Horst Köhler, 1943 als Sohn einer kinderreichen rumäniendeutschen Bauernfamilie geboren, gehört einer Generation an, in der häufiger als später auch Menschen aus kleinen Verhältnissen mit Begabung, Fleiß und Anpassungsbereitschaft in eine Elite aufsteigen konnten, zu der nicht nur erbliche Voraussetzungen führten. Am Anfang steht die Empfehlung eines Lehrers fürs Gymnasium. Köhler nutzt die Chance: Abitur, Studium der Volkswirtschaftslehre, CDU-Eintritt, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes sowie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF). Es ist die Bilderbuchkarriere eines Finanz- und Wirtschaftstechnokraten. Mit entscheidend für diesen Aufstieg dürfte in den 90er Jahren eine zeitweilige Tätigkeit in nächster Nähe Helmut Kohls gewesen sein. Für den damaligen Kanzler bereitet Köhler mehrere G 7-Gipfel vor. In den IWF kommt er im Jahr 2000, nachdem die USA Bedenken gegen einen zunächst vorgeschlagenen deutschen Kandidaten, Caio Koch-Weser, geäußert haben und durchblicken lassen, dass Köhler für sie akzeptabler sei.
Dreimal ist in der bundesdeutschen Geschichte die Wahl eines Bundespräsidenten ein Signal für den künftigen politischen Kurs gewesen: Als Theodor Heuss 1949 in dieses Amt kommt, ist das eine Vorentscheidung für die erst danach folgende Bildung einer Bürgerblock-Regierung unter Konrad Adenauer. 1969 stimmt die FDP für den Sozialdemokraten Gustav Heinemann und geht ein halbes Jahr später die sozialliberale Koalition mit der SPD ein. Nachdem Rot-Grün unter Gerhard Schröder die Mehrheit in der Bundesversammlung verloren hat, strebt der amtierende Präsident Johannes Rau 2004 keine Wiederwahl mehr an. Und die Oppositionsführerin Angela Merkel sorgt dafür, dass ihre Partei nicht irgendwen aufstellt, sondern einen Mann, der das von ihr propagierte marktradikale „Durchregieren“ im Bündnis mit der FDP symbolisiert: Horst Köhler. Ziemlich ungeniert äußert er seine Präferenz für eine schwarz-gelbe Allianz und nennt Merkel noch vor der Entscheidung der Unionsgremien als zu empfehlende Kanzlerkandidatin.
Seine erste markante Entscheidung im neuen Amt begründet er ganz in diesem Sinn: die Auflösung des Bundestags im Juli 2005 auf Antrag Schröders, als dieser keine Mehrheit im Bundesrat mehr hat. Das gab es auch schon 1972 und 1983. Neu ist diesmal die Begleitmusik: Köhler fordert eine Forcierung des mit der Agenda 2010 eingeschlagenen Kurses und lässt durchblicken, dass dazu eine andere und konsequentere Regierung nötig sei. Als die von ihm gewünschte CDU-FDP-Mehrheit bei der Bundestagswahl am 18. September 2005 nicht zustande kommt, findet sich Köhler in die Rolle, die spätestens seit Richard von Weizsäcker schon seine Vorgänger geprägt haben: der Bundespräsident als über den Parteien in Distanz zur politischen Klasse stehender Mahner, der sich so beim Volk beliebt macht.
2006 verweigert er die Unterzeichnung des vom Parlament verabschiedeten Gesetzes über die Privatisierung der Deutschen Flugsicherung. Angesichts seiner bekannten marktliberalen Positionen mochte das überraschen. Es kann angenommen werden, dass ihm eine Änderung des Grundgesetzes, die eine Privatisierung ermöglicht hätte, lieber gewesen wäre, doch findet sich dafür keine Mehrheit. Auch in anderen Fällen verweigert oder verzögert er die Unterschrift unter Gesetze wegen verfassungsrechtlicher Bedenken, eckt damit bei den Parteien an, die ihn gewählt haben, und wird immer populärer.
