galt bis 2005: Wer einen amtierenden Kanzler herausfordern wollte, bezog seine Legitimation dafür nicht in erster Linie aus einem Bundestagsmandat, sondern aus seiner Bewährung als Ministerpräsident.
Mit den Notstandsgesetzen der Jahre 1965 und 1968 sollte das Parlament so weit wie möglich an seiner zeitweiligen Entmachtung und der Einschränkung von Freiheitsrechten mitwirken. Das Dreiparteiensystem hielt nur bis 1983: In diesem Jahr zogen die Grünen ins Bonner Parlament ein, im Dezember 1990 folgte die PDS. Immer mehr wurde der Bundestag überwölbt von einer stets dichter werdenden neuen Entscheidungsebene: den Institutionen der Europäischen Gemeinschaften. Sie waren und sind nur unzureichend demokratisch legitimiert, schränken aber die Tragweite von Entscheidungen der nationalen Parlamente ein.
Die Vermehrung der Fraktionen erhöhte nicht die Flexibilität. Mehrheiten ließen sich in den Beziehungen zwischen fünf Parteien nicht schwerer zementieren als zwischen dreien. Wie schon seit den 1950er Jahren wandte sich eine Opposition, der es verwehrt war, die Regierung im Parlament zu schlagen, gern an das Bundesverfassungsgericht, dem damit eine Rolle bei der politischen Willensbildung zugewiesen wurde, die nicht zu seinen Aufgaben gehört – die Bundesrepublik ist eine parlamentarische Demokratie ohne sehr starkes Parlament. An dieser Prägung, die in den Bonner Jahren entstand, hat der Wechsel vom Rhein nach Berlin nichts geändert.
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