Einsam im Amt
Nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 äußert sich Köhler selbstkritisch. Er habe die Gefahr nicht kommen sehen. Man müsse zwischen seriösen Bankiers und windigen Bankern unterscheiden und die Märkte regulieren. Als er schließlich über ein Gnadengesuch des RAF-Gefangenen Christian Klar zu befinden hat, gibt ihm die CSU zu verstehen, wenn er dieses bewillige, brauche er gar nicht erst zur Wiederwahl anzutreten. Er lehnt tatsächlich ab. Immerhin hat er vorher Klar getroffen, dessen Antrag Johannes Rau als Bundespräsident vor sich hergeschoben hat. 2009 wird Köhler wiedergewählt. Im selben Jahr kommt auch die von ihm geschätzte schwarz-gelbe Koalition zustande. Aber als Folge der durch die Finanzkrise notwendig gewordenen Staatsintervention fehlt ihr der Spielraum für die vom Bundespräsidenten und der FDP propagierte Deregulierung. Nun beginnt Köhlers Abstieg. In der Presse erscheinen Durchstechereien über eine angebliche oder tatsächliche Entfremdung zwischen der Kanzlerin und ihm, die den Eindruck nahelegen, der Mohr habe seine Schuldigkeit getan. Plötzlich werden Berichte über persönliche Eigenarten Köhlers kolportiert: Empfindlichkeit, ja Jähzorn. Nach dem Ausscheiden und baldigen Tod des mit ihm befreundeten Leiters des Bundespräsidialamtes, Gert Haller, wird es einsam um ihn. Er weiß, dass sein Aufstieg und seine Erfolge neben seiner Tüchtigkeit auch von funktionierenden Netzen und Verbindungen abhängig waren. Jetzt scheinen einige Leitungen tot zu sein.
Am 22. Mai 2010 plaudert Köhler auf dem Rückflug von einem Truppenbesuch in Afghanistan mit Journalisten. Er verlangt eine Debatte, um etwas für die Akzeptanz von Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu tun. Dabei sagt er unter anderem, es müsse vermittelt werden, „dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall, auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel, um ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen – negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.“
Die Veröffentlichung ist nicht autorisiert. Dass der grüne Oppositionspolitiker Jürgen Trittin die Äußerungen Köhlers kritisiert, wirkt schon etwas ungewöhnlich, denn mittlerweile war es Usance geworden, Worte des Bundespräsidenten nicht negativ zu kommentieren. Gregor Gysi zeigt sich erfreut, denn Köhler habe bestätigt, „dass es nicht um Schultüten geht, sondern dass wirklich wirtschaftliche Gründe hinter dem Afghanistan-Krieg stehen“. Eine FDP-Bundestagsabgeordnete weist zutreffend darauf hin, dass im Weißbuch der Bundeswehr von 2006 schon Gleiches gestanden habe. Sie hätte ebenso an die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 erinnern können. Allerdings gibt es eben einen Unterschied zwischen solchen gleichsam profanen Alltagspapieren und dem hohen Ton, den man von Verlautbarungen des Bundespräsidenten erwartet. Dieser jedenfalls fühlt sich von dem Aufsehen, das er erregt hat, desavouiert und tritt mit der Begründung zurück, die Kritiker hätten den Respekt vor seinem Amt vermissen lassen. Danach hüllt er sich längere Zeit in Schweigen. Als er dies letztlich bricht, wiederholt er seine frühere Einlassung.
Zuweilen wird behauptet, Horst Köhler habe wegen Äußerungen zurücktreten müssen, die von Joachim Gauck heute ständig und viel lauter zu hören seien. Daran ist zweierlei falsch. Erstens: Er musste nicht gehen. Anders als Christian Wulff 2012 wurde er nicht durch einen Medien-Shitstorm aus dem Amt gemobbt. Vielleicht hat er dies allerdings befürchtet. Zweitens: Köhler sagte 2010 nicht dasselbe wie Gauck heute. Der gegenwärtige Bundespräsident redet allein von Menschenrechten, wenn er eine aktivere deutsche Militärpolitik befürwortet. Irdische materielle Interessen kommen dabei nicht vor, anders als in der Atlantik-Charta von 1941, die den Freihandel unter den unverzichtbaren Gütern aufführt. Die ausschließlich ökonomische Argumentation Horst Köhlers war einzigartig. Nach diesem kurzen Moment der Aufklärung senkte sich wieder der Schleier, der über dem Zusammenhang von Wirtschaft und Phraseologie liegt.
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